Tücken einer verfassungsgerichtlichen Legalitätskontrolle von Auslandseinsätzen
Auch jenseits der Frage der Beendigung des Irak-Einsatzes diskutiert das politische Berlin wieder vermehrt über Auslandseinsätze. Der Rechtsausschuss berät gegenwärtig über einen Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN, mit dem die Fraktion vorschlägt, im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht ein neues Verfahren zu verankern, um dem Gericht die Kontrolle der Legalität von Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu ermöglichen. Sie greift damit einen Hinweis des Gerichts in seinem Beschluss zum Syrien-Einsatz auf (2 BvE 2/16, Rn. 44). Der Vorschlag wirft verfassungspolitische wie verfassungsrechtliche Fragen auf und hat auch völkerrechtliche Implikationen.
Der Vorstoß überrascht zunächst, denn das Bundesverfassungsgericht war schon bisher immer wieder mit Auslandseinsätzen befasst. Dabei sind aber zwei Fragestellungen zu unterscheiden:
Kompetenzen von Bundesregierung und Bundestag bei Auslandseinsätzen
Zum einen hat das Gericht in der Frage der Verantwortung von Regierung und Parlament die Fronten geklärt – und zwar klar zu Gunsten des Deutschen Bundestages: Die Bundeswehr ist ein „Parlamentsheer“, sodass (außer bei Gefahr im Verzug) jeder von der Regierung beschlossene Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland der vorherigen Zustimmung des Bundestages bedarf. Das Gericht hat dabei vor allem mit Vorschriften und Traditionen der Wehrverfassung argumentiert und wurde dafür scharf kritisiert: Es habe den Parlamentsvorbehalt schlicht erfunden. Dass die Entscheidung über Krieg und Frieden als „wesentliche Frage“ besonders legitimationsbedürftig ist, dass es also sinnvoll ist, wenn das Parlament dafür eine Mitverantwortung übernimmt, und dass deutsche Soldatinnen und Soldaten gefährdet werden, spielte unter der Hand aber auch eine wichtige Rolle. Die verfassungsrechtlich starke Position des Bundestages hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach gegen Aufweichungstendenzen verteidigt, Prognosespielräume der Exekutive abgelehnt und auf eine im Zweifel parlamentsfreundliche Auslegung gedrungen.
Materielle Legalität von Auslandseinsätzen
Zum anderen stellt sich bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr die Frage, wann ein Einsatz überhaupt zulässig, also materiell rechtmäßig ist. Auch zu diesem Problem ist das Grundgesetz wenig ergiebig: Es regelt in Artt. 115a ff. GG den Verteidigungsfall, d.h. den bewaffneten Angriff auf das Bundesgebiet, und verbietet in Art. 26 Abs. 1 GG die Führung eines Angriffskriegs. Beide Regelungen waren seit 1949 zum Glück ohne echte praktische Relevanz. Damit verbleibt Art. 87a Abs. 2 GG, wonach die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürfen, wenn es das Grundgesetz ausdrücklich zulässt; solche Regelungen bestehen aber nur für den Einsatz der Bundeswehr im Inland. Daraus kann man zweierlei folgern, und beides wird vertreten: Entweder bezieht sich Art. 87a Abs. 2 GG nur auf den Inneneinsatz, sodass Auslandseinsätze stets verfassungsrechtlich zulässig sind, solange kein Angriffskrieg geführt wird. Oder diese Vorschrift bezieht sich auf alle Einsätze der Bundeswehr, sodass nur Auslandseinsätze „zur Verteidigung“ zulässig sind. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in dieser Streitfrage nicht bekennen wollen und einen dritten Weg gesucht: Danach stellt Art. 24 Abs. 2 GG, wonach sich Deutschland in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen kann, zugleich die verfassungsrechtliche Grundlage für Auslandseinsätze im Rahmen eines solchen Systems dar. Nun ist Art. 24 Abs. 2 GG nicht eben der Prototyp einer ausdrücklichen Zulassung von Bundeswehreinsätzen. Aber dem Grundgedanken, dass Deutschland für die historisch unabdingbare Gewährleistung seiner äußeren Sicherheit durch die Aufnahme vor allem in die NATO auch eine Gegenleistung erbringen können muss, kann man etwas abgewinnen.
Offene Fragen
Die damit gegebenen Zulässigkeitsalternativen – entweder Einsatz zur Verteidigung oder Einsatz im Bündnisrahmen – klärt aber mitnichten alle Fragen der materiellen Legalität von Auslandseinsätzen: Wo fängt heute Verteidigung an und wo hört sie auf – und wie sind hier Evakuierungseinsätze zur Rettung eigener Staatsangehöriger einzuordnen, bei denen teilweise schon recht weitgehend von „Personalverteidigung“ ausgegangen wird? Wann liegt ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit vor und warum widerspricht sich das Bundesverfassungsgericht bei der Einordnung der EU (nach dem Syrien-Beschluss kann die EU vertretbar als ein solches System angesehen werden, obwohl sie nach dem Lissabon-Urteil doch keines ist). Und vor allem: Kann die völkerrechtswidrige Ausübung militärischer Gewalt verfassungsrechtlich zulässig sein? Aus meiner Sicht spricht alles dafür, diese Frage zu verneinen, sei es unter Hinweis auf das Friedensgebot des Art. 24 Abs. 2 GG, auf die innerstaatliche Geltung des völkerrechtlichen Gewaltverbots nach Art. 25 Satz 1 GG, auf das bereits erwähnte Verbot in Art. 26 Abs. 1 GG, das sich auf alle absichtlichen Störungen des friedlichen Zusammenlebens der Völker erstreckt, oder wenn es sein muss auch auf die so genannte Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.
Keine materielle Legalitätskontrolle nach geltendem Verfassungsprozessrecht
Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht bisher stets überzeugend geweigert, solche Fragen zu beantworten: Zur materiellen Zulässigkeit eines Einsatzes hat es nach dem Grundsatzurteil zu Art. 24 Abs. 2 GG als Einsatzgrundlage aus dem Jahr 1994 nie wieder etwas gesagt. Dreimal hat die Fraktion zunächst noch der PDS und später die Linksfraktion dem Bundesverfassungsgericht eine solche Kontrolle im Organstreitverfahren angesonnen. Dabei waren die für eine materielle Illegalität des Einsatzes vorgetragenen Argumente keineswegs immer fernliegend: So wurde die „humanitäre Intervention“ der NATO im Kosovo 1999 überwiegend als völkerrechtswidrig angesehen. Und ob der Syrien-Einsatz gegen den „Islamischen Staat“ wirklich vom Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta gedeckt ist, wird in der Völkerrechtslehre doch etwas kontroverser beurteilt, als es nach dem jüngsten Karlsruher Beschluss den Anschein hat. Die Anträge waren aber immer unzulässig, weil der Bundestag dem jeweiligen Einsatz zugestimmt hatte und damit eine Verletzung des Bundestages in seinen Rechten ausschied, die in Prozessstandschaft von einer Fraktion gerügt werden kann. Vereinzelt wird zwar vertreten, dass ein Einsatzbeschluss des Bundestages als „Bundesrecht“ Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle sein kann; die mangelnde Normqualität eines solchen Beschlusses liegt aber auf der Hand. Damit besteht hinsichtlich der materiellen Legalität von Auslandseinsätzen eine Kontrolllücke, die der Vorschlag eines neuen Verfahrens schließen soll. Nun mag es in der Routine des parlamentarischen Regierungssystems derzeit unwahrscheinlich sein, dass das Gesetz beschlossen wird; aber das Vorhaben könnte sich schon bald in einem künftigen Koalitionsvertrag wiederfinden.
Kein Verfassungsgebot oder Verfassungsverbot für ein neues Kontrollverfahren
Verfassungsrechtlich ist zu dem Vorschlag nur so viel zu sagen: Der Gesetzgeber kann dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 3 GG durch einfaches Gesetz neue Verfahren zuweisen. Inhaltlich ist das vorgeschlagene Kontrollverfahren verfassungsrechtlich weder geboten (sodass der Gesetzgeber eine verfassungswidrige Lücke schließen würde) noch verboten (sodass der Bundestag das Gesetz gar nicht verabschieden dürfte). Es liegt damit im politischen Ermessen des Gesetzgebers, ob er ein solches Verfahren schaffen will. Dabei sollte er die folgenden Aspekte berücksichtigen, die teils verfahrenstechnischer, teils aber auch grundsätzlicher Natur sind:
Fragen der Verfahrensausgestaltung
Der Vorschlag nennt ein Viertel der Mitglieder des Bundestages und die Fraktionen als Antragsberechtigte. Während hinsichtlich des Viertels der Mitglieder des Bundestages ein Gleichlauf mit der abstrakten Normenkontrolle hergestellt wird, die ebenfalls ein objektives Beanstandungsverfahren ohne Beeinträchtigung des Antragstellers in seinen Rechten ist, sollen die Fraktionen hier als Antragsberechtigte neu hinzukommen. Das würde es einer Fraktion, die Auslandseinsätze aus politischen Gründen generell ablehnt, prinzipiell ermöglichen, jeden Auslandseinsatz überprüfen zu lassen. Das kann man, wo es um eine Legalitätskontrolle geht, durchaus in Kauf nehmen; aber eine solche Antragsberechtigung stellt abgesehen von der Frage der begrenzten Ressourcen auch des Bundesverfassungsgerichts einen Fremdkörper im Rechtsschutzsystem dar, der einzelnen Oppositionsfraktionen ganz neue Aufmerksamkeitschancen eröffnet. Ob das verfassungspolitisch eine gute Idee ist, muss man sich gut überlegen. Die Antragsfrist soll mit bis zu drei Monaten eher großzügig bemessen sein, ohne dass der Entwurf darauf eingeht, warum ein Antrag im Interesse von Rechtssicherheit und Bündnissolidarität nicht schneller gestellt werden muss. Als Rechtsfolge eines erfolgreichen Antrags nennt der Entwurf einen Feststellungstenor, dessen „faktische Rechtsfolge“ es nach dem Entwurf sein soll, dass die Bundesregierung den Einsatz beenden muss. Diese Feststellungswirkung wirft die Frage auf, warum nicht der Bundestag sein Rückholrecht (§ 8 ParlBG) ausüben muss, geht es in dem Verfahren doch um die Verfassungswidrigkeit seines Handelns. Man könnte auch überlegen, dass die Zustimmung, die ja konstitutiv wirkt, infolge ihrer Verfassungswidrigkeit rechtsgestaltend ex nunc aufgehoben wird; dann müsste tatsächlich die Bundesregierung mangels erforderlicher Zustimmung den Einsatz beenden. Darüber hinaus wäre angesichts des Handlungsverbunds von Parlament und Regierung auch zu erwägen, die Entscheidungen beider Verfassungsorgane zum Gegenstand der Kontrolle zu machen. Eine Lücke belässt das alleinige Abstellen auf den Parlamentsbeschluss schließlich dort, wo die Regierung auf Grund ihrer Eilkompetenz bei Gefahr im Verzug allein handelt.
Abschließende Überlegungen zur Grundidee
Bedeutsamer als die Ausgestaltung eines etwaigen Verfahrens ist aber die Frage, ob man es überhaupt schaffen sollte. Immerhin werfen die wenigen Ausführungen, die das Bundesverfassungsgericht etwa zum UN peacekeeping, zum ISAF-Einsatz oder gerade zum Syrien-Einsatz gemacht hat, in völkerrechtlicher Hinsicht manche Frage auf – auch weil sie erkennbar (und verständlicherweise) von dem Anliegen geprägt sind, sich nicht zu weit vorzuwagen. Man muss hier sehen, dass Entscheidungen bedeutender innerstaatlicher Gerichte im Völkerrecht Rechtserkenntnisquellen darstellen. Das Bundesverfassungsgericht ist bei Feststellungen zur völkerrechtlichen Rechtslage also nolens volens mehr als nur ein Diskursteilnehmer. Setzt es sich dabei in Widerspruch zur Auffassung der anderen Staatsorgane, vor allem der völkerrechtlich primär handelnden Bundesregierung, wirft das auch Fragen der Verfassungsorgantreue auf. Abgesehen von diesen völkerrechtlichen Unsicherheiten und Implikationen muss sich der Gesetzgeber fragen, ob er ein mächtiges und machtbewusstes Gericht wirklich in einem Bereich mit noch mehr Entscheidungsbefugnissen ausstatten sollte, in dem der Verfassungstext so dünn ist. Die Verfassungsrechtsprechung zum Auslandseinsatz der Bundeswehr ist schon bislang von recht freihändiger Rechtsfindung geprägt, was man dem Gericht nur begrenzt zum Vorwurf machen kann. Die Fragen der materiellen Legalität lassen sich aus dem Verfassungstext auch bei hoher Interpretationskunst aber noch weniger aus diesem herauslesen als die heute weitgehend geklärten Fragen der Kompetenzverteilung. Der Entscheidungsverbund von Regierung und Parlament überzeugt im Ergebnis gerade deshalb, weil die inhaltlichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe so vage und zurückgenommen sind. Auch die entgegen § 24 Abs. 2 GOBReg faktisch einstimmig entscheidende Bundesregierung und der mehrheitlich entscheidende Bundestag sind institutionell legitimierte Verfassungsinterpreten, die sich mit den materiellen Legalitätsfragen, die in den Zustimmungsanträgen der Bundesregierung regelmäßig nur gestreift werden, allerdings sorgfältiger beschäftigen sollten. Es ist nachvollziehbar, aber nicht zwingend, sich das Bundesverfassungsgericht (das sind hier die acht Richterinnen und Richter des Zweiten Senats) auch hier als Letztinterpreten und Gegengewicht zu wünschen. Klar ist jedenfalls: Wer ein solches Verfahren schafft, darf sich nicht beschweren, wenn das Verfassungsgericht das als Gestaltungsauftrag versteht.
Toller Beitrag.
Der Lackmustest für die Tendenz des BVerfG, starke formelle Legitimationsanforderungen aber dafür schwache materielle Anforderungen an die Auslandseinsätze zu stellen könnte gar nicht so fern sein. Da dem Irak-Einsatz der Bundeswehr mit der Entscheidung des iraktischen Parlaments die völkerrechtliche Grundlage entzogen wurde, dürfte eine Pflicht des Bundestages bestehen, von seinem Rückholrecht Gebrauch zu machen. Wenn ich mir ansehe, wie man auf den Vorschlag der Grünen reagiert, wäre ich nicht verwundert, wenn nach und nach Stimmen laut werden, dieser Pflicht etwas judikativen Nachdruck zu verleihen.