14 May 2021

Über Kurz

Vorab: wegen eines Trauerfalls in der Familie kann ich in dieser Woche nur eine abgespeckte Version des Editorials liefern, bitte um Verständnis.

Das Thema hätte auf der Hand gelegen: Sebastian Kurz.

Der steht kurz davor, als amtierender Bundeskanzler der Republik Österreich strafrechtlich angeklagt zu werden, weil er nach Ansicht der österreichischen Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss angelogen hat.

Die Affäre hat etwas geradezu anheimelnd 20-Jahrhundert-haftes an sich. It’s not the crime, it’s the cover-up: So lief das doch immer seit Richard Nixon und Watergate. Nicht ihre Verbrechen werden den Mächtigen zum Verhängnis, sondern ihre Vertuschungsversuche, ihre hektischen, lügenhaften, kleinlichen Anstrengungen, der Wahrheit zu entkommen und ihre Spuren zu verwischen: die niedrigen Drohungen und Bestechungen, die armseligen Lügen, die faulen Ausreden. Da werden sie plötzlich als etwas sichtbar, das wirklich tödlich ist für jede Politiker_in, nämlich als schwache Figuren und jämmerliche Gestalten.

++++++++++Anzeige++++++++

Gesellschaftliche Vielfalt via Grundgesetz? Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdeverletzungen stärken.

Die Grüne Bundestagsfraktion lädt zu einem Online-Fachgespräch ein: am 20. Mai von 19:00-20:30 Uhr. Wir diskutieren eine Ergänzung von Artikel 3 Abs. 3 GG um positive Verpflichtungen des Staates im Zusammenhang mit Diskriminierungsverboten mit

  • den grünen Bundestagsabgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Canan Bayram und Filiz Polat,
  • den Rechtswissenschaftler*innen Professores Mehrdad Payandeh als Gutachter, Nora Markard, Matthias Mahlmann
  • sowie weiteren Expert*innen als Kommentator*innen.

Weitere Informationen finden sich hier.

++++++++++++++++++++++

Ach, wie schön wäre es, wenn wir in dieser Welt noch leben würden, in der ein Politiker zurücktreten muss, weil er das Parlament belogen hat. Es gäbe keinen Trump, es gäbe keinen Johnson und es gäbe keinen Kurz. Aber in dieser Welt, fürchte ich, leben wir nicht mehr. Die Trumps, die Johnsons und die Kurz’ lügen, aber sie entschuldigen sich nicht dafür. Warum sollten sie auch? Wer sie der Lüge überführt, markiert sich damit nur als ihr politischer Feind, an dem sie ihre Macht exekutieren und somit festigen können: Liz Cheney, Medien, Justiz, Parlament, Untersuchungsausschüsse, Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaften, you name it. Jeder Skandal macht sie nur stärker. Sie hängen im System wie ein reingeklebter Kaugummi. Wenn sie mal an die Macht gelangt sind, dann kriegt man sie da nicht wieder raus ohne einen Prozess, so langwierig, schmerzhaft und unappetitlich, wie wir ihn uns vielleicht überhaupt noch nicht vorstellen können.

Von Markus Söder ist bekannt, dass er sich die staunenswerte Karriere seines jungen Freundes und südlichen Nachbarn genau angeschaut hat. Wir wiederum werden uns genau anschauen, was er daraus für Lehren gezogen hat oder noch ziehen könnte.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

So viel hat die Affäre Kurz immerhin schon hervorgebracht: Weil Kurz’ Finanzminister und Freund Gernot Blümel die Anordnung des Verfassungsgerichtshofs, dem Untersuchungsausschuss Unterlagen auszuhändigen, kurzerhand ignorierte, ermächtigte das Gericht den Bundespräsidenten Alexander van der Bellen, sein Urteil zu exekutieren. Das Staatsoberhaupt als Gerichtsvollzieher: das gab es noch nie. Dass der Präsident das Bundesheer ins Finanzministerium abordnet, um die Akten zu beschlagnahmen, war dann doch nicht nötig – aber immerhin…  RAPHAEL ULBING beleuchtet die verfassungsrechtlichen und -politischen Hintergründe.

Am 9. Mai 2021 wurde die Konferenz über die Zukunft Europas offiziell eröffnet. 70 Jahre Europäisierung haben zwar weder ein europäisches Volk noch einen europäischen Bundesstaat hervorgebracht, aber ARMIN VON BOGDANDY findet, dass sie nichtsdestotrotz eine europäische Gesellschaft geschaffen haben.

Die Rechtsprechung des EuGH war in den letzten Jahren ein wesentlicher Baustein im Kampf um die Rechtsstaatlichkeit in Polen. Mit dem „Xero Flor“-Urteil vom 7. Mai ist nun auch der EGMR in den Ring gestiegen, schreibt MATHIEU LELOUP und bestätigt, was unsere Leser_innen schon lange wussten: dass das polnische “Verfassungsgericht” rechtswidrig zusammengesetzt ist. MARCIN SZWED berichtet, was nach dem Xero-Flor-Urteil passieren sollte und was passieren wird.

Wer im eigenen Land ein Strafverfahren überstanden hat, kann immer noch von einem anderen Land wegen des gleichen Vergehens über Interpol gesucht werden. Verstößt diese Unannehmlichkeit gegen das Verbot der Doppelbestrafung? Dazu hat der Europäische Gerichtshof ein sehr interessantes Urteil gefällt, welches FELIX KRÄMER analysiert.

Es kann kaum mehr bestritten werden, dass an den europäischen Außengrenzen systemisch illegale Pushbacks durchgeführt werden. Gleichzeitig werden immer mehr Stimmen laut, die in Frage stellen, dass Pushbacks den Menschenrechten, dem Völkerrecht und dem Europarecht widersprechen. MATTHIAS LEHNERT stellt klar: Pushbacks sind illegal, und zwar immer.

Am Dienstag hat der bulgarische Präsident eine Übergangsregierung ernannt, damit steht die Auflösung der 45. Nationalversammlung – weniger als einen Monat nach ihrer Zusammensetzung – unmittelbar bevor. RADOSVETA VASSILEVA argumentiert, dass die neue Nationalversammlung, obwohl sie nur von kurzer Dauer war, den Weg für dringend benötigte Reformen geebnet haben könnte.

FELIX EKARDT war Prozessvertreter einer der Klagen gegen das Bundes-Klimaschutzgesetz. Während das Urteil zwar eine juristische Revolution darstelle, habe es doch auch beträchtliche Schwächen. CHRISTINA ECKES fragt sich, ob die Richter mit dem Urteil nicht die Gewaltenteilung untergraben, indem sie politische Akteure zum Handeln zwingen. Sie kommt allerdings zu dem Schluss, dass das BVerfG-Urteil ein funktionierendes System der Gewaltenteilung bestätigt.

Abseits der eigentlichen Entscheidung des Facebook Oversight Boards in der Causa ‚Trump Ban‘ finden ORESTE POLLICINO, GIOVANNI DE GREGORIO und MARCO BASSINI viel interessanter, wie sich das Board in seiner Abwägung der Posts von der Amerikanischen First Amendment Doktrin entfernt, hin zu europäischen Standards der Verhältnismäßigkeit.

In einer anderen Sache hat Facebook es jetzt mit dem Hamburgischen Datenschutzbeauftragten zu tun bekommen: Am Samstag treten die neuen Nutzungs- und Datenschutzbestimmungen von WhatsApp in Kraft, die den Nutzern noch weitergehend als bisher die Kontrolle über ihre Daten entziehen. Eine Anordnung aus Hamburg untersagt Facebook Ireland Ltd. nun, personenbezogene Daten von WhatsApp zu verarbeiten. Ein ungewöhnlicher Schritt, wie SEBASTIAN BRETTHAUER erläutert.

++++++++++Anzeige++++++++

Ihre Forschung sichtbar machen – hier könnte Ihre ANZEIGE stehen

Wenn Sie auf eine Konferenz aufmerksam machen möchten, Stellen zu besetzen haben oder für Veröffentlichungen werben möchten, können Sie das beim Verfassungsblog tun. Unser Editorial, das als Newsletter weltweit verschickt wird, erreicht über 10.000 Verfassungsrechtler_innen.

Zögern Sie nicht sich bei uns zu melden (advertise@verfassungsblog.de).

Beste Grüße
Ihr Verfassungsblog-Team

++++++++++++++++++++++

Die Kampagne „GoGiveOne“ ruft Einzelpersonen dazu auf, Geld zu spenden, damit COVID-19-Impfstoffe global verteilt werden können. Was nach einer Möglichkeit klingt, um die Impfstoffversorgung auch im Globalen Süden sicherzustellen, kritisiert TARA VAN HO scharf. Ebenso wie bei der Klimakrise und der Verantwortung von Unternehmen für die Einhaltung von Menschenrechten würde hier ein strukturelles Problem auf das Individuum abgewälzt, was eine echte Lösung nur verhindere.

In der Woche, in der Frankreich des 200. Todestags Napoleon Bonapartes feierlich gedachte, schaffte auch der Deutsche Bundestag erinnerungspolitische Fakten. Ohne Gegenstimmen bewilligte er ein Gesetz zur Errichtung einer Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung. FRANK GROOTENS und FREDERIK ORLOWSKI fragen, ob die Stiftung den Weg zu einer aufgeklärten Erinnerungspolitik versperrt.

Am 10. Mai 2021 wurde der Entwurf für ein Vergesellschaftungsgesetz vorgestellt, mit dem eine Berliner Kampagne nach einem erfolgreichen Volksentscheid am 26. September 2021 die Wohnungen großer Immobilienunternehmen in Gemeineigentum überführen will. JOHN PHILIPP THURN zeigt, warum die Berliner Landesverfassung entgegen der Ansicht in einem günstig platzierten Beitrag im „Tagesspiegel“ einer solchen Sozialisierung nicht im Wege steht.

Zu Ende gegangen ist in dieser Woche unser großes Onlinesymposium “Power and the Covid-19 Pandemic“, das wir gemeinsam mit JOELLE GROGAN und Democracy Reporting International organisiert hatten. Den vorläufigen Abschluss bildet eine Reihe von Podiumsdiskussionen, nachzuhören hier. Das ganze Projekt war eine große Kraftanstrengung. Wie schon im letzten Jahr decken unsere Länderberichte einen nicht geringen Teil der Weltkarte ab. Darauf sind wir stolz.

So viel für diese Woche. Bitte nicht vergessen: Wir bleiben auf Ihre Unterstützung angewiesen!

Ihnen alles Gute,

Max Steinbeis


Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Authoritarian Populism, Sebastian Kurz