22 November 2020

Vermeidbar und vorhersagbar

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur 16. AtG-Novelle

Die juristische Abwicklung des Ausstiegs aus der Kernenergie bis zum 31.12.2022 ist kein Ruhmesblatt deutscher Gesetzgebungsgeschichte. Schon die mit der 13. Novelle zum Atomgesetz (AtG) verbundene Beschleunigung des Ausstiegs nach der Katastrophe von Fukushima litt unter erheblichen grundrechtlichen Mängeln. Das Bundesverfassungsgericht gab dem Gesetzgeber daher im Jahr 2016((1 BvR 2821/11 u. a.)) auf, zwei Verfassungsverstöße bis 30.6.2018 zu beseitigen. Dabei handelt es sich namentlich um die fehlende Möglichkeit einer konzerninternen Verstromung der 2002 zugewiesenen Reststrommengen sowie den mangelnden Ausgleich für frustrierte Investitionen. Kurz vor Ablauf der Frist legten die Regierungsfraktionen den Gesetzentwurf für eine 16. AtG-Novelle vor((BT-Drs. 19/2508 v. 5.6.2018)). Dieser stieß schon bei der Anhörung im Bundestagsausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit auf massive Kritik((Protokoll-Nr. 19/12 zur Sitzung v. 13.6.2018)). Die juristischen Sachverständigen (darunter der Autor) hielten die Ausgleichsregelung für nicht verstrombare Elektrizitätsmengen nahezu übereinstimmend für höchst bedenklich. Mit einem am 12.11.2020 veröffentlichten Beschluss((1 BvR 1550/19)) hat das Bundesverfassungsgericht nunmehr bereits das Inkrafttreten des Gesetzes verneint und die angestrebte Regelung für verfassungswidrig erklärt – eine ebenso vermeidbare wie vorhersagbare Niederlage.

Vermarktungsobliegenheit und Anspruchsinhaberschaft

Stein des Anstoßes war zum einen die in § 7f Abs. 1 S. 3 AtG normierte Vermarktungsobliegenheit. Danach musste der ausgleichsberechtigte Energieversorger nachweisen, dass er sich unverzüglich nach Inkrafttreten der 16. AtG-Novelle bis zum Ablauf des Ausstiegsprozesses ernsthaft um eine Übertragung der ausgleichsfähigen Elektrizitätsmengen „zu angemessenen Bedingungen“ bemüht hat. Eine Möglichkeit, vor Ende 2022 behördlich zu klären, welche Übertragungsbedingungen angemessen sind, war nicht vorgesehen. Das Risiko einer Fehlbeurteilung hätte folglich allein bei den Ausgleichsberechtigten RWE und Vattenfall gelegen((dezidiert kritisch bereits Steinbeis, VerfBlog, 2018/5/26)).

Zum anderen sollte der Anspruch nach § 7f Abs. 1 S. 1 AtG den Genehmigungsinhabern der Kernkraftwerke (KKW) Brunsbüttel, Krümmel und Mülheim-Kärlich zugewiesen werden, wobei § 7f Abs. 1 S. 2 AtG, wie im BVerfG-Urteil angelegt, vorsah, den Ausgleich für das KKW Brunsbüttel auf zwei Drittel und für das KKW Krümmel auf die Hälfte der dort mit Ablauf des 31.12.2022 verbliebenen Elektrizitätsmengen zu begrenzen. Die Betreibergesellschaften der beiden Kernkraftwerke stehen indes nur zu 66,6% (Brunsbüttel) bzw. 50% (Krümmel) im Eigentum der allein ausgleichsberechtigten Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH. Die restlichen Anteile gehören der PreussenElektra GmbH als 100-prozentiger Tochter der E.ON SE. Damit drohte ein nicht ausgleichsberechtigtes Unternehmen (PreussenElektra) zulasten eines ausgleichsberechtigten Unternehmens (Vattenfall) zu profitieren.

Beide Probleme waren in der Sachverständigenanhörung deutlich artikuliert worden. Warum der Gesetzgeber dennoch auf eine Korrektur der verfassungswidrigen Regelungen verzichtete, bleibt sein Geheimnis. An konkreten Vorschlägen zur Behebung der Defizite mangelte es jedenfalls nicht. Die 16. AtG-Novelle wurde dessen ungeachtet in defizitärer Form beschlossen und verkündet((BGBl. I 2018, 1122)).

Beihilfecharakter und Inkraftreten

Gleichermaßen unerklärlich erscheint eine weitere Fehleinschätzung, die dem Bundesumweltministerium unterlaufen ist. Die 16. AtG-Novelle sollte ausweislich ihres Art. 3 erst in Kraft treten, wenn „die Europäische Kommission die beihilferechtliche Genehmigung erteilt oder verbindlich mitteilt, dass eine solche Genehmigung nicht erforderlich ist“. Bereits in der Ausschussanhörung war darauf hingewiesen worden, dass wegen der drohenden Kompensation eines nicht ausgleichsberechtigten Unternehmens beihilferechtliche Bedenken bestünden.((Ludwigs, Ausschuss-Drs. 19 (16) 63-A, S. 6 f.; s. auch Protokoll-Nr. 19/12, S. 14; im Ansatz auch Däuper, Ausschuss-Drs. 19 (16) 63-G, S. 5 f.)) Nach Einschätzung des BMU war die Bedingung gleichwohl erfüllt, da „die Europäische Kommission mit Schreiben vom 4. Juli 2018 verbindlich mitgeteilt hat, dass eine beihilfenrechtliche Genehmigung nicht erforderlich ist (…)“. Bei dieser im Bundesgesetzblatt dokumentierten ministeriellen Bewertung (BGBl. I 2018, 1124) handelte es sich indes um eine grobe Fehleinschätzung, was spätestens am 11.7.2019 deutlich wurde. Mit Beschluss von diesem Tag wies das EuG eine Nichtigkeitsklage der Vattenfall Nuclear Energy GmbH gegen das vom BMU in Bezug genommene Kommissionsschreiben als unzulässig ab. Zur Begründung machten die Luxemburger Richter*innen deutlich, dass es „unter keinem relevanten objektiven Aspekt“ möglich sei, dem streitigen Schreiben rechtlich verbindlichen Charakter im Verhältnis zur Klägerin beizumessen.((EuG, Beschl. v. 11.7.2019 – T-674/18, ECLI:EU:T:2019:501 Rn. 41)) Bei kritischer Reflexion dieser Entscheidung musste sich der Schluss aufdrängen, dass die Bedingung für das Inkrafttreten der 16. AtG-Novelle mangels Verbindlichkeit des Kommissionsschreibens und aufgrund des rein deklaratorischen Charakters der hieran anknüpfenden ministeriellen Bekanntmachung nicht erfüllt war.((näher Ludwigs, NVwZ 2019, 1501)) Widerhall im politischen Raum fand diese Konsequenz indes nicht.

Bestimmtheit und Normenklarheit

Die Quittung für das Ignorieren der juristischen Bedenken erhielten BMU und Gesetzgeber mit dem am 12.11.2020 veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Darin stellt der Erste Senat fest, dass das Gesetz schon nicht in Kraft getreten sei, weil die hierfür vom Gesetzgeber selbst vorgesehenen Bedingungen nicht erfüllt waren. Überdies hätte der in § 7f AtG geregelte Ausgleich für nicht verstromte Elektrizitätsmengen den mit der 13. AtG-Novelle verbundenen Grundrechtsverstoß auch in der Sache nicht beheben können.

Im Mittelpunkt der Argumentation des Senats stehen in dreifacher Hinsicht die rechtsstaatlichen Grundsätze der Bestimmtheit und Normenklarheit. Erstens sei es zwar theoretisch denkbar, auch eine unionsrechtlich nicht verbindliche Mitteilung der Kommission als „verbindliche Mitteilung“ im Sinne des nationalen Rechts zu qualifizieren (Rn. 58); dies gelte jedoch nicht, wenn es um die Regelung des Inkrafttretens von Gesetzen gehe. Mit den hierfür geltenden spezifischen Bestimmtheitsanforderungen wäre eine solche Auslegung contra legem nicht vereinbar (Rn. 68). Zweitens betont der Erste Senat bezüglich der Vermarktungsobliegenheit in § 7f Abs. 1 S. 3 AtG, dass die Ausgleichsberechtigten nicht hinreichend zuverlässig erkennen könnten, auf welche Übertragungsgeschäfte sie sich einlassen müssen. Ihre Kompensationsaussichten seien letztlich ähnlich ungewiss, wie wenn der Gesetzgeber sie von vornherein allein auf die Übertragung ihrer Reststrommengen am (Käufer-)Markt verwiesen hätte (Rn. 76). Drittens gebe es zwar Deutungsvorschläge zu § 7f Abs. 1 S. 1 AtG, die das Problem einer doppelten Anspruchskürzung zu Lasten von Vattenfall vermeiden. Ein solches Normverständnis habe der Gesetzgeber aber „nicht hinreichend klar und operationabel zum Ausdruck gebracht“ (Rn. 80).

Damit ist das Karlsruher Verfassungsgericht seiner Rolle als „Hüter des Grundgesetzes“ in vollem Umfang gerecht geworden. Dies gilt auch auf prozessualer Ebene. Hier hat der Erste Senat erkannt, dass fachgerichtlicher Rechtsschutz unzumutbar war((§ 90 Abs. 2 S. 2 BVerfG)) und eine schnelle Klärung der Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzes im öffentlichen Interesse lag (Rn. 32 ff.). Zu begrüßen ist vor allem, dass dem Gesetzgeber klare Hinweise an die Hand gegeben werden, wie er die Regelung über den Ausgleich für nicht verstromte Elektrizitätsmengen neu gestalten soll. Dies wäre nach der Feststellung des mangelnden Inkrafttretens der 16. AtG-Novelle zwar nicht einmal erforderlich gewesen, da eine Regelung ohne Rechtswirkungen schwerlich Grundrechte verletzen kann. Angesichts der bisherigen Beratungsresistenz hätte ohne diese Wegweisungen indes eine erneute gesetzgeberische Fehlleistung gedroht.

Wegweisungen für die Neuregelung

Für die gebotene Neuregelung hat der Erste Senat dem Gesetzgeber keine konkrete Frist gesetzt, jedoch ein „alsbaldige[s]“ Handeln gefordert. Dies dürfte bedeuten, dass der Beschluss noch in der laufenden 19. Legislaturperiode umzusetzen ist. Dabei müsste erstens eine Regelung zur Anspruchsberechtigung geschaffen werden, die hinsichtlich der KKW Brunsbüttel und Krümmel ausdrücklich gewährleistet, dass die Entschädigung allein beim ausgleichsberechtigten Anteilseigner (Vattenfall) ankommt, ohne dass hiermit negative Rückwirkungen auf den anderen Anteilseigner (PreussenElektra) verbunden sind.((so schon Däuper, Ausschuss-Drs. 19 (16) 63-G, S. 4; Ludwigs, Ausschuss-Drs. 19 (16) 63-A, S. 6; eingehend Möllers/Tischbirek, Ausschuss-Drs. 19 (16) 63-C, S. 5ff.)) Zum Zweiten wäre der Gesetzgeber, wenn er die grundsätzlich zulässige Vermarktungsobliegenheit beibehalten will, auf der sicheren Seite, wenn er ein Verfahren etabliert, dass den Ausgleichsberechtigten rechtzeitig Gewissheit über den konkreten Inhalt der Bemühensobliegenheit verschafft. Dies gilt umso mehr, als der Erste Senat auf die insoweit bestehende Lücke ausdrücklich hingewiesen hat (Rn. 75). Dass die Etablierung eines solchen den Vermarktungsprozess begleitenden Mechanismus kein triviales Unterfangen darstellt, wird freilich deutlich, wenn man die Frage nach der Verfahrensherrschaft in den Blick nimmt. Im Rahmen der Ausschusssitzung vom 13.6.2018 ist insoweit darauf hingewiesen worden, dass das BMU „kaum als ,neutraler Schiedsrichter’ qualifiziert werden [kann], weil das institutionell-politische Interesse darauf gerichtet sein wird, die Steuerzahler (…) zu entlasten (…)“.((Hermes, Ausschuss-Drs. 19 (16) 63-D, S. 5)) Diesen Einwand gilt es im Gesetzgebungsverfahren ebenso zu erwägen, wie den Vorschlag einer gänzlichen Streichung der Vermarkungsobliegenheit.((in diese Richtung Hermes, Ausschuss-Drs. 19 (16) 63-D, S. 5; Ludwigs, NVwZ 2018, 1268 [1272])) Der letztgenannte Weg könnte, je nach konkreter Ausgestaltung, eine Schonung des Haushalts und der Steuerzahler letztlich womöglich sogar effektiver gewährleisten.

Im Lichte der dezidierten Ausführungen des Ersten Senats steht immerhin zu erwarten, dass der neue Regelungsrahmen mit größerer handwerklicher Sorgfalt erstellt wird – auch mit Blick auf notwendige Anpassungen zu gegebenenfalls noch laufenden Verwaltungsverfahren sowie etwaige Verzinsungsregelungen und ergänzende Ausgleichsansprüche. Zu denken ist hier vor allem an den Fall, dass sich Unternehmen unter dem Bemühensdruck des § 7f Abs. 1 S. 3 bereits auf eine unzumutbare Verwertungsmöglichkeit eingelassen (also einen zu niedrigen Preis akzeptiert) haben sollten.((dazu bereits Burgi, NVwZ 2019, 585 [589])) In diesem Sinne lässt sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Chance begreifen, die juristischen Auseinandersetzungen um den Kernenergieausstieg auf nationaler Ebene rechtsstaatlich abzuschließen. Positive Folgewirkungen könnte dies auch auf internationaler Ebene entfalten. Noch immer anhängig ist hier eine Schiedsklage von Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem ICSID in Washington.((ICSID Case No ARB/12/12; zum Stand zuletzt Berger, EuZW 2020, 229)) Immerhin liefert der Senatsbeschluss einen erneuten Beleg für die rechtliche Stabilität der deutschen Rechtsordnung. Der Gesetzgeber sollte den fortgesetzten Grundrechtsverstoß nunmehr dringend abstellen, um sowohl weiteren Schaden für den Rechtsstaat abzuwenden als auch ein Signal nach Washington zu senden.


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