12 March 2021

Vermummung, Durchsuchung, Ausschluss

Die Neuerungen durch das Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz

Seit dem 28. Februar 2021 gilt das neue Berliner Versammlungsgesetz. Nach der über 60 Jahre langen Ära des Bundesversammlungsgesetzes (BVersG) in Berlin wurde das „Versammlungsfreiheitsgesetz“ (VersFG) weitgehend unter dem Radar ausgehandelt. Auch das neue Berliner Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) soll in Kürze verabschiedet werden. Neben der legislativen Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schafft das neue VersFG einige Liberalisierungen. Dennoch wird es seinem Namen nicht gerecht. Dort, wo es sich von den verfassungsgerichtlichen Vorgaben löst, enthält es unklare, teils widersprüchliche Vorschriften. Erhebliche Unklarheiten in der Anwendung entstehen durch eine Anordnungskonstruktion hinsichtlich des Verbots von Schutzausrüstung und Vermummungsgegenständen. Inkohärenzen folgen aus den im VersFG speziell geregelten Durchsuchungs- und Identitätsfeststellungsbefugnissen der Polizei. Entgegen dem Liberalisierungsversprechen des Gesetzgebers enthalten die Regelungen zum präventiven Ausschluss von Personen sowie die Verbotsgründe Verschärfungen, die Fragen hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit aufwerfen. Das Gesetz wird daher in Zukunft bei Versammlungsteilnehmer:innen wie -anmelder:innen für erhebliche Rechtsunsicherheit sorgen und bei ca. 5000 Versammlungen pro Jahr die Berliner Gerichte beschäftigen.

Neue Regelungen zu Vermummung und Schutzausrüstung

§ 19 VersFG enthält neue Regeln für die Verwendung von Vermummungsgegenständen und Schutzausrüstung. Demnach ist das Mitführen solcher Gegenstände, anders als noch unter § 17a I, II Nr. 2 BVersG, erlaubt (AGH-Drs. 18/2764, S. 47). Ein weiterer Unterschied zum BVersG ist, dass die Verwendung von solchen Gegenständen nur dann verboten ist, wenn eine Anordnung zur Konkretisierung des Verbots nach § 19 II VersFG vorliegt.

Als sofort vollziehbare Allgemeinverfügung muss die Anordnung allen Teilnehmer:innen bekannt gegeben werden. Die Anordnung soll ausweislich der Begründung (aaO.) bei Versammlungen, bei denen Verstöße gegen die Verbote nach § 19 VersFG wahrscheinlich sind, schon vorher erlassen werden. Bei Spontanversammlungen wird dies naturgemäß nicht möglich sein. Aus Rechtsschutzperspektive bedeutet dies, dass gegen die vorige Anordnung auch durch jede:n Teilnehmer:in der Versammlung im Eilverfahren nach § 80 V VwGO vorgegangen werden kann. Dasselbe gilt im Übrigen für Anordnungen nach § 9 III VersFG für Offensivgegenstände.

Anders als noch unter dem BVersG ist nach dem VersFG die Vermummung lediglich zur Verhinderung der Identitätsfeststellung sowie zum Zweck der Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten pönalisiert. Das heißt, dass nur bei Anhaltspunkten, die Vermummung werde zu genau diesen Zwecken angelegt, überhaupt eine Anordnung ergehen bzw. eine solche durchgesetzt werden darf. Unterstrichen wird dies auch von der Gesetzesbegründung (aaO., S. 46): So bestehe ein legitimes Interesse, dass die durch die Teilnahme ausgedrückte politische Haltung nicht von staatlichen Stellen überwacht werden soll oder Dritte keine Kenntnis von der Teilnahme haben sollen. Ausdrücklich genannt wird die Sorge, die Teilnahme an einer Versammlung könnte dem Arbeitgeber bekannt werden; dies ist gerade bei Veranstaltungen im Rahmen des Arbeitskampfes relevant. Auch an Aufnahmen durch politische Gegner:innen, z. B. zur Erstellung sog. Feindeslisten, ist zu denken.

Daraus lässt sich ableiten: Werden in einer Versammlung, die nicht einen im Ganzen unfriedlichen Verlauf nimmt, insbesondere in vollständig friedlichen Teilen der Versammlung, Vermummungsgegenstände angelegt, so ist regelmäßig nicht davon auszugehen, dass sie zur Verhinderung der Identitätsfeststellung für Straftaten- oder Ordnungswidrigkeitenverfolgung verwendet werden; insoweit besteht also eine Vermutung für einen legitimen Einsatzzweck. Es darf dann keine Anordnung zur Durchsetzung des Verbots nach § 19 II VersFG ergehen. Insbesondere ist nicht, weil mehrere Versammlungsteilnehmer:innen eine Vermummung anlegen, dies bereits als Hinweis auf einen pönalisierten Verwendungszweck zu verstehen.

Für die Durchsetzung des Verbots und die strafrechtliche Sanktion müssen die Voraussetzungen des § 19 I VersFG und eine Anordnung nach § 19 II VersFG kumulativ vorliegen. Dies gilt vor dem Hintergrund der vom Gesetzgeber benannten grundsätzlichen Legitimität der Vermummung bzw. der Verwendung von Schutzausrüstung. Wenn also, wie zu erwarten ist, Anordnungen in Form von Listen verbotener Gegenstände ergehen, kann die Polizei diese Anordnung nur dann durchsetzen bzw. liegt eine Strafbarkeit nur dann vor, wenn die Gegenstände im Einzelfall auch zu den in § 19 I Nr. 1 VersFG genannten Zwecken verwendet werden.

Eine Durchsetzung des Vermummungsverbots hat erfahrungsgemäß hohes Eskalationspotenzial und oftmals kommt es erst durch die Durchsetzungsmaßnahmen zu Auseinandersetzungen; man denke insoweit exemplarisch an die „Welcome to Hell“-Demonstration anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg 2017. Dort ließ die Hamburger Polizei die bis dahin friedliche Versammlung wegen einer kleineren Gruppe Vermummter gar nicht erst loslaufen und setzte die Auflösung brutal durch. In diesem Zusammenhang zog sich die Polizei bisher oft auf das Legalitätsprinzip zurück, nun wird sie Anordnungen nach § 19 II VersFG vor dem Hintergrund des Deeskalationsgebots aus § 3 VersFG zurückhaltend ergehen lassen müssen, wenn zu befürchten steht, dass erst durch den Erlass einer Anordnung und deren spätere Durchsetzung die Versammlung einen unerwünschten Verlauf nimmt.

Trotz des eher unklaren Wortlauts, auf den schon die GFF in ihrer Stellungnahme hinwies (S. 6), lässt sich schließen, dass gegenüber den bisherigen Regelungen nur noch ein sehr eingeschränktes Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot besteht, weil die Voraussetzungen des § 19 VersFG kumulativ vorliegen müssen und es eine grundsätzliche Vermutung zugunsten eines legitimen Verwendungszwecks dieser Gegenstände gibt.

Durchsuchung und Identitätsfeststellung

Nach der aus der Literatur kritisierten, aber gefestigten Rechtsprechung kann die Polizei Maßnahmen gegen einzelne Versammlungsteilnehmer:innen aufgrund des Polizeirechts ergreifen, sofern die Voraussetzungen für eine Auflösung vorliegen (sog. Minus-Maßnahme). Das VersFG klärt nun für Berlin das Verhältnis zum ASOG in § 10 I. Grundsätzlich ist das ASOG subsidiär, bei Vorliegen einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit aber anwendbar. Es handelt sich also um eine qualifizierte Rechtsgrundverweisung.

Dies gilt jedoch nicht für den Ausschluss von Personen aus Versammlungen (dazu unten mehr) sowie die Identitätsfeststellung und Durchsuchung. Letztere sind in § 17 VersFG geregelt und sperren den Rückgriff auf das ASOG.

§ 17 I VersFG regelt dabei die Durchsuchung und Sicherstellung. Im Vergleich zu § 10 I VersFG iVm dem ASOG setzt die Norm ebenfalls eine unmittelbare Gefahr voraus, reduziert die Schutzgüter aber, indem sie sich nur auf das Waffenverbot (Var. 1), den Verstoß gegen Beschränkungen (Var. 3; der Begriff ersetzt den alten Begriff der Auflage) sowie den Einsatz von sonstigen Offensivgegenständen, Uniformen und Vermummungs- und Schutzausrüstungengegenständen (Var. 2) bezieht. Hinsichtlich dieser Reduktion ist § 17 I VersFG abschließend. Die Polizei darf also etwa nicht mehr auf Grundlage des ASOG durchsuchen, weil sie Verstöße gegen das BtMG auf einer Versammlung abwehren will. § 17 II VersFG ist für die Identitätsfeststellung weiter gefasst als Abs. 1 und unterscheidet sich von § 10 I VersFG iVm dem ASOG nur, indem die Identitätsfeststellung nicht schon wegen begangener oder vermuteter Ordnungswidrigkeiten zulässig ist.

Allerdings weisen § 17 I Var. 2 (Durchsuchung) und § 17 II Var. 2 (Identitätsfeststellung) einige Inkohärenzen auf, auf die ebenfalls schon während des Gesetzgebungsverfahrens durch den RAV hingewiesen wurde: Die Mitnahme von Vermummungs- und Schutzausrüstungsgegenständen ist explizit erlaubt und nur nach Anordnung ist die Verwendung zu den Zwecken des § 19 I VersFG verboten und strafbar. Trotz dieser Erlaubnis darf nach solchen Gegenständen durchsucht und dürfen diese beschlagnahmt werden, wenn sie durch Anordnung verboten sind und die unmittelbare Gefahr besteht, dass der Einsatz dieser Gegenstände die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung gefährden wird. Die Möglichkeit aber, nach diesen Gegenständen ohne konkreten, auf die Person bezogenen Verdacht zu durchsuchen, würde die Mitnahme faktisch wieder pönalisieren.

Schwierigkeiten bereiten unter diesem Gesichtspunkt die tatsächlichen Anhaltspunkte, die dafür bestehen müssen, dass durch Anordnung verbotene Gegenstände eingesetzt bzw. verwendet werden. Die Gesetzesbegründung (aaO., S. 44) legt fest, dass eine konkrete Person verdächtig sein muss, die o. g. Gegenstände auf der Versammlung zu verwenden. Eine allgemeine Einschätzung der Gefahrenlage durch die Polizei kann daher gerade nicht reichen. Selbst wenn beispielsweise Aufrufe nahelegen, sich zu den in § 19 I VersFG genannten Zwecken und entgegen einer vorher bekanntgemachten Anordnung zu vermummen oder einen bestimmten Gegenstand zum Schutz gegen Pfefferspray o. ä. mitzubringen, genügt dies den Anforderungen des § 17 I VersFG nicht. Dafür spricht auch, dass gerade die Mitnahme von – auch durch Anordnung verbotenen – Gegenständen erlaubt ist. Um eine Prognose zu treffen, dass die Person die Gegenstände nicht nur mitführt, sondern im späteren Verlauf der Versammlung in verbotener Weise verwenden will, kann nur auf die innere Verwendungsabsicht abgestellt werden. Diese lässt sich schon durch Beweisaufnahme in Strafgerichten schwierig feststellen. Im polizeilichen Alltag kann die Norm daher nur willkürlich oder gar nicht angewendet werden.

Streichung und Wiedereinführung der öffentlichen Ordnung in einem Gesetz

Nachdem die obrigkeitsstaatliche „öffentliche Ordnung“ in der Praxis seit einigen Jahren eher ein Schattendasein fristete, wurde sie nun gestrichen. Umso überraschter ist man bei der Lektüre der Regelbeispiele, die in der Eingriffsgrundlage zu Beschränkung, Auflösung und Verbot von Versammlungen in § 14 II VersFG enthalten sind. Dort heißt es in S. 2 Nr. 1: „Gleiches gilt, wenn die Versammlung auf Grund der konkreten Art und Weise ihrer Durchführung geeignet oder dazu bestimmt ist, Gewaltbereitschaft zu vermitteln […] und dadurch einschüchternd wirkt oder in erheblicher Weise gegen das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger und grundlegende soziale oder ethische Anschauungen verstößt.“

Bezüglich der Gewaltbereitschaft ist diese Norm deutlich weiter als die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die in der Gesetzesbegründung sogar zitiert wird (aaO., S. 41). Letztere setzt vielmehr voraus, dass Maßnahmen gegen eine Versammlung „ein aggressives und provokatives, die Bürger einschüchterndes Verhalten der Versammlungsteilnehmer verhindern sollen, durch das ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft erzeugt wird.“ (BVerfGE 111, 147, 157). Dass eine wie auch immer geartete Eignung oder Bestimmung zur Vermittlung von Gewaltbereitschaft genügt, scheint nicht nur Probleme hinsichtlich des Bestimmtheitsgebots erzeugen, sondern die niedrige Eingriffsschwelle steht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs in Art. 8 I GG und ist damit verfassungswidrig.

Des Weiteren bedarf es nach Var. 1 der Norm nur einer einschüchternden Wirkung und nicht eines tatsächlich einschüchternden Verhaltens. Fragen stellen sich hier nach den Adressat:innen. Gibt es Kenntnisse über das Angstempfinden von Durchschnittsbürger:innen bei Versammlungen? Selbst falls ja, sollte dies Grundlage für die Beschränkung von Freiheitsrechten sein? Falls diese niedrige Eingriffsschwelle nicht ausreichend ist, stellt nun der Gesetzgeber, der einen Absatz zuvor bewusst auf die öffentliche Ordnung verzichtet hat, im Auffangtatbestand der Var. 2 auf einen Verstoß „gegen das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger“ ab. Warum die durch Jahrzehnte lange richterliche Konkretisierung verharmloste und verfassungswidrige Norm durch eine neue, ebenso problematische Norm, nur eben ohne direkten Bezug zu der Konkretisierung, ersetzt werden soll, ist – gerade vor dem Hintergrund der Liberalisierungsbemühungen – vollkommen schleierhaft. Die Gesetzesbegründung jedenfalls schweigt sich dazu aus.

Ausschluss von Personen

Die Möglichkeit des Ausschlusses von Teilnehmer:innen gab es schon nach alter Rechtslage (vgl. § 17a IV; 18 III, 19 IV BVersG). Dies schien in der Praxis wenig Bedeutung zu haben, da ein Ausschluss vor allem bei noch andauernden Störungen in Betracht kam und in solchen Situationen oft auf Grundlage der StPO vorgegangen wurde.

Nach neuer Rechtslage kann nun eine Person vorsorglich von einer Versammlung („vor deren Beginn“) ausgeschlossen werden, wenn von ihr eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung ausgeht, § 16 I VersFG. Hier wird die Eingriffsschwelle zeitlich vorverlagert. Gleichzeitig muss als Schutzgut nur die öffentliche Sicherheit betroffen sein, sodass dies etwa auch bei drohenden Ordnungswidrigkeiten in Betracht käme. Im schleswig-holsteinischen VersFG, an dem sich das Berliner VersFG orientiert, findet sich eine ähnliche Norm, aber mit der Einschränkung, dass ein Ausschluss nur „unmittelbar vor Beginn“ der Versammlung stattfinden kann, § 14 I VersFG SH.

Insgesamt widerstrebt die Norm deutlich der liberalen Intention des Gesetzes. Zudem ist ein faktischer Entzug des Versammlungsgrundrechts – wenn auch nur vorübergehend – bei so niedriger Eingriffsschwelle auch vor dem Hintergrund des Art. 8 I GG problematisch. Es bleibt abzuwarten, ob die Polizei von dieser Befugnis umfangreicher Gebrauch machen wird oder ob die Möglichkeit des Ausschlusses eher eine theoretische bleibt.


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