12 March 2021

Vom Schaffen und Erschlagen von Monstern

Kartellrecht gehört nicht zu den Rechtsgebieten, die uns regelmäßig beschäftigen hier auf dem Verfassungsblog. Mergers and Acquisitions, Konzerne im Wettbewerb, Preisabsprachen und Marktmanipulation – das ist kaum noch öffentliches Recht, das ist Privatwirtschaft, davon verstehen wir weder viel noch interessieren wir uns dafür sehr.

Um so spannender finden wir aber, was gerade in den USA passiert. Dort stellt bekanntlich gerade Präsident Biden sein Regierungsteam zusammen, und zwei besonders einflussreiche Posten werden voraussichtlich an Kartellrechtsprofessor_innen gehen: Tim Wu und Lina Khan kommen beide von der Columbia-Universität, und beide sind berühmt für die Schärfe ihrer Kritik an Big Tech und am bisher etablierten Antitrust-Law-Paradigma. Jetzt werden sie die Chance bekommen, ihre wissenschaftlichen Theorien in die Regierungspraxis umzusetzen.

Lina Khan steht obendrein für einen Generationswechsel. In der Regierung des ältesten Präsidenten, der die USA regiert hat, soll die 32-Jährige offenbar, wenn sie im Senat bestätigt wird, in der Federal Trade Commission über den Wettbewerb in den USA wachen. Welche Linie sie dabei wohl verfolgen wird, kann man einem Paper entnehmen, das sie noch als Studentin geschrieben und 2017 im Yale Law Journal veröffentlicht hat und zu einem der einflussreichsten wissenschaftlichen Artikel der Gegenwart geworden ist.

Der Generationswechsel steckt schon im Titel des Aufsatzes: Amazon’s Antitrust Paradox, eine Anspielung auf das 40 Jahre zuvor erschienene Buch  ‚The Antitrust Paradox: A Policy at War with Itself‘ von Robert Bork, das seinerseits im amerikanischen Wettbewerbsrecht damals keinen Stein auf dem anderen ließ. In den Nachkriegsjahrzehnten hatten die Behörden und Gerichte streng darüber gewacht, dass sich keine Marktstrukturen entwickeln, die für den Wettbewerb schädlich sind. Kein Player sollte so groß werden, dass er seine Macht dazu nützen kann, Wettbewerber aus dem Markt zu kicken. Das, so Bork und die Anhänger der Chicago School, sei aber ganz verkehrt: Anstatt Zusammenschlüsse und Unternehmenskäufe zu blockieren und so schwächere Wettbewerber vor der Konkurrenz der Großen abzuschirmen, sollte sich das Wettbewerbsrecht auf die Verbraucher_innen konzentrieren: Die sollen keine überteuerten Preise zahlen müssen. Alles andere ist aus dieser Sicht irrelevant

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Three Postdoctoral researchers in Law

The Faculty of Law, Economics and Finance of the University of Luxembourg offers three postdoctoral research positions (duration 24 months, with possible extension). Researchers will, among others, contribute to the projects and activities conducted in the Department of Law and assist and mentor PhD candidates.
Applicants should have an outstanding PhD in law and be able to work in the context of a Department that specialises in research from a transnational, European and comparative point of view.
Deadline for applications: 30 April 2021. But early application is highly encouraged.
See for further information: here.

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Drei Jahre nach Erscheinen des Buchs wurde Ronald Reagan Präsident. Schon zuvor hatte der Supreme Court sich Borks wettbewerbsrechtlicher Sichtweise angeschlossen. Die Ära der Corporate Raiders und der M&A-Großkanzleien begann, riesige multinationale Konzerne entstanden, und tatsächlich: auf die Verbraucherpreise wirkte sich das offenbar nicht weiter schädlich aus. Im Gegenteil. Diese Konzerne waren so effizient, dass sie ihre Waren und Leistungen immer billiger anbieten konnten. Die Marktmacht bestimmter Unternehmen wuchs ins Unermessliche, die Alarmanzeigen des Wettbewerbsrechts blieben doch stets im grünen Bereich. Dass diese Riesen Verluste in Kauf nehmen könnten, nur um die Wettbewerber in den Ruin zu treiben – das, so dachten Bork und Kollegen, sei ohnehin nicht zu befürchten. Das sei ja irrational. Das mache doch keiner, und wenn doch, dann nicht für lange. Dass die Riesen ihre Lieferanten zusammenkaufen, um ihre Wettbewerber von ihren Lieferketten abzuschneiden, sei gleichfalls völlig unproblematisch: Wenn sie dadurch effizienter werden und billiger anbieten, dann um so besser; wenn nicht, dann würden sie die Folgen ihres Fehlers von allein zu spüren bekommen.

Dann kam das Internet und die Digitalisierung. Dotcom-Startups und Tech-Innovatoren sammelten Milliardensummen an Kapital ein, und was sie ihren Investoren versprachen, waren nicht Gewinne. Sondern Wachstum. Solange dieses Versprechen gilt und geglaubt wird, ist es überhaupt nicht irrational, Verluste auch dauerhaft in Kauf zu nehmen, um den Wettbewerb aus dem Markt zu drängen. Entlang der Lieferkette zu expandieren, ist nicht länger nur ein harmloses Mittel, die eigene Effizienz zu steigern, sondern der Weg, auf dem man vom Betreiber einer Marktbude zum Eigentümer des ganzen Marktplatzes wird, zum Betreiber der Plattform, auf der alle kaufen und verkaufen, aber nur einer von allen alles weiß. Das ist längst die Welt in der wir leben vierzig Jahre nach Borks Buch – eine Welt, beherrscht von Unternehmen, die alle Chicago-Annahmen durchstreichen, die ihre Dominanz überhaupt erst möglich gemacht haben. Und kein Unternehmen verkörpert dies so sehr wie Amazon.

Im Licht von Lina Khans Artikel und der realen Existenz von Amazon et al. erscheint die Lehre der Chicago-Schule als müde und hohle Ideologie, die niemanden mehr zu  überzeugen vermag, der nicht an ihrem Fortbestand ein handfestes materielles Interesse hat. Meine Generation hat an diese Ideologie einmal geglaubt, so wie die Generation vor uns an den Kommunismus. Die Ideologie ist tot. Die Monster, die sie schuf, sind sehr lebendig. Möge es Lina Khan und ihren Mitstreiter_innen gelingen, sie zu (z)erschlagen.

Mitarbeit: Marlene Straub

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Bevor ich zur zurückliegenden Woche komme, lassen Sie mich noch auf ein besonders interessantes Ereignis in der kommenden Woche hinweisen: In letzter Zeit steigt die Zahl der Anlässe, sich über die Rolle verfassungsrechtlicher Expertise im politischen Raum zu vergewissern. Bei manchen Politiker_innen wächst die Ungeduld gegenüber warnenden Stimmen aus der Wissenschaft, umgekehrt genauso, und die Medien spielen dabei eine besondere Rolle. Aus diesem Anlass haben wir gemeinsam mit MICHAELA HAILBRONNER und ALEXANDER THIELE einen Workshop organisiert, in dem Vertreter_innen aus Wissenschaft (ANNA KATHARINA MANGOLD, DANIEL THYM), aus Politik (RENATE KÜNAST, KONSTANTIN KUHLE, GÜNTER KRINGS) und Medien (GUDULA GEUTHER, PATRICK BAHNERS) über dieses Thema diskutieren werden. Die Veranstaltung wird live auf dem Verfassungsblog gestreamt, und zwar am nächsten Freitag um 14 Uhr. Don’t miss it!

In Brasilien hat ein Richter am Obersten Gerichtshof die Verurteilungen von Ex-Präsident Lula da Silva annulliert. Wie dies auf die Operation Car Wash genannte Antikorruptionskampagne von Teilen der Justiz gegen den sozialistischen Präsidenten und seine Regierung zurückwirkt und was überhaupt hinter diesem und weiteren Richtersprüchen steckt, entwirren auf höchst lesenswerte Weise THOMAS BUSTAMANTE und EMILIO PELUSO NEDER MEYER. In einem weiteren Post erläutert FELIPE OLIVEIRA DA SILVA, wie sich diese Entscheidung auf die Präsidentschaftswahlen 2022 und den Kampf gegen die Corona-Krise in Brasilien auswirken könnte.

In Polen hat Anfang Februar ein Warschauer Gericht zwei prominente Holocaust-Forscher dazu verurteilt, sich öffentlich für Aussagen in einem Buch zu entschuldigen. ANNA WÓJCIK berichtet über weitere Beispiele strategischer Prozessführung der polnischen Regierung, die darauf abzielt Wissenschaftler einzuschüchtern und den öffentlichen Diskurs zu lenken.

In Slowenien sorgt Ministerpräsident Janez Janša mit bizarren Tweets gegen Medien und Journalisten für Sorge, ob er es womöglich seinem Vorbild Viktor Orbán gleich tun möchte. MATEJ AVBELJ gehört zu jenen, die diese Sorge für übertrieben halten. Wir werden demnächst zu dem Thema noch weitere Positionen veröffentlichen.

In Deutschland hat sich die Bundesregierung mit den Energieversorgern auf Ausgleichszahlungen für den Atomausstieg geeinigt. RHEA TAMARA HOFFMANN erklärt, warum die Einigung das Schiedsgerichtsverfahren ins Zwielicht taucht.

Seit einigen Monaten ermittelt eine Sonderkommission der Polizei gegen 24 Polizeibeamt_innen wegen rechtsextremer Chats. Im Februar ließen die Ermittler 12.700 Rufnummern prüfen. THOMAS FELTES und DIRK BURCZYK halten solche Massendatenabfragen für rechtswidrig.

Der Zweite Senat des BVerfG hat einen Antrag der Fraktion DIE LINKE im Organstreitverfahren um das Freihandelsabkommen CETA als unzulässig verworfen. BENEDIKT RIEDL nimmt das Urteil zum Anlass, die Entwicklung der Integrationsverantwortung in der Rechtsprechung des BVerfG nachzuzeichnen, die das Gericht in diesem Urteil weiter konkretisiert hat.

Seit langem gibt es im Sozialrecht eine Debatte, ob und wie man sogenannten „Vielkläger_innen“ den Zugang zu sozialgerichtlichen Verfahren erschweren sollte. Einen Gesetzesentwurf des Landes Hessen dazu hat der Bundesrat in der vergangenen zwar abgelehnt, aber die Diskussion über das Spannungsverhältnis von niedrigschwelligem Rechtsschutz und der Abwehr vermeintlich missbräuchlicher Inanspruchnahme der Sozialgerichte dürfte damit nicht beendet sein, meint MARJE MÜLDER.

Die Bundeszentrale für politische Bildung ist dem Bundesinnenministerium unterstellt, und wenn dem der Teaser eines Dossiers der BpB über „Linksextremismus“ nicht gefällt, dann wird er entsprechend geändert.TIM WIHL hat sich Gedanken darüber gemacht, was sich daraus in juristischer und politiktheoretischer Hinsicht lernen lässt.

Seit dem 28. Februar 2021 gilt das neue Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz, das nach über 60 Jahren das Bundesversammlungsgesetz liberalisieren sollte. LENNART LAGMÖLLER und LENNART ARMBRUST erklären, warum es seinem Namen nicht gerecht wird.

In unserem COVID-19-Symposium haben wir in dieser Woche Berichte aus Iran, Estland, Südafrika, Ungarn, Libanon, Belgien, Island, Slowakei, Kanada und Italien. In Woche 4 geplant: Frankreich, Indonesien, Irland, Slowenien, Türkei.

Das wär’s für heute. Ihnen alles Gute, vielen Dank und bis nächste Woche,

Ihr

Max Steinbeis


One Comment

  1. Jens Mon 15 Mar 2021 at 10:54 - Reply

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    Im Licht von Lina Khans Artikel und der realen Existenz von Amazon et al. erscheint die Lehre der Chicago-Schule als müde und hohle Ideologie, die niemanden mehr zu überzeugen vermag, der nicht an ihrem Fortbestand ein handfestes materielles Interesse hat.
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    Interessantes Argument. Die alten Chicago Boys haben ihr Geld jedenfalls in Indexprodukten angelegt (EMH!). Denen ist egal, ob sie “AMAZON”, “AMA” oder “ZON” halten.

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