This article belongs to the debate » Der Kopftuch-Beschluss: Zwei Senate, zwei Gerichte?
31 March 2015

Von tragenden Gründen und abstrakter Gefahr

Christoph Möllers und Mathias Hong debattieren im Verfassungsblog über die Frage, ob der Erste Senat in dem jüngst durch Beschluss abgeschlossenen Kopftuch-Verfahren nach § 16 BVerfGG eine Plenarentscheidung hätte erwirken müssen.

Ich möchte im Lichte ihrer Debatte noch einmal einen Blick auf die Argumentation des Zweiten Senats von 2003 werfen und schauen, welche Ausführungen zur Verbotsmöglichkeit religiös akzentuierter Kleidung für das Lehrpersonal bei abstrakten Gefahren für kollidierende Verfassungsgüter wirklich tragend oder nicht tragend sind.

Liest man das Urteil aus dem Jahre 2003 genau, muss man feststellen, dass es tatsächlich gewisse Interpretationsspielräume offen lässt. Doch bedeutet das nicht, dass der nachfolgend entscheidende andere Senat mit den Urteilsgründen beliebig umgehen kann. Das Urteil aus dem Jahre 2003 behandelte ausdrücklich die Frage, ob bei einer „abstrakten Gefahr“ für kollidierende Verfassungsgüter einer Lehrerin verboten werden kann, ein Kopftuch aus religiösen Gründen zu tragen, – und fordert genau für diese Konstellation eine besondere gesetzliche Grundlage (BVerfGE 108, 282, 303 und 310).

Die Landesgesetzgeber, die daraufhin Regelungen erlassen haben, gingen durchgängig davon aus, dass sie zu einer weitreichenden Gefahrenvorsorge in Form eines generell-abstrakten Verbots befugt sind. In dieser Auffassung wurden sie von zahlreichen Sachverständigen in Anhörungen während der Gesetzgebungsverfahren bestärkt – darunter auch solche, die 2015 als Verfassungsrichterin und Verfassungsrichter mit der Senatsmehrheit gestimmt haben (wie das Sondervotum unter Rn. 7 süffisant vermerkt). Auch eine Kammerentscheidung des Zweiten Senats, die eine Regelung Bremens für verfassungskonform erklärt, legt ein derartiges Verständnis des Urteils von 2003 zugrunde (Beschluss vom 22. Februar 2006, Az. 2 BvR 1657/05).

Sind nun aber die Ausführungen des Zweiten Senats zur Abwehr einer abstrakten Gefahr für den Schulfrieden, die religiös-weltanschauliche Neutralität oder religiöse Grundrechte der Eltern, Schüler und Schülerinnen und zum Erfordernis einer – 2003 fehlenden – spezialgesetzlichen Regelung für eine solche Gefahrenabwehr auch tragende Gründe im Sinne des § 16 BVerfGG (dass die polizeirechtlichen Kategorien der konkreten und abstrakten Gefahr in diese Schnittfläche von Schul- und Religionsverfassungsrecht gehören, wird dabei unterstellt – das wäre eigens zu thematisieren)? Hong stellt unter Berufung auf einen Beitrag von Michael Wrase darauf ab, dass nur das Erfordernis einer besonderen gesetzlichen Grundlage einen tragenden Rechtsgrund darstelle. Alle anderen Ausführungen im Urteil des Zweiten Senats könne man hinwegdenken und dieses hätte doch eine hinreichende verfassungsrechtliche Begründung. Also liege keine Dissenslage nach § 16 BVerfGG vor. Auf die verfassungsrechtlichen Gründe für die Aktivierung des Parlamentsvorbehaltes seitens des Zweiten Senats soll es nicht ankommen.

Folgt man Hong, hat der Zweite Senat, als er für ein abstrakt-generelles Verbot religiös konnotierter Bekleidung des Lehrpersonals ein Parlamentsgesetz gefordert hat, keine tragende Aussage über die Verfassungsmäßigkeit eines solchen Gesetzes im Übrigen gemacht. Also sei nun Raum für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung seitens des Ersten Senats. Das vermag in der vorliegenden Konstellation nicht zu überzeugen. Denn dann müsste man annehmen, das Verfassungsgericht fordere für die Abwehr der von einer religiös akzentuierten Bekleidung ausgehenden abstrakten Gefährdungen des Schulfriedens oder weiterer Verfassungsgüter ein Parlamentsgesetz, obwohl doch, so nun die Rechtsauffassung des Ersten Senats, jede (!) Regelung abstrakter Gefährungslagen per se unverhältnismäßig ist. Eine solche Lesart beraubt das Urteil von 2003 jeden Sinns. So einfach lässt sich der Widerspruch zwischen den Rechtsaussagen der beiden Senate nicht zum Verschwinden bringen.

Für das Entscheidungsergebnis unerheblich wären die Erwägungen des Zweiten Senats zur abstrakten Gefahrenlage deshalb nur, wenn das Urteil aus dem Jahre 2003 auch Konstellationen einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens erfassen würde und auch hierfür vom parlamentarischen Gesetzgeber verlangt hätte, eine besondere Regelung für religiöse Bekundungen seitens des Lehrpersonals zu treffen. Dann hätte in der Folge Raum für eine Konkretisierung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben durch den Ersten Senat bestanden. Dann hätten weitere Anforderungen zur Verhältnismäßigkeit aufgestellt werden können, ohne das Plenum bemühen zu müssen.

M.E. lassen die Urteilsgründe von 2003 bei Einhaltung der Grundregeln hermeneutischer Höflichkeit eine solche Interpretation aber gerade nicht zu. Aus dem Argumentationsgang des Urteils von 2003 – unter Einschluss des Sondervotums – ergibt sich, dass damals für den Fall einer konkreten Rechtsgütergefährdung (etwa des Schulfriedens) die allgemeinen beamtenrechtlichen Bestimmungen als Eingriffsgrundlage zulasten der Lehrerin ausgereicht hätten. Der vom Zweiten Senat geltende gemachte Parlamentsvorbehalt bezog sich nur auf die – vom Ersten Senat nun für tabu erklärte – abstrakte Gefahrenlage. Zugegeben: Explizit steht das in den Erläuterungen des Zweites Senats so nicht. Aber jede andere Verfassungsauslegung würde zu eigenwilligen Ergebnissen führen und den Vorbehalt eines Parlamentsgesetzes im öffentlichen Dienstrecht überspannen. Auch der Gesamtduktus der Entscheidungsbegründung macht deutlich, dass die Erwägungen zum Parlamentsvorbehalt nicht isoliert das Urteil tragen können, sondern dessen Begründung mit in den Blick genommen werden muss.

Hilfreich zur Einordnung der Entscheidung des Zweiten Senats von 2003 ist vielleicht ein Vergleich mit dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall eines in einer Pause betenden Schülers. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in seiner Entscheidung eng an den Urteilsgründen des Zweiten Senats orientiert und den Fall von der Konstellation des Bundesverfassungsgerichts abgegrenzt: Der Schüler als mit Zwang in die staatliche Anstalt eingegliederter Grundrechtsträger musste wegen der konfliktträchtigen Vorbelastung der Schule ein Betverbot ohne besondere gesetzliche Grundlage dulden (BVerwGE 141, 223 ff.). Die auf schulgesetzlicher Grundlage erlassene Schulordnung soll hier als Eingriffsgrundlage ausreichen, weil bereits eine konkrete Beeinträchtigung des Schulfriedens vorlag. Erst recht müsste dann eine Lehrerin als Staatsdienerin bei konkreten Gefahren für den Schulfrieden dienstrechtliche Restriktionen hinsichtlich ihres religiös geprägten Verhaltens ohne spezialgesetzliche Grundlage hinnehmen.

Der Vergleich der beiden Sachverhalte und ihrer verfassungsrechtlichen Bewertung macht anschaulich: Der Zweite Senat ging wohl kaum davon aus, dass es einer ausdrücklichen Gesetzesgrundlage über die dienstrechtlichen Grundregeln (wie dem Mäßigungsgebot) hinaus schon dann bedarf, wenn der Staat sein Lehrpersonal bloß dazu anhalten will, nicht durch eigenes Verhalten eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden zu schaffen oder zu vertiefen. Sogar für die abstrakte Gefahr sahen drei Mitglieder des Senats 2003 keinen Anlass, eine weitere gesetzliche Regelung zu verlangen. Der Senat stritt nicht über die Alternative konkrete oder abstrakte Gefahr, sondern über die Frage, ob bei einer abstrakten Gefahr überhaupt eine eigene gesetzliche Grundlage zu schaffen ist.

Tragender Grund für das Urteil des Zweiten Senats war also nicht die fehlende gesetzliche Grundlage als solche, sondern die Aussage, ein abstrakt-generelles Verbot religiös akzentuierter Bekleidung für das Lehrpersonal in öffentlichen Schulen bedürfe einer spezialgesetzlichen Regelung. Davon weicht der Erste Senat in seinem Beschluss vom 27. Januar 2015 ab, ohne das Plenum zu befassen. Der Parlamentsvorbehalt für die Regelung der Frage religiös akzentuierter Bekleidung von Lehrpersonal wird seitens des Ersten Senats von seinem Ausgangspunkt abgelöst. Er soll offensichtlich weitergelten, ohne dass überhaupt eine abstrakte Gefahrenlage gesetzlich noch regelbar ist (so der Erste Senat). Nur für die Konstellation aber hat der Zweite Senat den Gesetzesvorbehalt bemüht.

Wie man es also dreht und wendet: Der Erste Senat weicht von einem tragenden Rechtsgrund für das Kopftuch-Urteil von 2003 ab; beide Senate widersprechen sich in den für die Entscheidung jeweils wesentlichen Punkten. Der Gesetzgeber weiß nicht mehr, an wessen Entscheidung er sich orientieren soll (die lex posterior-Regel greift nicht bei Gerichtsentscheidungen). Genau diesen Verlust an Rechtssicherheit soll § 16 BVerfGG vermeiden. Man sagt es nicht gern, aber das ist die Konsequenz: Der Erste Senat hat die ihm durch § 16 BVerfGG gezogenen Grenzen seiner Entscheidungskompetenz überschritten.

In der Sache gibt es sicherlich für die abweichende Grundsatzlösung des Ersten Senats gute Argumente – und einige Gegengründe. Der Streit wäre im Plenum auszutragen gewesen. Warum hätte dieses nicht offen zugeben sollen, dass man seit 2003 im Lichte der danach gemachten Erfahrungen zu einer anderen Einschätzung gekommen ist?


One Comment

  1. Peter Camenzind Sat 4 Apr 2015 at 21:13 - Reply

    Keine Ahnung, aber:
    parlamentarische Landesgesetze, welches Kopftuchtragen im Unterricht regelten, könnten sich mehr oder weniger problemlos (verfassungsgemäß) einschränkend dahingehend auslegen lassen, dass diese eine grds. Verbotsmöglichkeit nur vor dem Hintergund konkreter Gefahren normieren sollen.
    Eine Frage könnte sein, inwieweit eine solche Auslegung auf das erste Koptuchurteil des 2. Senates von 2003 o.ä. übertragbar sein könnte.
    D.h, ob dieses Urteil seinem Sinn und Zweck nach mit der Annahme allein einer allein abstrakten zu Grunde liegenden Gefahr stehen und fallen müsste.
    Es könnte soetwas historisch, wörtlich schon mehrheitlich gemeint gewesen sein (wie der Artikel anscheinend eingehender darlegt).
    Eine Frage könnte allerdings sein, ob dies dem Sinn und Zweck nach wesentlich sein müsste.
    Es könnte sich ja evtl. durchaus ein Parlamentsvorbehalt ebenso allein vor dem Hintergund konkreter Gefahren durch einschränkende Auslegung denken lassen.
    Das Zugrundeliegen einer abstrakten Gefahr könnte danach, wenn auch u.U. historisch wörtlich mehrheitlich derart gemeint, dem Sinn und Zweck nach nicht wesentlicher, tragender Grund sein?

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