26 May 2016

Vor dem Ende des Bürgerkriegs in Kolumbien: mit der Verfassung Frieden machen?

Seit 50 Jahren befindet sich Kolumbien im Bürgerkrieg. Der Konflikt zwischen Staat und FARC-Regenwaldguerilla hat das Land gebeutelt. Etwa 200.000 Menschen sind ihm zum Opfer gefallen. Jetzt will Präsident Juan Manuel Santos die Gewalt beenden. Ein Friedensvertrag scheint in unmittelbarer Reichweite. Wenn es nach der Regierung geht, soll dieser Friedensvertrag zu einem direkten Bestandteil der Verfassung werden. Was führt sie damit im Schilde?

Vergangene Woche hat die kolumbianische Regierung einen Gesetzentwurf in den Kongress eingebracht, durch den die Verfassung um einen Artikel erweitert werden soll. Der neue Artikel regelt, dass das Friedensabkommen mit der FARC nach Unterzeichnung in die Verfassung integriert wird. Die Gegner des Friedensabkommens reagierten auf den Schritt mit scharfen Worten. Alvaro Uribe, der ehemaliger Präsident des Landes, sprach von einen „Staatsstreich gegen die Demokratie“, und die ihm nahestehende Zeitung El Colombiano titelte „Die FARC bekommt ihre Verfassung“.

Zur Vorgeschichte: Seit Ende 2012 verhandelt der Mesa de Conversaciones, ein Runder Tisch aus Regierungsvertretern und Mitgliedern der FARC, auf neutralem Boden in der kubanischen Hauptstadt Havanna. Das Ziel ist es, den Krieg im Land mit einem abschließenden Friedensabkommen zu beenden. Die Verhandlungen folgen einer sechs Punkte umfassenden Agenda. Veröffentlicht haben die Vertreter bisher Einigungen über vier Punkte: Sie haben eine Bodenreform verabredet, eine Vision für die zukünftige politische Teilhabe der FARC entwickelt, die FARC hat versprochen ihre Drogengeschäfte einzustellen, und es wurden Vorkehrungen getroffen, damit die Opfer des Konfliktes entschädigt werden. Nun ist am 12. Mai Humberto de la Calle, der Chefunterhändler der Regierung, vor die Presse getreten. Er berichtete, man habe sich mit der FARC in einem weiteren Punkt geeinigt: Es wurde entschieden, wie das finale Abkommen umgesetzt werden soll. Laut Humberto de la Calle sei das Abkommen zunächst einmal nur eine politische Vereinbarung zwischen Regierung und FARC. Man wolle aber, dass es auch möglichst umfassende rechtliche Wirkung entfalte. Dafür sei eine Kombination aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Bindung geplant.

Das ist in mehrerlei Hinsicht problematisch. Was die völkerrechtliche Bindungswirkung betrifft: Einen richtigen völkerrechtlichen Vertrag können die Parteien nicht schließen, denn das können nur zwei Staaten, und die FARC ist nun mal kein Staat, sondern eine bewaffnete oppositionelle Gruppe. Allerdings gibt es im Kriegsvölkerrecht die Regel, dass in Konflikten, die keinen internationalen Charakter aufweisen, die Konfliktparteien zu bestimmten humanitäre Mindestanforderungen verpflichtet sind und sich durch „besondere Vereinbarungen“ noch strengere humanitäre Maßstäbe auferlegen können. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass bewaffnete Gruppen wie die FARC tatsächlich Völkerrechtssubjekte sein können. Das anzuerkennen dürfte der kolumbianischen Regierung schwer fallen.

Humberto de la Calle hat sich daher etwas anderes überlegt. Warum sollte man den völkerrechtlichen Status der FARC thematisieren, so seine Argumentation, wenn es auch viel einfacher geht. Der Friedensvertrag sei eben kein internationaler Vertrag sondern eine „besondere Vereinbarung“ im Sinne des Gemeinsamen Artikels 3 der Genfer Konventionen, denn indem man den Krieg beende, lege man die höchsten humanitären Maßstäbe an. Humberto de la Calle räumt freilich selbst ein, dass die Genfer Konventionen eigentlich nur das Recht während des Krieges regeln, nicht aber das Ende des Krieges. In einer Pressemitteilung beruft er sich aber auf das Internationale Rote Kreuz, dass sich seiner Sichtweise angeschlossen habe.

Flankiert werden soll die etwas wackelige völkerrechtliche Bindung durch das innerstaatliche Verfassungsrecht. Die Regierung hat sich gegenüber der FARC dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das finale Abkommen Verfassungsrang erhält. Hierfür wird nun der besagte Artikel in die Verfassung eingefügt. Um zu verstehen wie er funktioniert, muss man wissen, dass es im kolumbianischen Verfassungsrecht eine besondere Rechtsfigur gibt, den sog. „bloque constitucional“. Dieser umfasst bestimmte völkerrechtliche Normen, die in Kolumbien Verfassungsrang genießen. An ihnen kann das innerstaatliche Recht gemessen werden, und wer daran basteln will, der muss an die Verfassung selbst Hand anlegen. Das ist natürlich viel komplizierter als einfach ein Gesetz zu erlassen. Durch den neuen Artikel wird festgelegt, dass das Friedensabkommen Teil des „bloque constitucional“ werden soll. Freilich erst nachdem es von den Parteien abschließend unterzeichnet wurde und in Kraft getreten ist. Sprich, das ganze Abkommen hat dann Verfassungsrang und steht somit über dem einfachen kolumbianischen Recht.

Wieso musste es gleich die Verfassung sein? Hätte es nicht gereicht, das Abkommen durch einfaches Gesetz in die innerstaatliche Rechtsordnung zu überführen? Es war nach Angaben der Regierungsunterhändler die FARC, die darauf bestanden hat, das Abkommen in die Verfassung zu integrieren, um sich abzusichern. Immerhin soll sie ihre Waffen ab- und damit ihre militärische Stärke aufgeben. Soll sich die FARC auf diese Forderung einlassen, muss sie darauf vertrauen können, dass sich auch die kolumbianische Regierung an ihren Teil der Abmachung hält. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass bei einer kommenden Wahl Alvaro Uribe wieder an die Macht kommt. Er hat in seiner Amtszeit gegen die FARC einen strikt militärischen Kurs gefahren und ist der größte Kritiker der Verhandlungen. Was unter ihm mit dem Abkommen passieren würde, ist absehbar. Da wollte die FARC lieber sicher gehen. Humberto de la Calle ist ihr entgegengekommen. Auf der Pressekonferenz sagte er, man wolle garantieren, dass das Abkommen eingehalten werde und so den Frieden auf lange Zeit sichern.

Der innenpolitische Streit war programiert. Wenige Stunden nach der Pressekonferenz in Havanna fuhr Ex-Präsident Uribes Partei in einer Pressemitteilung schwere Geschütze gegen die Regierung auf: Staatsstreich gegen die Demokratie, Verletzung der Verfassung, Missbrauch des Humanitären Völkerrechts, Degradierung der legislativen Kammern zu Notaren. Rechtliche Gründe führt die Pressemitteilung, die zu nicht weniger als zum zivilen Widerstand aufruft, nicht an. Die Vorwürfe passen in das von Uribe immer wieder bediente Narrativ, die Regierung mache mit Terroristen und Drogenhändlern gemeinsame Sache und schraube von Havanna aus – Achtung Kommunismus – am Staat.

Humberto de la Calle hat inzwischen Position bezogen. Seine schriftliche Stellungnahme betitelte er ironisch mit: „Der merkwürdige und unglaubhafte Staatsstreich“. Er weist darauf hin, dass die Regierung die Verfassung entsprechend der durch diese selbst gesetzten Regeln ändere. Die Kammern würden ordnungsgemäß beteiligt. Außerdem sei vorgesehen, dass ein Abkommen mit der FARC erst nach einer Volksabstimmung in Kraft trete. Schon in der Vergangenheit hatte er gesagt, man wolle „in Havanna keine Verfassungsgebung im Schatten betreiben“.

Aus verfassungstheoretischer Perspektive scheint allerdings durchaus fraglich, ob es sich hier einfach nur um eine bloße Verfassungsänderung handelt. Christine Bell[1] hat in einer umfassenden Studie über Friedensabkommen zwischen Staaten und innerstaatlichen Gruppen die Grundlagen für eine solche Perspektive gelegt. Friedensabkommen, so argumentiert sie, beenden einen bewaffneten Konflikt, gleichzeitig setzten sie aber auch eine neue verfassungsmäßige Ordnung in Kraft. Denn regelmäßig definieren sich die an den Konflikten beteiligten Staaten durch das Friedensabkommen neu. Sie müssen das tun, um die Gruppe, die bisher außerhalb des Staates stand und dessen Legitimität in Frage stellt, in eine gemeinsame Ordnung einbeziehen zu können. Damit einher geht auch, dass die Macht im Staat zumindest soweit umstrukturiert wird, dass die Gruppe das Gefühl bekommt, am Staat politisch teilnehmen zu können. Denn meistens gibt die Gruppe zwar den bewaffneten Kampf auf, nicht aber die Ziele, für die sie ursprünglich den Kampf aufgenommen hat. Christine Bell nennt das, in Umkehrung des geflügelten Wortes von Clausewitz, die Fortführung des Krieges mit den Mitteln der Politik.

In der Tat spricht viel in den bisherigen Vereinbarungen zwischen Regierung und FARC für Bells Deutung. So hat man sich in Havanna auf eine Bodenreform geeinigt, da Landbesitz in Kolumbien immer noch sehr ungleich verteilt ist, was die FARC ursprünglich dazu bewogen hatte, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Weiter wird es der FARC durch die Verhandlungsergebnisse in puncto „politische Teilhabe“ ermöglicht, sich selbst als politische Kraft innerhalb des Staates zu entfalten. Der Staat muss dafür Zugeständnisse machen. Der FARC wurden Parlamentssitze in einigen Regionen versprochen und Garantien gegeben, ihre politische Arbeit auch mit staatlichen Mitteln zu betreiben. Was bekommt der kolumbianische Staat im Gegenzug für diese Integrationsleistung, die voraussetzt, dass er sich selbst verändert? Er kann wieder unwidersprochen für sich in Anspruch nehmen, der Staat aller Kolumbianer zu sein. Das zeigt sich auch im Logo der Verhandlungsdelegation. Dort heißt es „Todos por un nuevo país“, zu deutsch: alle gemeinsam für ein neues Land. Und in der Pressekonferenz sagte Humberto de la Calle, indem die Regierung dem Abkommen den höchsten juristischen Rang zu Teil werden lasse, würdige sie dessen Relevanz, nämlich den Krieg zu beenden und eine neue Etappe des gesellschaftlichen Friedens zu begründen. Außerdem werde dadurch auch die FARC in der konstitutionellen Ordnung willkommen geheißen.

Was folgt nun daraus? Ohne sich vorschnell auf Alvaro Uribes Seite schlagen zu wollen: es wäre sicherlich konsequenter von der Regierung gewesen, wenn sie eine neue Verfassung angestoßen hätte. Indem sie das Friedensabkommen in die alte Verfassung integriert, verfängt sie sich in ihrer Rhetorik. Es ist schwer eine neue Etappe für das gesamte kolumbianische Volk anzupreisen, und gleichzeitig zu beteuern, man betreibe keine Verfasssungsgebung. Dass die Opposition bei dem Vorhaben nicht mit im Boot sitzt, gefährdet die neue Ordnung, bevor sie überhaupt begründet wurde. Denn Uribe und seine Anhänger haben schon dazu angesetzt, die Legitimität des Staates nach dem Frieden wieder in Frage zu stellen. Man hat auf dem Weg, der Staat aller Kolumbianer zu werden, einen Schritt nach vorn und einen zurück gemacht.

[1] Christine Bell, On the Law of Peace – Peace Agreements and the Lex Pacificatoria, New York 2008.


2 Comments

  1. Max J Fri 27 May 2016 at 10:00 - Reply

    Schön geschrieben. Hoffentlich klappt es, das wäre ein herber Schlag für die Drogenkartelle und nur gut für ganz Zentralamerika, durch die das Koks in die USA wandert.

  2. Catherine Fri 27 May 2016 at 16:13 - Reply

    Gut die unterschiedlichen Seiten beleuchtet!

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