29 October 2021

Warum das Zwangsgeld gegen Polen die Glaubwürdigkeit der EU stärken wird

Am 27. Oktober 2021 verhängte der EuGH mit Beschluss seiner Vizepräsidentin ein Strafgeld in Höhe von 1 Million Euro pro Tag gegen Polen, weil sich der Staat bisher konsequent geweigert hatte, die einstweiligen Anordnungen im Rahmen des jüngsten Vertragsverletzungsverfahrens zu befolgen. Dass die EU zu diesem drastischen Mittel greift, verleiht ihr im zähen Ringen um wirksame Maßnahmen gegen Polen Glaubwürdigkeit und könnte langfristig eine Abkehr von politisch ausgehandelten Sanktionen einläuten.

Glaubwürdigkeit auf Unionsebene

Dass mit der Krise des Rechtsstaats in Polen auch eine Krise der EU einhergeht, ist nach gut fünf Jahren des weitgehend erfolglosen Kampfes gegen den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Polen kein Geheimnis. Besonders schmerzlich war diese Erkenntnis im Zusammenhang mit dem Konditionalitätsmechanismus. Von diesem Instrumentarium erhofften sich viele in Politik und Wissenschaft, nach der offenkundigen Erfolglosigkeit des Verfahrens gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV durch finanzielle Sanktionen Glaubwürdigkeit und Schlagkraft im Streit mit Polen zu gewinnen. Doch das Gegenteil war der Fall. Nachdem die Kommission 2018 einen Entwurf des Mechanismus vorlegte, entbrannte aufgrund der – mitunter heftig kritisierten – Stellungnahme des juristischen Dienstes des Rates eine Diskussion um die Vereinbarkeit des Mechanismus mit den Verträgen. Infolge der Blockade der Budgetverhandlungen durch Polen und Ungarn sagte der Europäische Rat den Staaten in seinen Schlussfolgerungen zu, dass der Mechanismus im Falle einer Nichtigkeitsklage erst nach einer Entscheidung des EuGH zum Einsatz kommen werde.

Während die EU-Institutionen noch 2020 über die Zulässigkeit von Finanzsanktionen zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit stritten und auf diese Weise die Wirksamkeit des Konditionalitätsmechanismus schwächten, erkannte der EuGH bereits 2017 die Bedeutung finanzieller Sanktionen für die Durchsetzung des Unionsrechts. Als Polen im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens über unionsrechtswidrige Rodungsarbeiten Polens im Białowieża- Naturschutzgebiet eine einstweilige Anordnung missachtete, erkannte der EuGH, dass die Wirksamkeit seiner Endentscheidungen auf dem Spiel steht, und schuf das Instrumentarium der Zwangsstrafe.

Diese auf Artikel 279 AEUV gestützte Sanktion stärkt die verloren geglaubte Schlagkraft der Union angesichts systematischer Unionsrechtsverletzungen erheblich. Zwar zögerte die Kommission lange, auf diese Verletzung einer einstweiligen Verfügung zu reagieren, und handelte sich damit sogar die Rüge der Europäischen Richtervereinigung ein. Als sich die polnische Rechtsstaatskrise aber zuspitzte und Polen nicht nur die Umsetzung der einstweiligen Anordnungen im Vertragsverletzungsverfahren über das Justizgesetz verweigerte, sondern das polnische Verfassungsgericht zudem die primärrechtliche Grundlage einstweiliger Anordnungen für verfassungswidrig erklärte, zeigte sich die wahre Stärke des Instrumentariums: die Autonomie der Kommission gegenüber politischen Institutionen. Anstatt sich in politische Diskussionen zu verwickeln, konnte die Kommission in der Sache lösungsorientiert handeln und so gemeinsam mit dem EuGH die Grundprinzipien der europäischen Rechtsgemeinschaft erstmals im bereits mehr als fünf Jahren andauernden Konflikt effektiv und glaubwürdig verteidigen.

Effektivität der Zwangsstrafen

Die Bedeutung der finanziellen Sanktionen im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens erschöpft sich jedoch nicht in der Stärkung der Handlungsfähigkeit der Kommission. Vielmehr sind sie auch ein essentielles Instrumentarium zur Durchbrechung der bisherigen Handlungsmuster Polens.

Einer der wichtigsten Ansatzpunkte ist dabei der Faktor Zeit. Polens Regierung hat schon zu Beginn der Justizreformen regelmäßig darauf gesetzt, die Wirksamkeit von Maßnahmen der EU durch Lippenbekenntnisse und kosmetische Veränderungen zu unterminieren, bis sich die autoritären Strukturen in der Zwischenzeit soweit festigen, dass sie durch Maßnahmen der EU kaum mehr umkehrbar sind. Gerade diese Vorgehensweise wird durch die Zwangsstrafen zur Durchsetzung einstweiliger Anordnungen unterbunden. Sie sorgen dafür, dass sich Polen bereits während des Vertragsverletzungsverfahrens unionsrechtskonform verhalten muss. Dies ist besonders im Zusammenhang mit der Disziplinarkammer, die einen wesentlichen Beitrag zur Verfestigung der autokratischen Muster im polnischen Justizsystem leistet, von größter Wichtigkeit.

Auch die Mitwirkung des EuGH als neutrale gerichtliche Instanz leistet einen wichtigen Beitrag zur Effektivität der Zwangsstrafen. Bei der Verhängung der finanziellen Sanktionen sorgt sie dafür, dass Versuche, die Zulässigkeit der Sanktionen in Frage zu stellen, rasch und präzise entkräftet werden können. Dieser Umstand gewinnt vor dem Hintergrund des Urteils des polnischen Verfassungsgerichts, wonach einstweilige Anordnungen nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sind, an Bedeutung. Denn Polen forderte, gestützt auf ebendiese Entscheidung des Verfassungsgerichts, die Aufhebung des Antrages, der die Grundlage des später verhängten Zwangsgeldes darstellte. Der Gerichtshof wies den Antrag unter Verweis auf den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang, wonach die Wirksamkeit des Unionsrecht nicht durch die Berufung eines Mitgliedsstaates auf nationales (Verfassungs-)recht beeinträchtigt werden kann, mit Beschluss zurück und ebnete damit ohne Umschweife den Weg zur Verhängung von finanziellen Sanktionen.

Zum anderen sorgt die Mitwirkung des EuGH bei der Verhängung von Zwangsgeldern für eine Beruhigung des aufgeheizten politischen Klimas zwischen Polen und der Kommission. Während Polens Premierminister im Rahmen der Debatten um die Zurückhaltung der Corona-Hilfsgelder versucht, das Vorgehen der Kommission als Diskriminierung zu diskreditieren und gar einen – völlig unpassenden – Vergleich mit einem dritten Weltkrieg anstellte, sind derartige Anwürfe gegen den EuGH trotz Verhängung einer empfindlichen Geldstrafe nicht zu vernehmen.

Im Lichte dessen sind finanzielle Sanktionen im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren der Schlüssel, um Polen langfristig zurück auf den Weg in die europäische Rechts- und Wertegemeinschaft zu leiten. Freilich haben auch diese Maßnahmen gerade im Kampf gegen den Abbau der Rechtsstaatlichkeit ihre Schwächen. So richten sich Vertragsverletzungsklagen und damit auch die in ihrem Rahmen verhängten Zwangsgelder nur punktuell gegen einzelne Rechtsverstöße und können den systematischen Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Polen nicht in seiner Gesamtheit bekämpfen.

Angesichts der in der Krise neu entdeckten Entschlossenheit der Kommission, mit harten Bandagen und allen Mitteln, die ihr die Verträge zur Verfügung stellen, zu kämpfen, könnte nunmehr der richtige Moment gekommen sein, um die von Scheppele vorgeschlagene systemische Vertragsverletzungsklage in die Praxis umzusetzen. Diese würde es der Kommission ermöglichen, gestützt auf Art. 2 EUV mehrere Verletzungen unter einer Klage zusammenfassen, und durch einstweilige Anordnung schon während des Verfahrens unionsrechtskonformes Verhalten im Hinblick auf die vorgeworfenen Verletzungen einzufordern.

Dieser Schritt wäre sicherlich ein großes Wagnis. Dennoch sollte die Kommission den Beschluss vom 27.10.2021 als Ansporn sehen.


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