29 June 2020

Warum so schüchtern? Über ein Unternehmensstrafgesetz, das keines sein will

Der Referentenentwurf des Verbandssanktionengesetzes (VerSanG) ist da. Dahinter verbirgt sich nichts Geringeres als das Vorhaben, ein Unternehmensstrafrecht einzuführen. Der aktuelle Entwurf hat beste Chancen, mit allenfalls geringfügigen Änderungen in Gesetzesform gegossen zu werden. Er erfährt die übliche Kritik: Den einen geht er zu weit, den anderen nicht weit genug. Besonders im Fokus steht neben den Rechtsfolgen die von der Regulierung ausgehende Symbolik. Dieser Diskussion fehlt bislang ein theoretischer Zugang. Den gewährt eine Regulierungstheorie, die sich dem expressiven Recht bzw. seinen expressiven Wirkungen und seiner expressiven Funktion widmet. Wendet man diese auf das VerSanG an, zeigt sich, dass der Entwurf das enorme expressive Potenzial eines neuen Unternehmensstrafrechts verschenkt. Er wirkt nicht einmal von außen gefährlich – Papierkätzchen statt Papiertiger. Und darunter leidet auch die verhaltenssteuernde Wirkung.

Recht wirkt expressiv.

„Symbolische Gesetzgebung“ wird häufig als Gegenteil von „wirksamer“ Gesetzgebung konstruiert und mithin als Ressourcenverschwendung kritisiert. Einen entsprechenden Vorwurf vernimmt man aktuell aus den Reihen der Union zum Vorschlag, den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu tilgen. Der Expressivismus tritt dem entgegen: So lässt sich empirisch beobachten, dass Gesetze Verhaltensänderungen nach sich ziehen, die nicht auf die angedrohten Sanktionen und die durch sie verursachten Kosten zurückzuführen sind. Die Expressivist*innen bieten hierfür unterschiedliche Erklärungen an. Ihr gemeinsamer Fokus liegt auf dem Charakter des Rechts als Wertekommunikation, der Regulierung als Rechtsänderung und den von beiden ausgehenden Signalen.

Demnach hängt die praktische Wirksamkeit einer gesetzlichen Regulierung auch von der durch die Gesetzesänderung vermittelten Botschaft ab. Denn diese steuert ebenso Verhalten wie die Sanktion. Die expressive Wirkung kann die Sanktionswirkung verstärken, bremsen oder konterkarieren. Beim Expressivismus handelt es sich also nicht bloß um Pflichtenethik (Deontologie), sondern um eine mit anderen sozialwissenschaftlichen Regulierungstheorien konkurrierende Folgenbetrachtung. Was die Steuerungswirkung der Signale angeht, kann der Expressivismus sowohl auf ökonomische und soziologische Modelle als auch auf experimentelle Forschung zu Heuristiken, Framing– und Crowding-out-Effekten und zur Wirkkraft von Metaphern zurückgreifen.

Strafrecht will expressiv wirken.

Aus den Wirkungen folgt noch keine entsprechende Funktion. Denn ein gezieltes Ausnutzen expressiver Effekte durch den Gesetzgeber kann man etwa – ähnlich wie das Nudging – als heimlichen Paternalismus kritisieren. Im Strafrecht genießt die expressive Funktion jedoch Anerkennung, und zwar im Rahmen deontologisch-konsequentialistischer Mischtheorien, die sich gegen die reinen Vergeltungs- und Präventionstheorien durchsetzen. Demnach bestätigt das „Unwerturteil“ der Strafe die Geltung der wichtigsten gesellschaftlichen Gebote. Die Bestrafung ist die „Antwort“ des Rechts(staats) auf die moralische Verfehlung, die das Vertrauen in die Rechtsordnung sowie deren Akzeptanz nachträglich wiederherstellen und präventiv stärken will. Strafrecht geht somit nicht nur die Verfahrensbeteiligten, sondern auch die Geschädigten und die Allgemeinheit etwas an.

Aus regulatorischer Sicht sind expressive und präventive Funktion keine Gegensätze. Vielmehr lässt sich die erste der zweiten unterordnen: Das zu vermeidende Übel wird durch die rechtspolitische Zielsetzung vorgegeben. Hinsichtlich der Zielerreichung ergänzt der Expressivismus die Erkenntnisse der ökonomischen Regulierungstheorie. Das Zusammenspiel verdeutlicht der Begriff der Abschreckung, der sowohl das Ziel (Prävention) als auch das kommunikative Einwirken auf die Regulierungsadressat*innen beinhaltet.

Die statische Symbolik des Unternehmensstrafrechts

Im Unternehmensrecht hingegen liegt die expressive Funktion nicht auf der Hand. Denn dieses ist Teil des Wirtschaftsrechts, und die Wirtschaft – so lehrt Niklas Luhmann – operiert nur in der Binarität des Geldes: zahlen oder nicht zahlen. Unternehmen erscheinen vielen lediglich als große und doch irgendwie unsichtbare Geldmaschinen. Eine Schuld als persönliche Vorwerfbarkeit schreibt man Unternehmen nicht intuitiv zu. Mit diesem Verständnis bricht die Symbolik des Unternehmensstrafrechts. Das häufig gezeichnete Bild der „Unternehmen auf der Anklagebank“ vermittelt: „Unternehmen können Straftaten begehen und schuldig sein!“ Dabei schießt die expressive Wirkung über die Schuldfrage hinaus: Indem es das Unternehmen als Täter konstruiert, äußert sich das Unternehmensstrafrecht im Vorbeigehen zum Theorienstreit um das Wesen des Unternehmens. Derart prägnante Bilder sind geeignet, sich im Denken einzunisten und von ihrer eigenen Kontingenz abzulenken.

Die dynamische Symbolik der Rechtsänderung

Daneben gibt es eine zweite, dynamische Symbolik: Regulierung signalisiert als Gesetzesänderung, dass der vorherige Rechtszustand defizitär war. Dies präzisiert Richard McAdams‘ (2015, Kap. 5) signaltheoretisches Modell, das Gesetzgebungsakte als Informationen über objektive Gefahren (risk signaling) bzw. über Wertvorstellungen (attitude signaling) betrachtet. Die Bürger*innen erwarten vom Gesetzgeber, dass er statistische Risiken besser kennt als sie selbst und dass er diesen Wissensvorsprung in entsprechende Regulierungen übersetzt. Eine straßenverkehrsrechtliche Regel signalisiert demnach, dass ihre Einhaltung das Unfall- bzw. Verletzungsrisiko statistisch senkt. Wer das Signal ernst nimmt, befolgt es zum Selbstschutz. Beim attitude signaling drückt der Gesetzgeber nach der klassischen Sicht (freies Mandat) eigene Wertvorstellungen aus, nach McAdams hingegen die Attitüden der Mehrheit der Wähler*innen. Die Politische Ökonomie geht den Mittelweg: Signalisiert werden dann die Präferenzen der einflussreichsten Wähler*innen, Spender*innen sowie wichtiger Parteifunktionär*innen. Hinsichtlich des Einwirkens der Signale auf Wirtschaftsakteur*innen relativieren sich die Unterschiede: In McAdams‘ Modell fürchten die Bürger*innen durch den Normverstoß die soziale Ächtung ihres Umfelds. Folgt man der klassischen Sicht, bildet die gesetzgeberische Meinung aus Adressat*innensicht immerhin einen Wertungsanker, also eine Heuristik. Auch in der Logik der Politischen Ökonomie ist von einer Steuerungswirkung des Signals auszugehen, denn die Unternehmen interessiert, was die Konkurrenz und andere einflussreiche Stakeholder gutheißen.

Schließlich weist McAdams auf ein Dilemma hin: Jede Regulierung signalisiert, wie gesehen, dass die bestehenden Rechtsfolgen und/oder ihre Durchsetzung nicht genügen, um Straftaten vorzubeugen. Und das kann zu Störsignalen führen: Die Durchsetzung einer Verhaltensnorm durch Strafrecht manifestiert sich erst darin, dass die Strafe vom Gericht festgesetzt wird. Zuvor muss aber die Tat aufgedeckt, verfolgt und im Prozess bewiesen werden. Nach der ökonomischen Theorie wirkt eine Sanktion abschreckend, wenn das Produkt aus den Kosten der Strafe und der Verurteilungswahrscheinlichkeit größer ist der Nutzen aus der Tat. Eine Strafverschärfung sollte somit die Präventionswirkung erhöhen. Aber: Rechtsunterworfene mögen sie als Signal werten, dass derartige Straftaten seltener aufgedeckt, verfolgt, bewiesen bzw. abgeurteilt werden als zuvor angenommen. Wenn die Straferhöhung die Änderung dieser Wahrscheinlichkeitsprognose nicht mitkompensiert und der Gesetzgeber nicht zugleich die Strafverfolgung verbessert (und dies kommuniziert), entstehen Fehlanreize. Das Dilemma entsteht, weil sich die expressive Wirkung einer Regulierung über Zeit abnutzt, der Appell also regelmäßig aktualisiert werden muss. Dies zu tun, ohne zugleich Schwäche zu zeigen, kommt einem Drahtseilakt gleich.

Das VerSanG – ein Strafrecht, das keines sein will

Schöpft der Entwurf das doppelte Potenzial eines neuen Unternehmens-Strafrechts aus? Setzt er also Unternehmen tatsächlich auf die Anklagebank? Verleiht er Unternehmen die Fähigkeit zu Tatherrschaft und Täterwillen? Macht er die mühselige Zurechnung einer Individualstraftat über das (alte, aber fortgeltende) Ordnungswidrigkeitenrecht (§§ 30, 130 OwiG) vergessen? Nein! Das VerSanG führt keine Sonderdelikte für Unternehmen ein, sondern transformiert, ebenso wie das OwiG, lediglich die Individualstraftat in eine „Verbandstat“ (§ 2 Abs. 1 Nr. 3, § 3 VerSanG-E) – und zwar durch Zurechnung. Von einer spezifischen Unternehmensschuld fehlt jede Spur. Das hätte man womöglich anders sehen können, wenn die als ultima ratio ursprünglich erwogene, von der Unionsfraktion erfolgreich abgelehnte Auflösung der juristischen Person Teil des Entwurfs geblieben wäre. Dass die Rechtsfolgen hinter dem expressiven Potenzial zurückbleiben, gibt noch keinen Anlass zur Kritik, denn die expressive Wirkung entspricht ja gerade der Diskrepanz zwischen Realität und Signal. Insgesamt kann man den Gesetzgeber als Befürworter*in der Unternehmensstrafbarkeit immerhin dafür loben, dass er eine hinsichtlich Verfolgungspflicht, Bußgeldhöhe und anderen Durchsetzungsvariablen verschärfte Regelung erfolgreich als prinzipielle Revolution verkauft. Dabei entgeht der Entwurf der beschriebenen Signaling-Falle: Zwar signalisiert er durch die Rechtsänderung als solche sowie durch Anhebung der monetären Strafen erhebliche Mängel der bisherigen Strafverfolgung. Jedoch entzieht er die Verfolgungsentscheidung dem Ermessen der Staatsanwaltschaft (Opportunitätsprinzip), unterstellt sie einem grundsätzlichen Zwang (Legalitätsprinzip) und signalisiert damit in letzter Konsequenz auch eine höhere Verurteilungswahrscheinlichkeit. Andererseits entwertet das VerSanG auf diese Weise die weiterhin geltenden §§ 30, 130 OwiG.

Dennoch ist die expressive Kraft des VerSanG gehemmt, weil es keine Täterschafts- und Schuld-Konzepte vorweisen kann. Zwar könnte die Gesetzesbezeichnung diese symbolischen Defizite teilweise kaschieren. Doch funkt der Gesetzgeber hier ein Störsignal namens „Gesetz zur Stärkung der Integrität der Wirtschaft“ – so die offizielle Langfassung für „VerSanG“. Das klingt schön und gut, aber eben nicht nach Strafrecht. Vielmehr könnte jedes andere, irgendwie gemeinwohlorientierte Wirtschaftsgesetz so heißen, vom Lieferkettengesetz über das aktienrechtliche Allround-Reformgesetz ARUG II bis hin zum „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie“. Außerdem mindern zentrale Tatbestandsbegriffe die Signalwirkung, weil sie auf den Begriff der „Sanktion“ anstelle der „Strafe“ aufbauen. So verkümmert auch das Vorstrafenregister für Unternehmen zum Verbandssanktionenregister, das, wenn man den Mittelteil überhört oder überliest, als Geschwister des Handelsregisters daherkommt – gähn! Auch der Begriff „Verband“ nähert das Geschehen rhetorisch eher DFB-internen Geldbußen an, die ein Bundesligaverein für die Pyrotechnik seiner Fans zahlen darf.

Findet sich immerhin in der Gesetzesbegründung ein donnernder Appell an die unternehmerische Moral? Wiederum negativ: Sie ist geprägt von einem für „gute Gesetzgebung“ typischen Motivbündel. Das VerSanG „soll sicherstellen, dass Wirtschaftskriminalität wirksam bekämpft wird und auch die von Fehlverhalten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern profitierenden Unternehmen wirksam zur Verantwortung gezogen werden. Sie soll das Vertrauen in die Integrität der Wirtschaft stärken und kommt der ganz großen Mehrheit der Unternehmen in Deutschland zugute, die sich rechtstreu und lauter verhält“ (S. 50). Hier finden sich die Gedanken der Prävention durch Abschreckung, der Genugtuung, der positiven Generalprävention und der Gerechtigkeit, die für sich genommen vielleicht geeignet wären, die Moralsensoren der Konsument*innen, Anleger*innen und der Unternehmenswelt zu aktivieren. Ihre Vermengung verwässert die Aussage jedoch – less is better.

Warum so schüchtern?

Warum so schüchtern, liebes VerSanG? Die Antwort kann nur die GroKo liefern. Da der Koalitionsvertrag bei der rechtlichen Ausgestaltung wenig Spielraum lässt, streitet man sich – nachvollziehbarerweise – über die Symbole. Und so hat die Union ihrer Koalitionspartnerin schließlich abgerungen, dass sich die „Strafe“ nun „Sanktion“ nennt und das Gesetz insgesamt so heißt, wie es heißt. Sie will die Unternehmen gar nicht auf die Anklagebank setzen. Während die Anwaltschaft die Gesellschaftsliquidation als „Papiertiger“ mit „symbolischem Anwendungsbereich“ bezeichnet, hat die Union die symbolische Kraft einer solchen „Todesstrafe“ sehr wohl erkannt und auf der Streichung beharrt. Gegner*innen eines Unternehmensstrafrechts dürfen sie dafür loben. Warum dieselbe Fraktion eine Änderung des allgemeinen Diskriminierungsverbots im Grundgesetz für folgenlos hält, bleibt ihr Geheimnis. Böse Zungen würden hier die Politische Ökonomie bemühen.


2 Comments

  1. Max Kolter Mon 6 Jul 2020 at 15:31 - Reply

    Was Sie beschreiben, bezieht sich zum großen Teil auf die Präventionswirkung durch Sanktion, nicht auf die expressive Wirkung. Dazu nur Folgendes: Wie sich die Compliance-Anforderungen genau entwickeln werden, muss sich erst zeigen. Es ist gut möglich, dass das VerSanG zu mehr Compliance anregt. Das kann einen Compliance-Wettbewerb auslösen, infolgedessen mögen die Anforderungen steigen. Das VerSanG hat damit aber weniger zu tun als die allg. unklare Rechtslage zu Compliance und die Anwaltschaft, die hier ein lukratives Beratungsfeld erkannt hat (und Kommentare wie die von Herrn Huber).
    Die Sanktionen mögen erhöht worden sein, aber auf Tatbestandsseite hat sich fast nichts geändert. KMU müssen also noch keinen Selbstmord begehen. Sie dürften bei den Staatsanwaltschaften auch nicht ganz oben auf der Liste stehen. Zudem besitzt der Mittelstand in Due-Diligence-Fragen einen zentralen Vorteil: KMU sind viel einfacher zu überblicken, sie haben oft wenige Standorte, dementsprechend ist es leichter, eine zentrale Unternehmenskultur zu etablieren, Abtrünnige ausfindig zu machen usw.

    Interessant ist aber: Wirkt das VerSanG in Bezug auf KMU stärker expressiv (weil seine Rechtswirkungen massiv überschätzt werden und die Gesetzesänderung als Einführung einer Compliance-Pflicht missverstanden wird)? Das müsste man sich dann aber empirisch ansehen.

  2. Max Kolter Sun 12 Jul 2020 at 17:35 - Reply

    Der erste Teil Ihrer Antwort zielt ja auch schon auf die Botschaft ab. Ich finde durchaus plausibel, was Sie schreiben. Das müsste man wirklich mal (qualitativ-)empirisch untersuchen, was durch Umfragen von KM-Unternehmer*innen ja gut machbar wäre. Anekdoten darüber, dass das eine oder andere Unternehmerkind den elterlichen Betrieb nicht fortführen möchte, reichen mir da noch nicht. Das kann ja andere Gründe haben.
    Auch erscheint es möglich, dass das Gesetz den Rechtsstandort Deutschland im Wettbewerb der Gesetzgeber beeinträchtigt. Doch werden Unternehmen eine solche Entscheidung gut durchkalkulieren, und dafür wird entscheidend sein, ob das VerSanG in der Praxis wirklich stärker durchgesetzt wird als das OWiG. Hätte da meine Zweifel.

    Zum zweiten Teil: Ich sehe die Message etwas differenzierter: “Die Wirtschaft kann böse sein”, statt: “Die Wirtschaft ist böse”. Die Maschinenmetapher würde ich im VerSanG nicht notwendig erkennen, eher eine Stärkung der Metapher juristische “Person” (= menschähnliches Gebilde). Das kann man für falsch halten, der Komplexität einer Organisation wird das natürlich nicht gerecht. Insofern stimme ich Ihnen zu. Aber bedenklich ist doch auch die (bislang eher vorherrschende) Kontrastfolie: Die Wirtschaft ist neutral, Unternehmen sind Netze aus Vermögenswerten, Kapital und dezentralem Wissen, aber keine Verantwortungssubjekte. Nicht nur würde das Zivilrecht widersprechen, sondern auch die Soziologie. Es gibt ja schon so etwas wie Unternehmenskultur, die als Anknüpfungspunkt für eine Unternehmensschuld taugt (lesenswert dazu: https://www.degruyter.com/view/journals/zstw/119/2/article-p290.xml).

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