Weiter Warten auf verfassungskonformes Wahlrecht
Zur Ablehnung des gegen die Wahlrechtsreform gerichteten Eilantrags durch das Bundesverfassungsgericht
Mit Beschluss vom 20. Juli 2021 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Antrag von Abgeordneten dreier Oppositionsfraktionen abgelehnt, die im November 2020 beschlossenen Änderungen des Wahlrechts bei der bevorstehenden Bundestagswahl im September 2021 nicht anzuwenden. Mit diesen Änderungen wird das Ziel verfolgt, eine Vergrößerung des Bundestages zu verhindern oder jedenfalls zu dämpfen. Ob überhaupt und in welchem Umfang dieses Ziel erreicht werden kann, ist unklar – die Wahl wird es zeigen. Schwerer aber wiegt der Streit über die Mittel zur Zielerreichung: Das Änderungsgesetz sieht ein mehrstufiges hochkomplexes Rechenverfahren vor und ordnet an, dass bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Der Normenkontrollantrag der Opposition rügt deshalb neben einer Verletzung der rechtsstaatlichen Grundsätze der Bestimmtheit und Normenklarheit auch eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien.
Nächste Wahl nach neuem Wahlrecht
Ob diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe verletzt sind oder nicht, bleibt nun offen. Das Bundesverfassungsgericht konnte sich nicht zu einer Hauptsacheentscheidung vor der Wahl durchringen, die allein hinreichende Rechtssicherheit gebracht hätte. Zu wenig Zeit habe für die Durchführung einer mit Blick auf die Bedeutung der Entscheidung gebotenen mündlichen Verhandlung bestanden, zumal Sachverständige hätten hinzugezogen werden müssen. Die potenziellen Sachverständigen wären sicherlich auch kurzfristig disponibel gewesen, haben die Wahlrechtsänderung ohnehin verfolgt und zum Teil schon mit Beispielsrechnungen begleitet. Insofern kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, das Bundesverfassungsgericht habe diese Entscheidung nicht in einer Eile treffen wollen, die ihrer gleichermaßen abstrakten machtzuweisenden Relevanz für die Sitzzuteilung wie auch ihrer konkreten Bedeutung für die Größe und Zusammensetzung des nächsten Bundestages nicht gerecht wird. Das ist ebenso verständlich wie nachvollziehbar. So wird die nächste Wahl des Bundestages am 26. September 2021 auf der Grundlage des geänderten Wahlrechts stattfinden, das im Laufe der Legislaturperiode im Hauptsacheverfahren möglicherweise für verfassungswidrig erklärt werden wird.
Vorprogrammierte Legitimationsdefizite
Gerade wegen dieses über dem Wahlrecht schwebenden Damoklesschwertes werden sicher noch am Abend der Wahl, jedenfalls aber nach der endgültigen Auszählung der Stimmen Rechenmodelle zur Frage die Runde machen, welche Sitzverteilung im Bundestag sich nach dem alten Wahlrecht ergeben hätte. Umgekehrt wäre ebenso berechnet worden, wie die Sitze nach dem neuen Wahlrecht verteilt worden wären, wenn das Bundesverfassungsgericht dessen Anwendung per einstweiliger Anordnung unterbunden hätte. In jedem Fall wird der Öffentlichkeit bei der bevorstehenden Wahl sehr deutlich vor Augen geführt werden, wie ein- und dasselbe Wahlergebnis in Abhängigkeit vom Wahlrecht zu unterschiedlichen Sitzverteilungen führen kann. Im Interesse eines Grundvertrauens in die Demokratie ist nur zu hoffen, dass diese Unterschiede dabei nicht zugleich über die Regierungsmehrheit entscheiden werden, aber genau dies steht zu befürchten und ist jedenfalls nicht ausgeschlossen.
Verantwortung des Gesetzgebers
Das hat natürlich auch das Bundesverfassungsgericht erkannt und sich die Entscheidung deshalb nicht leicht gemacht. Es hat vor allem erkannt, dass die Folgenabwägung nicht unter prioritärer Berücksichtigung der Legitimationsfunktion der Wahl entschieden werden kann, weil in beiden Fällen Legitimationsdefizite entstehen können – bei einer Ablehnung wie bei einer Stattgabe des Eilantrags. Es hat sich deshalb auf den Aspekt der formalen und funktionalen Gewaltenteilung zwischen dem Gesetzgeber auf der einen Seite und dem Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite zurückgezogen und auf seine ständige Rechtsprechung verwiesen, nach der die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe aus Respekt vor dem unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber ein besonderes Gewicht haben müssen, wenn ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden soll.
Ein solches besonderes Gewicht aber hat das Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen aus zwei Gründen nicht erkennen können: Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Bestimmtheit und Normenklarheit sind ihrerseits zu vage, als dass sie allein im Rahmen einer Folgenabwägung über die Anwendbarkeit des novellierten Wahlrechts entscheiden könnten. Schon in der Vergangenheit hat das Bundesverfassungsgericht gerade für das Wahlrecht oft eine besondere Verständlichkeit des Wahlrechts quasi als verfassungsrechtlichen Obersatz postuliert und statuiert, sich in der Subsumtion des Wahlgesetzes dann aber mit dessen bloßer Auslegungsfähigkeit zufrieden gegeben. Und was zweitens die verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien betrifft, so geht das Bundesverfassungsgericht – zu Recht vielleicht, vertretbar jedenfalls – in rein quantitativer Betrachtung von einer nur geringen Eingriffsintensität des novellierten Wahlrechts aus.
So verständlich und naheliegend diese Begründung auf den ersten Blick auch ist (und so sehr sie im Übrigen durch die politischen und juristischen Beobachter des Verfahrens auch erwartet wurde), so wirft sie doch zwei Fragen auf:
Bundestag als Beschlussorgan des Koalitionsausschusses?
Zum einen fragt sich, ob der Gesetzgeber diesen Respekt im konkreten Fall überhaupt verdient. Ist wirklich das Verhältnis zwischen zwei Verfassungsorganen betroffen, wenn das Bundesverfassungsgericht das vom Bundestag beschlossene Wahlrecht unter die verfassungsrechtliche Lupe nimmt und möglicherweise einmal mehr moniert? Bei formaler Betrachtung selbstverständlich schon, doch gerade mit Blick auf die jüngste Wahlrechtsänderung eben auch nicht. Denn es sei in Erinnerung gerufen, dass die Wahlrechtsänderung eben nicht auf eine offene Diskussion und ein transparentes Verfahren im Bundestag zurückgeht, sondern dass die Regierungsfraktionen im Bundestag ohne nennenswerte Diskussion, womöglich ohne tieferes Verständnis und jedenfalls entgegen dem Rat der meisten der (immerhin überhaupt noch angehörten) Sachverständigen nur abgesegnet hat, was zuvor der Koalitionsausschuss in einer Nachtaktion beschlossen hat und was im Anschluss durch (einen?) Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums in die Form eines Gesetzentwurfs gegossen wurde. Es wirft kein gutes Licht auf die deutsche Demokratie, wenn ausgerechnet das Wahlrecht in einem Verfahren beschlossen wird, das demokratischen Grundsätzen unwürdig ist. Das Bundesverfassungsgericht sieht über diese Gesetzesgenese vornehm hinweg und wahrt äußerlich die Form, die sich für das Verhältnis von Verfassungsorganen geziemt. Aber es wird inhaltlich künftig möglicherweise genauer hinsehen, wie etwa die Gliederung der mündlichen Verhandlung in dem Verfahren über die Anhebung der absoluten Obergrenze der Parteienfinanzierung indiziert, in dem es u.a. auch um die Durchführung des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens gehen wird.
Weitere Maßstabsbildung im Wahlrecht?
Zum anderen ist umgekehrt aber auch zu fragen, ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wirklich Ausdruck einer Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber ist. Denn während die Stattgabe des Eilantrags allein das Ergebnis einer Folgenabschätzung wäre, die zwar faktisch das novellierte Wahlrecht ins Leere liefen ließe, die rechtlich aber nicht zu einer verbindlichen Maßstabsbildung für ein künftiges Wahlrecht beitragen würde, eröffnet die Ablehnung des Eilantrags dem Bundesverfassungsgericht nun die Möglichkeit, jenseits der gerügten Bestimmungen des Wahlrechts und über die geltend gemachten Maßstäbe hinaus das gesamte Wahlrecht am Verfassungsrecht zu messen und dabei gleichzeitig die verfassungsrechtlichen Maßstäbe weiter zu konkretisieren und präzisieren.
Man kann nur darüber spekulieren, weshalb der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle etwas mutlos allein auf das Änderungsgesetz und nicht vielmehr auf das geänderte Stammgesetz bezogen ist. Dass der genaue Antragsgegenstand im Falle von Gesetzesänderungen keinesfalls eindeutig zu bestimmen ist, zumal über Rechtsnatur und Wirkung von Änderungsgesetzen schon theoretisch nach wie vor keine hinreichende Klarheit herrscht, mag ein Grund sein. Sehr viel wahrscheinlicher ist indes, dass die Oppositionsfraktionen ihren Antrag tatsächlich auf die jüngsten Änderungen des Wahlrechts beschränken und es im Übrigen nicht in Frage stellen wollten.
Sie hätten in diesem Fall die Rechnung ohne das Bundesverfassungsgericht gemacht. Es erinnert in seinem Beschluss sehr deutlich daran, dass „die abstrakte Normenkontrolle ein objektives Verfahren ist, bei dem eine Rechtsnorm unabhängig vom Willen der Antragsteller, deren Antrag nur eine Anstoßfunktion zukommt, unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen ist“ (Rz. 58). Und selbst in seiner Presseerklärung legt es offen, dass es im Hauptsacheverfahren prüfen wird, „ob § 6 BWahlG in seiner Gesamtheit den verfassungsrechtlichen Anforderungen […] genügt.“ Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung im Hauptsacheverfahren nutzen wird, um auch das bislang nicht umfassend überprüfte Bundeswahlgesetz von 2013 einer verfassungsrechtlichen Kontrolle zu unterziehen.
In diesem Falle bestünde durchaus die Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht der zunehmenden Komplexität des Wahlgesetzes mit einer weiteren Feinziselierung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe begegnet. Geholfen wäre dem Wahlrecht damit sicher nicht. Im Tennis entscheiden gewonnene Sätze, nicht Spiele oder Asse über Sieg und Niederlage, im beliebteren Fußball Tore und nicht Ballbesitz, und so mögen auch im Wahlrecht – selbst im deutschen – manche Abweichungen von einem Ideal im Interesse der Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Sitzzuteilung, im Interesse vor allem der Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Bundestages, vielleicht hingenommen werden. Im besten Falle nutzte das Bundesverfassungsgericht seine Hauptsacheentscheidung deshalb dazu, seine Maßstäbe zu konzentrieren und konsolidieren, sich selbst gegebenenfalls also auch zu korrigieren. Das Wahlrecht als Herz der repräsentativen Demokratie braucht Luft zum Atmen.
Neues Wahlrecht vor Wahlrechtsentscheidung?
Der Bundestag hat es umgekehrt natürlich jederzeit in der Hand, dem Bundesverfassungsgericht das Zepter durch die Änderung des Wahlrechts wieder aus der Hand zu nehmen. Und wer weiß, vielleicht bietet ja das Wahlergebnis im September 2021 die Möglichkeit zu einer abermaligen Novellierung des Bundeswahlgesetzes, die vielleicht sogar das gegenwärtige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht obsolet machte. Aber zunächst muss sich ja die Kommission zur Wahlrechtsreform an den ihr gesetzlich gestellten Aufgaben abarbeiten, die ihrerseits genug politischen Sprengstoff enthalten. Mit einer ebenso raschen wie grundlegenden Reform ist deshalb ebenso wenig zu rechnen wie damit, dass eine neue Opposition sich nicht ihrerseits an das Bundesverfassungsgericht wenden würde. Insofern wird es wohl weiterhin beim wahlrechtlichen Wechselspiel zwischen Berlin und Karlsruhe bleiben.
Gebot einer zeitlichen Rücksichtnahme
Das wirft die Frage auf, wie jedenfalls mittelfristig ein Wahlrecht gefunden werden kann, dessen Verfassungsmäßigkeit stets vor seiner Anwendung bei einer Bundestagswahl verbindlich festgestellt wird. Die jetzige Situation, in der die Wahl auf einer verfassungsrechtlich unsicheren Grundlage stattfinden wird, ist allein der späten Entscheidung des Gesetzgebers im November 2020 zuzuschreiben. Doch derzeit liegt der Ball beim Bundesverfassungsgericht, denn es hat ihn – aus nachvollziehbaren Gründen – eben nicht mit einer klaren Hauptsacheentscheidung vor den Wahlen aus der Hand gegeben. Nur wann ist denn – unabhängig natürlich von sachlichen Aspekten der Verfahrensgestaltung, also etwa der Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Einbeziehung von Sachverständigen – der aus der Perspektive einer Verfassungsorgantreue günstigste Zeitpunkt, zu dem das Bundesverfassungsgericht seine Hauptsacheentscheidung verkünden sollte? Dies ist jedenfalls für den Fall, dass das Wahlrecht für verfassungswidrig befunden wird, eine durchaus heikle Frage. Je früher innerhalb der Legislaturperiode die Entscheidung fallen wird, desto eher wird die legitimierende Wirkung der Bundestagswahl in Frage gestellt werden, selbst wenn das Gericht die Wirkungen seiner Entscheidung wahrscheinlich auf die Zukunft beschränken wird. Rufe nach Neuwahlen sind dann vorprogrammiert, die sich mangels Selbstauflösungsrechts des Bundestages und mit Blick auf die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit unechter Vertrauensfragen gar nicht so einfach bewirken lassen werden. Je später umgekehrt das Gericht innerhalb der Legislaturperiode entscheiden wird, desto weniger Zeit bleibt dem Gesetzgeber, um bis zur nächsten Wahl ein neues Wahlrecht zu verabschieden.
Notwendigkeit einer zeitlichen Unterbrechung
Weil dieser Konflikt zwischen dem wahlrechtsändernden Bundestag und dem wahlrechtskontrollierenden Bundesverfassungsgericht immer bestehen wird, ist es notwendig, eine demokratische Selbstverständlichkeit zu konkretisieren und in Verfassungsrecht zu gießen: Ein Parlament darf die Grundlagen seiner Macht stets nur für die Zukunft ändern. Änderungen des Wahlrechts – wie im Übrigen auch des Parteienrechts und des Abgeordnetenrechts – sollten grundsätzlich nur für die übernächste Legislaturperiode beschlossen werden können. Normiert werden könnte diese Vorgabe etwa in der Ergänzung des Art. 82 Abs. 2 GG um einen Satz 3. Ein solcher „zeitlicher Unterbrecher“ schaffte nicht nur Distanz, sondern auch Zeit für eine verfassungsgerichtliche Überprüfung. Dass neben einem zeitlichen vor allem auch ein institutioneller „Unterbrecher“ sinnvoll wäre, etwa in Gestalt obligatorischer Volksentscheidungen, steht auf einem anderen Blatt.
Prof. Rossi’s Artikel ist ein klarer, überzeugender Beitrag zum aktuellen Stand des komplexen Diskurses zu einer Verbesserung des BWahlG. Die im November 2020 vom Bundestag beschlossene Novellierung betrifft technische Details, welche die tiefen Probleme des deutschen Wahlrechts nicht lösen. Keine der gewohnten Retouche-Korrekturen bringt das fertig. Auch der kommentierte Beschluss des BVerfG vom 20 Juli schiebt die Lösung nur weiter hinaus. Das BVerfG hat das Problem gewisser Massen selbst geschaffen: negatives Stimmgewicht ist verfassungswidrig. Aber niemand vermag klarzustellen von wo das Kohärenzproblem herstammt. Das würde voraussetzen, dass man das ganze System überdenken müsse.
Kein Gesetz ist perfekt. Anwendung, Interpretation, Rechtsstreit, Beschwerde, Kontrolle, Rechtsprechung, Novellierung, usw. usf. Das gilt auch für das mithin wichtigste Gesetz der repräsentativen Demokratie. „Das Wahlrecht als Herz der repräsentativen Demokratie braucht Luft zum Atmen.“ Soweit bin ich mit Prof. Rossi einverstanden.
Die Frage ist nun wer das oder die aufgeworfenen Probleme des BWahlG lösen wird. Der Gesetzgeber, welcher die Initiative zur Normierung innehat, oder das BVerfG, welches das letzte Wort zur Rechtmäßigkeit beansprucht und sich nicht durch eine begrenzte Fragestellung einengen lässt? Es gibt jedoch einen dritten Akteur, welchen m.E. die Hauptschuld an der prekären und inkohärenten Rechtslage trifft: die Doktrin, welche sich von der Expertenanalyse und WahlR-Theorie bis in die öffentliche Meinung erstreckt. Letztere ist entscheidend, denn sie bedingt oder bestimmt über die Abgeordnetenwahlprozedur, Objekt des Diskurses, die Bundestagszusammensetzung; sie ist direkt die Grundlage der legitimen Gesetzgebung und indirekt der höchsten Rechtsprechung. Wir sind mitten in einem logischen Zirkel.
Die Doktrin hat bislang versagt. Sie hat das BVerfG in eine Sackgasse gelockt und den Gesetzgeber in Schwierigkeit gebracht, zwischen mangelhafter theoretischer Analyse, strenger BVerfG-Rechtsprechung und Überdrüssigkeit der öffentlichen Meinung und der Wähler in die Zange genommen entscheiden zu müssen.
Abschließend will ich oberflächlich, ohne Argumentation und Beweis, eine Reihe von inhaltlichen Behauptungen aufstellen. 1. Das Doppelproporz-system, also Listenverhältnismäßigkeit sowohl auf Bundes- als auf Landesebene, führt unweigerlich zu gegenläufigen Sitzverteilungen im untergeordneten Verteilungsprozess. Nicht die Überhangmandate, eine subalterne Konsequenz des Mischsystems, sondern der Doppelproporz ist das wesentliche Problem. Und das hat nichts mit Balinski’s Unmöglichkeitstheorem zu tun, welches nur die Inkohärenz der (Niemeyer-) Quoten-Verteilungsformel (d.h. ihre paradoxalen Resultate) und eine vermeintliche Imperfektion der zwei anderen (D’Hondt und Sainte-Laguë) Verfahren (d.h. die Quoten-Bedingung zu verletzen) unterstreicht. Sogar Prof. Pukelsheim (Verfechter des Doppelproporzes mit Sainte-Laguë Formel) erkennt den Makel der gegenläufigen Sitzverteilung („discordant seat assignment“ Proportional Representation, 2017, § 14.3) an, minimisiert ihn aber. In der Schweiz hat man den verborgenen Fehler herausgefunden, auch wenn das für sieben Kantone, welche in dem letzten Jahrzehnt den Pukelsheimer Doppelproporz eingeführt haben, zu spät kommt. 2. Weder Niemeyer, noch Balinski, noch Prof. Pukelsheim (ibid. § 7.5) haben die Ratio der (bis 1985 angewandten) D’Hondt-Formel verstanden, die einzige Verteilungsformel welche die Mehrheitsquote (zu unterscheiden von der bis jetzt erwähnten Hare-Quote) garantiert, und deshalb demokratisch ist. Nur bei der Verteilung von Ausschusssitzen zwischen Bundestagsfraktionen (welche sich zwischen Mehrheit und Minderheiten unterscheiden) wurde die Mehrheitsquoten-Verletzung durch (u.a.) die Sainte-Laguë richtig erkannt und mit einer subsidiären Anwendung der D’Hondt-Formel „gelöst“ („Hybridverfahren Sainte-Laguë – d’Hondt – Mehrheitsklausel“ https://www.wahlrecht.de/lexikon/ausschusssitze.html). 3. Der schlimmste Makel des deutschen Wahlgesetzes ist m.E. jedoch die missbräuchliche Anwendung von starren Listen, welche eine nicht notwendige Einengung der fundamentalen Wahlfreiheit darstellen. Das 1957 vom BVerfG gutgeheißene deutsche Model hat mittler Weilen die Hälfte der nationalen Wahlsysteme in Europa und die Rechtsprechung des EGMR negativ beeinflusst. Die von Leibholz‘ Parteienstaat-Doktrin geprägte deutsche Rechtsprechung würde heute einer gewissenhaften Verhältnismäßigkeits-kontrolle des BVerfG nicht mehr standhalten. Die Personenwahl von § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG wahltheoretisch als ein untergeordnetes verfügbares Attribut der Verhältniswahl anzusehen ist m.E. ein verhängnisvoller Irrtum.