07 March 2020

Wem die Aktuelle Stunde schlägt

Im Brandenburger Landtag hat der von der AfD nominierte Landtagsvizepräsident Andreas Galau versucht, die kurzfristige Anberaumung einer Aktuellen Stunde zum Thema „Walter Lübcke, Halle, Hanau – Wehrhafte Demokratie in der Pflicht“ durch sein Veto zu verhindern. Das Verfassungsgericht Brandenburgs hat Galau einen Strich durch die Rechnung gemacht und im Wege einer einstweiligen Anordnung die Durchführung erzwungen. In der Tat ist es folgerichtig, dass ein Landtagsvizepräsident allein auch in Eilfällen nicht über die Tagesordnung des Parlaments bestimmen kann. Möglicherweise wäre eine Anrufung des Verfassungsgerichts aber gar nicht notwendig gewesen.

Verworrenes Geschäftsordnungsrecht

Der Brandenburger Landtag bedient sich noch immer einer vorläufigen Geschäftsordnung, die weitgehend auf der Geschäftsordnung der vorangegangenen Legislaturperiode beruht. Die Hoheit über den Entwurf einer Tagesordnung steht gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 der Geschäftsordnung des Landes Brandenburg (GOLTBbg) grundsätzlich dem Landtagspräsidium zu, das gemäß § 11 Abs. 1 GOLTBbg seinerseits aus der Präsidentin des Landtages, zwei Vizepräsidenten und weiteren Mitgliedern aus den Fraktionen besteht. Gemäß § 18 Abs. 1 S. 1 GOLTBbg soll das Präsidium spätestens am siebten Tag vor der jeweiligen Plenarsitzung den Entwurf beschließen. Über die endgültige Fassung befindet dann das Plenum. § 18 Abs. 4 GOLTBbg bestimmt hierzu: „Zu Beginn einer jeden Sitzung beschließt der Landtag die Tagesordnung.“

Um die rechtlichen Hintergründe des jüngsten Konflikts zu verstehen, muss man indes noch tiefer in das Geschäftsordnungsrecht des Landtags eintauchen. Eine Sonderregelung zu der Gestaltung von Aktuellen Stunden findet sich in § 60 Abs. 2 GOLTBbg. Dieser verweist weiter auf Anlage 3 zur Geschäftsordnung („Richtlinie für die Aktuelle Stunde“), die ihrerseits die hierbei zu beachtenden verfahrensmäßigen Grundzüge festlegt. Im Kern bestimmt die Anlage, dass das Antragsrecht zur thematischen Gestaltung der jeweiligen Aussprache unter den Fraktionen fortlaufend wechselt. Nach diesem Rotationschema fiel die Festlegung des Inhalts am 27.02.2020 der CDU-Fraktion zu. Diese hatte ursprünglich beantragt, die 100-Tage-Bilanz der neuen Landesregierung zu thematisieren, begehrte mit Antrag vom 18.02.2020 jedoch die inhaltliche Umstellung. Für solche kurzfristigen Änderungen bestimmt die Anlage in ihrer Nr. 2 Satz 4 verklausuliert: „Ausnahmen [der Einreichungsfrist] kann die Präsidentin oder der Präsident im Einvernehmen mit einer Vizepräsidentin oder einem Vizepräsidenten, die sich nach der Reihenfolge der Stärke der Fraktionen bestimmen, […] zulassen […].“

Dass mit Galau überhaupt ein AfD-Abgeordneter zum Vizepräsidenten des Landtags gewählt worden ist, geht auch auf eine Verfassungsreform zurück, die erst vor fünf Jahren verabschiedet worden ist. Bis dahin regelte die Verfassung des Landes Brandenburg (BbgLV) lediglich allgemein, dass der Landtag aus seiner Mitte einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten zu wählen hat. Seit 2015 bestimmt der maßgebende Art. 69 Abs. 1 BbgLV hingegen explizit, dass der stärksten Fraktion das Vorschlagsrecht für den Präsidenten, der zweitstärksten Fraktion das Vorschlagsrecht für den „ersten“ Vizepräsidenten und der drittstärksten Fraktion das Recht zur Aufstellung eines neugeschaffenen „zweiten“ Vizepräsidenten zusteht. Die damalige Reform sollte sicherstellen, dass die stärkste Oppositionspartei immer auch mindestens einen Vizepräsidenten stellt. Dass diese Regelung nur kurze Zeit später ausgerechnet der AfD als nunmehr zweitstärkster Fraktion zu Gute kommen würde, hatten die Mütter und Väter der Reform sicherlich nicht bedacht und führte bereits im Wahlkampf zu öffentlichen Diskussionen.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die aus sich heraus kaum verständliche Formulierung in Nr. 2 Satz 4 der Anlage zur Geschäftsordnung: Eine kurzfristige Änderung der Tagesordnung zur Aktuellen Stunde soll hiernach ermöglicht werden, wenn die Landtagspräsidentin und der „erste“ Vizepräsident ein entsprechendes Einvernehmen herstellen.

Intervention des Landesverfassungsgerichts

Gegen die Weigerung des Landtagsvizepräsidenten Galau ist die CDU-Fraktion umgehend vor das Brandenburgische Landesverfassungsgericht gezogen und hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Änderung der Tagesordnung begehrt. Der Antrag richtete sich zum einen gegen die Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke, die die Hanau-Debatte in der Sache gern angesetzt hätte, sich durch das Veto Galaus hieran aber gehindert sah. Als zweiten Antragsgegner benannte die CDU-Fraktion Galau selbst wegen der Verweigerung des Einvernehmens. Noch am 25.02.2020 erließ das Gericht die begehrte Anordnung gegenüber der Landtagspräsidentin. Zur Begründung führte es aus, dass der Präsidentin und dem „ersten“ Vizepräsidenten beim Einvernehmen über die kurzfristigen Änderungen der Aktuellen Stunde nur ein eingeschränktes Prüfungsrecht zustehe. Demnach dürften sie nur die formellen Voraussetzungen des Antrags und die tatsächliche Aktualität des geänderten Themas überprüfen. Da die besondere Aktualität der Hanau-Attentate nicht streitig sei und Art. 56 Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 67 Abs. 1 Satz 2 BbgLV den Abgeordneten Rederechte und den Fraktionen ein eigenes Mitwirkungsrecht an der parlamentarischen Willensbildung zugestehen, sei die einstweilige Anordnung gerechtfertigt. Soweit sich der Antrag gegen den Landtagsvizepräsidenten Galau richtete, hielt das Gericht ihn allerdings schon für unzulässig. Richtiger Antragsgegner sei das Organ, das „die beanstandete Maßnahme getroffen oder rechtlich zu vertreten hat“. Dies sei hier die Landtagspräsidentin Liedtke.

Diese letztgenannten Zulässigkeitserwägungen lassen durchaus Fragen offen. Immerhin bedeutet „Einvernehmen“ nach tradiertem Verständnis eine tatsächliche Zustimmung sowohl der Präsidentin als auch des Vizepräsidenten. Auch von einer Ersetzung des Einvernehmens spricht die Geschäftsordnung nicht. Dass hier also die Landtagspräsidentin, die ihrerseits der Änderung gegenüber offenstand, die beanstandete Maßnahme „rechtlich zu vertreten hat“, ist nicht unbedingt selbstverständlich. Die materiellen Erwägungen des Gerichts wiederum führen letztlich zum folgerichtigen Ergebnis, dass der Landtagsvizepräsident nicht nach seinem Gutdünken zur inhaltlichen Bewertung der zwischen den Fraktionen turnusmäßig aufgeteilten Debatteninhalte befinden kann.

Gleichzeitig wagt sich das Verfassungsgericht allerdings auch relativ weit ins Geschäftsordnungsrecht vor. Bei dem Organstreitverfahren, das hier in der Hauptsache einschlägig ist, sind nämlich gem. § 36 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) grundsätzlich nur verfassungsrechtliche Rechte rügefähig. Regelungen des Geschäftsordnungsrechts können nur mittelbar geltend gemacht werden, wenn sie gleichzeitig verfassungsrechtliche Rechtspositionen enthalten. Dass sich aus den relativ allgemein formulierten Artikeln der Landesverfassung zu den Abgeordneten- und Fraktionsrechten ein Recht auf kurzfristige Änderungen einzelner Aktueller Stunden herausdestillieren lässt, ist deswegen nicht unbedingt selbstverständlich.

Verfassungsprozessuale oder parlamentsinterne Lösung?

Zumindest in gewissem Maße hat die CDU-Fraktion also gepokert und schlussendlich gewonnen. Dabei stellt sich durchaus die Frage, ob das gerichtliche Vorgehen überhaupt zwingend notwendig war. Die Landtagspräsidentin sah scheinbar in der Verweigerung des Einvernehmens ein absolutes Hindernis für eine kurzfristige Änderung der Tagesordnung zur Aktuellen Stunde. Das wäre konsequent, wenn man die Regelungen der Anlage 3 zur GOLTBgb als abschließende Sonderregelung für einen solchen Eilfall betrachtet, die die allgemeinen Regelungen der GOLTBgb verdrängt.

Allerdings: Aus teleologischer Sicht spricht nichts dafür, dass durch diese Einvernehmenslösung das Präsidium bei den Entwürfen der Tagesordnung gleichsam entmachtet werden soll. Sie ermöglicht vielmehr, in eilbedürftigen Fällen den Entwurf der Tagesordnung ohne Einberufung des gesamten Präsidiums „auf dem kurzen Dienstweg“ zu ändern. Nach § 14 Abs. 1 GOLTBbg hätte die Landtagspräsidentin deshalb durchaus auch kurzfristig das Präsidium einberufen und den Tagesordnungsentwurf unabhängig vom Einvernehmen mit dem Landtagsvizepräsidenten Galau ändern lassen können. Auch hätte das Plenum selbst gemäß § 18 Abs. 4 GOLTBbg zu Beginn der Sitzung einen entsprechenden Tagesordnungsinhalt festsetzen können. Denn letzten Endes kann die Hoheit über die Tagesordnung nicht von einzelnen Personen abhängen, sondern liegt nach der Grundkonzeption der GOLTBbg in der Hand des Präsidiums und, mehr noch, des gesamten Plenums.

Ausblick

Der Landtag sollte den Vorfall zum Anlass nehmen, diese Rollenverteilung auch im parlamentsrechtlichen Arkanbereich der Aktuellen Stunde klarer zu regeln. Was bleibt, ist eine zu Recht anschwellende Kritik an der einseitig-parteiischen Amtsführung von Andreas Galau. Immerhin: Eine Handhabe zur Abwahl Galaus würde Art. 69 Abs. 2 BbgLV bieten, der explizit eine Entfernung aus dem Amt mit Zweidrittelmehrheit ermöglicht. Wenigstens diese Regelung lässt keine Auslegungsschwierigkeiten zu.

Freilich stünde auch bei der in einem solchen Fall anstehenden Wahl eines Nachfolgers gemäß Art. 69 Abs. 1 BbgLV das Vorschlagsrecht wiederum der AfD als zweitstärkster Fraktion zu. Die Prämisse dieser Vorschrift, dass alle im Parlament vertretenen politischen Kräfte harmonisch koexistieren, teilt die Brandenburger Verfassung mit anderen Regelungen im Bund und den übrigen Bundesländern. Dass sich diese Annahme spätestens seit Erstarken der AfD als bloße Wunschvorstellung entpuppt hat, dürfte auch in Zukunft für politische und verfassungsrechtliche Konflikte sorgen.


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