25 September 2015

Wenn das Kind im Brunnen liegt: Ex-post-facto-Kontrolle des Bundestags beim Einsatz bewaffneter Streitkräfte

Eine nachträgliche konstitutive Zustimmung des Parlaments zu einem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr ist nach Beendigung des Einsatzes verfassungsrechtlich nicht geboten – so das BVerfG in seinem Urteil vom 23.09.2015. Einerseits verdient seine Entscheidung Applaus: Das BVerfG präzisiert die Vorgaben, die es in vergangenen Urteilen (Out-of-Area-Einsätze/Luftraumüberwachung durch AWACS-Flugzeuge) aufstellte, und behält seine parlamentsfreundliche Tendenz bei: Die Bundeswehr ist ein „Parlamentsheer“. Andererseits schränkt es diese Wertung gerade dadurch ein, dass die Exekutive den Bundestag nach Beendigung eines Einsatzes nicht mehr zu befassen hat: Im Vorfeld und während eines Einsatzes ist das Parlament „Macher“, nach dessen Abschluss bloßer Informationsempfänger. Ein klarer Wertungswiderspruch.

Die Fakten

Gegenstand des von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angestrengten Organstreitverfahrens war das Unterlassen der Bundesregierung, für die Evakuierung deutscher Staatsangehöriger durch die Bundeswehr aus Nafurah in Libyen am 26. Februar 2011 nachträglich die Zustimmung des Bundestags einzuholen.

Hintergrund der Entscheidung war der Anfang 2011 eskalierte Konflikt zwischen der Regierung von Muammar al-Gaddafi und dessen Gegnern. Das Außen- und das Verteidigungsministerium trafen am 24. Februar 2011 mit Zustimmung der Bundeskanzlerin die Entscheidung, Mitarbeiter deutscher Firmen aus dem ostlibyschen Wüstenort Nafurah zu evakuieren. Bei der Evakuierung am Nachmittag des 26. Februar 2011 befanden sich erstmals bewaffnete Soldaten an Bord der beiden eingesetzten Transall C-160 ESS, welche mit passivem Selbstschutz gegen Radarerfassung und Flugabwehrraketen ausgerüstet war. In Nafurah wurden 132 Personen – unter diesen 22 Deutsche – an Bord genommen und nach Chania/Kreta ausgeflogen. Die Evakuierung verlief ohne Zwischenfälle. Umgehend nach Abschluss des Einsatzes verlangte die Fraktion der Bündnis 90/Die Grünen die Einholung eines nachträglichen parlamentarischen Mandats. Der Außenminister wehrte ab: Bei der Evakuierung habe es sich nicht um einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes (ParlBG) gehandelt, weil keine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Unternehmungen zu erwarten gewesen sei. Des Weiteren mache die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Auseinandersetzungen komme, den Parlamentsvorbehalt nicht einschlägig.

Und das BVerfG sprach…

Insbesondere vor dem Hintergrund dieser argumentativen Haltung des Außenministeriums ist das Urteil in seiner klarstellenden Funktion nicht zu unterschätzen.

Dass das Parlament bei der Entscheidung bewaffneter Einsätze deutscher Soldaten im Ausland zu beteiligen ist, steht spätestens seit dem Urteil des BVerfG zu Out-of-Area Operationen der Bundeswehr im Jahre 1994 höchstrichterlich fest (BVerfGE 90, 286 (382)): Die Bundeswehr ist ein „Parlamentsheer“, allerdings liegt das Initiativrecht im Hinblick auf ihre Entsendung bei der Exekutive. Auch im Libyen-Urteil bekräftigt das BVerfG den „Entscheidungsverbund“ von Exekutive und Parlament bei der Frage bewaffneter Einsätze jeglicher Art, unabhängig davon, ob sie in einem System kollektiver Sicherheit erfolgen oder außerhalb dessen (Rn. 70).

Seit 2005 spiegelt sich diese Rechtsprechungslinie im ParlBG wider. Nach dessen § 2 I liegt ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte vor, „wenn Soldatinnen oder Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist.“ Ausgenommen von der Zustimmungspflicht sind nach § 2 II 1 vorbereitende Maßnahmen und Planungen sowie “humanitäre Hilfsdienste und Hilfsleistungen der Streitkräfte, bei denen Waffen lediglich zum Zweck der Selbstverteidigung mitgeführt werden, wenn nicht zu erwarten ist, dass die Soldatinnen oder Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen werden.“

Dreh- und Angelpunkt einer konstitutiven parlamentarischen Beteiligung ist der Begriff des „bewaffneten Auslandseinsatzes“. Im Libyen-Urteil knüpft das BVerfG an parlamentsfreundliche Tendenz, die es bereits im AWACS-Urteil zur Luftraumüberwachung in der Türkei (BVerfGE 121, 135) an den Tag legte, an. In aller Deutlichkeit stellt es heraus, dass eine Parlamentsbeteiligung bei bewaffneten Auslandseinsätzen ein genuin verfassungsrechtliches Gebot sei und relativiert hierdurch die Bedeutung des ParlBG (Rn. 71). Solche liegen vor, wenn eine konkrete militärische Gefahrenlage besteht und zudem die „qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen“, die sich auf greifbare Tatsachen gründe, gegeben sei – unabhängig von jedweder Erheblichkeitsschwelle. Eine Auseinandersetzung müsse unmittelbar zu erwarten sein (Rn. 75). Als Indizien könnten dabei das Führen von Waffen im Ausland sowie die Ermächtigung zu ihrer Verwendung herangezogen werden (Rn. 72, 76). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab unterliege er vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit und eröffne keinen Beurteilungsspielraum der Exekutive. Die Exekutive wird hier in deutliche Schranken verwiesen. Die grundsätzliche Prärogative der Exekutive im außenpolitischen Bereich findet dort eine Grenze, wo es um bewaffnete Auslandseinsätze geht.

Evakuierung war „bewaffneter Einsatz“

Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf die in Frage stehende Evakuierung setzt das BVerfG den Gedankengang fort, den es bereits in seinem Urteil zu UN Blauhelm-Einsätzen entfaltete (vgl. BVerfGE 90, 286 (387 f.)): Damals betonte es, dass scheinbare „Friedenseinsätze“ – auch ohne robustes Mandat – sehr schnell in Kampfhandlungen umschlagen können. Im Fall der Evakuierung aus Libyen sei der Einsatz zwar mit dem ausdrücklichen Ziel angeordnet worden, Kampfhandlungen zu vermeiden. Richtigerweise stellt es jedoch fest, dass die Einsatzbefugnisse eine andere Sprache sprachen und auf eine Verwicklung in Kampfhandlungen ausgerichtet waren. Die zwölf Fallschirmjäger an Bord waren damit betraut, das Anbordgehen der zu Evakuierenden zu sichern, und führten gerade dazu Waffen mit. Sie waren befugt, Leib und Leben gefährdende Angriffe gegen die zu Evakuierenden sowie Angriffe gegen die Transportmaschinen mit militärischer Gewalt abzuwehren. Dabei sei – so das BVerfG – die „erweiterte Selbstverteidigung angesichts der nicht nur abstrakten militärischen Gefahrenlage vom Recht auf Überwindung gewaltsamen Widerstands gegen die Evakuierung mit militärischen Mitteln nicht schlüssig zu trennen“ gewesen (Rn. 113). Wenn man es auf eine Kurzformel bringen will: Befugnisse zur erweiterten Selbstverteidigung plus konkrete militärische Gefahrenlage lösen den parlamentarischen Parlamentsvorbehalt aus. Deuten die Befugnisse der eingesetzten Soldaten in Richtung einer möglichen Kampfhandlung und ist generell eine militärische Gefahrenlage gegeben, so kann die Bundesregierung nicht mehr argumentieren, sie habe nur Schutz- und Vorsorgevorkehrungen treffen wollen: ein Sieg für das Parlament.

Gefahr im Verzug?

Seit der Out-of-Area Entscheidung ist aber auch klar, dass in Fälle einer Gefahr im Verzug von einem ex ante Zustimmungserfordernis befreuen: Bei Gefahr im Verzug, deren Vorliegen voll gerichtlich überprüfbar sei (Rn. 92), könne die Bundesregierung einen Auslandseinsatz im Alleingang beschließen, müsse das Parlament jedoch umgehend unterrichten und den Antrag auf Zustimmung zum Einsatz unverzüglich nachholen. Lehnt der Bundestag den Antrag ab, sind die Soldaten zurückzurufen (siehe auch § 5 I, III ParlBG). Die Verweigerung einer Zustimmung wirkt also ex nunc und zwingt zur Beendigung des Einsatzes. Leide entgeht das Gericht der Notwendigkeit, auf die Voraussetzungen einer Gefahr im Verzug eingehen zu müssen, da deren Vorliegen zwischen den Beteiligten als gegeben betrachtet wurde. Sicherlich hätte man sich hier Klarstellung gewünscht. Es bleibt jedoch dabei: Auch während eines bereits begonnen bewaffneten Einsatzes deutscher Soldaten bleibt des Parlament stark.

Das Große „Aber“…

…kommt zum Schluss: Ist der Auslandseinsatz zum frühstmöglichen Zeitpunkt einer parlamentarischen Befassung bereits beendet, so sei für eine konstitutive Zustimmung kein Raum (4. Leitsatz). Eine nachträgliche Entscheidung des Bundestags könne die kompetenzielle Funktion des Parlamentsvorbehalts nicht mehr erfüllen (Rn. 99): Der Bundestag könne weder eine Nichtfortsetzung des Einsatzes noch eine Fortdauer noch eine Rückholung beschließen. Hier stellt sich das BVerfG gegen ein Gros an Literaturstimmen, die zwar eingestehen, dass eine „Zustimmung“ oder „Verweigerung der Zustimmung“ nicht im engeren Sinne rechtserheblich sind, aber der Bundestag dennoch zu befassen sei (Rn. 99).

Und hierfür sprechen starke Gründe: Natürlich ist bereits das Kind in den Brunnen gefallen. Aber eine Auseinandersetzung zur Frage des beendeten Einsatzes im Bundestag und eine nachträgliche Nichtzustimmung sind doch gerade Instrumente, um die Exekutive parlamentarisch zur Rechenschaft zu ziehen. Das BVerfG selbst gesteht dem Bundestag Kontrollbefugnisse in der ex post facto Phase ein, behauptet aber, für die Ausübung dieser reiche bereits eine bloße qualifizierte Unterrichtung des Parlaments über die Einzelheiten des Einsatzes. Das BVerfG verweist darauf, es sei seine und nicht die Aufgabe des Parlaments über die Rechtmäßigkeit exekutiven Handelns verbindlich zu urteilen (Rn. 99).

Dies verwundert: Es geht bei einer parlamentarischen ex post Zustimmung ja gerade nicht um eine Beurteilung der Rechtmäßigkeit, sondern die Beurteilung der politischen Opportunität des Einsatzes aus Sicht des mitentscheidungsbefugten Organs. Richtig ist, dass der Bundestag jederzeit, nachdem er über die Einzelheiten des Einsatzes informiert wurde, einen einfachen Missbilligungsbeschluss treffen kann (Rn. 101). Aber: Ist der Parlamentsvorbehalt höherrangig zum Recht der Exekutive zur vorläufigen Alleinentscheidung bei Gefahr im Verzug einzuordnen – so das BVerfG selbst (Rn. 88) –, sollte die Exekutive kraft Verfassungsrecht gezwungen sein, sich dem Parlament zu stellen. Denn wenn auch eine nachträgliche Verweigerung einer Zustimmung die Rechtmäßigkeit des Auslandseinsatzes nicht beseitigt, so macht sie einen entgegenstehenden Willen des mitentscheidungsberechtigten Parlaments deutlich, hat insofern höchste politische Relevanz und Präzedenzwirkung und bekräftigt seine primäre Entscheidungshoheit. Auch nach Beendigung eines bewaffneten Einsatzes sollte es dabei bleiben: Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer…


One Comment

  1. Marc B Fri 25 Sep 2015 at 12:53 - Reply

    Wenn der BT das Urteil und die damit verbundene Wertung nicht akzeptieren will, kann er ja einfach das Gesetz ändern, so dass künftig auch bei bereits abgeschlossenen bewaffneten Einsätzen eine nachträgliche Zustimmung des BT einzuholen ist. Das Urteil verbietet eine solche Regelung ja nicht, es besagt nur, dass sie der derzeitigen Gesetzes- und Verfassungslage nicht zu entnehmen sei.

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