11 January 2022

Wer Whistleblower nicht schützt, muss haften

Die Whistleblower-Richtlinie wirkt nun unmittelbar und begründet Haftungsansprüche gegen die Bundesrepublik

Whistleblower in Deutschland haben es schwer. Bis zum 17. Dezember 2021 hätte der Bundesgesetzgeber Zeit gehabt, die „Whistleblower-Richtlinie“ in nationales Recht umzusetzen. Da er diese Frist untätig hat verstreichen lassen, entfaltet die EU-Richtlinie ihre Wirkung nun unmittelbar. Sie schützt Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden und kann zu weitreichenden Haftungsansprüchen gegenüber der Bundesrepublik führen.

Bruch mit einem halben Jahrhundert deutschem Richterrecht

Mit den neuen Regelungen der Whistleblower-Richtlinie findet eine jahrzehntealte Verfassungsgerichtsrechtsprechung zumindest teilweise ihr Ende. 1970 hatte das Bundesverfassungsgericht im Fall „Pätsch“ entschieden, dass eine Person erst alle internen Meldemöglichkeiten ausschöpfen muss, bevor sie die Rechtsverstöße öffentlich machen kann. Ist der Fall „Pätsch“ heute nur noch Insidern bekannt, erfuhren zuletzt prominente Whistleblower wie Julian Assange, Edward Snowden und Chelsea Manning breite öffentliche Aufmerksamkeit. Vor allem haben sie veranschaulicht, dass der selbstlose Einsatz für das Recht oft mit harten persönlichen Konsequenzen verbunden ist – im Fall von Chelsea Manning mit einer Verurteilung zu 35 Jahren Haft, die sich allerdings Dank der Begnadigung Obamas auf sieben Jahre verkürzte. In weniger spektakulären Fällen drohte immerhin die Kündigung des Arbeitsverhältnisses, so etwa im Fall von Brigitte Heinisch, die bereits im Jahr 2003 auf den Pflegekräftemangel und die daraus folgenden Missstände aufmerksam gemacht hatte. Dem Dienst an der Gesellschaft und am Recht wird eine solche Behandlung von Whistleblowern nicht gerecht. Im Gegenteil: Sie entmutigt den Staatsbürger, die Augen der Öffentlichkeit dort hinzulenken, wo Strafverfolgungs- und Ordnungsbehörden keine Augen haben.

Verwässerter Schutz – und trotzdem keine Umsetzung

Dieses Problem stellt sich insbesondere den EU-Behörden, die jenseits des Kartell- und Beihilfenrechts sowie des Vermögens- und Korruptionsschutzes kaum über eigene Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung verfügen. Aus diesem Grund initiierte die EU-Kommission die Richtlinie 2019/1937, um die jedoch schwer gerungen wurde und die nur in verwässerter Form in Kraft treten konnte. Insbesondere die über den Rat vertretenen Mitgliedstaaten trachteten danach, bestimmte Aspekte vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen. Schweden und Portugal befürchteten beispielsweise eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips.

Der Rat nahm die Bedenken der Mitgliedstaaten auf, indem er zahlreiche Bereichsausnahmen schuf, etwa für den Schutz der anwaltlichen und ärztlichen Verschwiegenheitspflichten, das richterliche Beratungsgeheimnis und das Strafprozessrecht. Was jedoch konkret unter der Bereichsausnahme der nationalen Sicherheit zu verstehen ist, ist kaum zu erkennen. Auch der Schutz von Verschlusssachen wurde aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeklammert. Die deutschen Vorgaben des § 4 SÜG und der Verschlusssachenanweisung sind äußerst mager und lassen den Behörden einen weiten Beurteilungsspielraum, welche Informationen mit welchem Geheimhaltungsgrad versehen werden sollen. Dass Begriffe wie „Verschlusssache“ oder „Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen“ in die Richtlinie aufgenommen wurden, erlaubt es dem EuGH jedoch nun, diese Bereichsausnahmen autonom unionsrechtlich auszulegen und so einer Umgehung der Richtlinie durch ein ausuferndes Verschlusssachenregime zu begegnen. Im Sinne des effet utile ist auf eine solch enge Auslegung durch den EuGH zu hoffen.

Das Bestreben einiger Mitgliedstaaten, im Sinne der „Pätsch“-Rechtsprechung internen Meldekanälen einen Vorrang einzuräumen, setzte sich hingegen nicht durch. Externe Meldekanäle sind diesen gegenüber nahezu gleichberechtigt. Lediglich eine dreimonatige Wartefrist, bevor der Whistleblower die Medienöffentlichkeit aufsuchen darf, ist als Kompromiss übriggeblieben. Und Art. 7 Abs. 2 RL räumt den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einen Spielraum ein, interne Meldekanäle gegenüber externen Meldekanälen zu bevorzugen, wenn intern wirksam gegen den Verstoß vorgegangen werden kann und der Hinweisgeber keine Repressalien befürchten muss. Damit geht die Verpflichtung einher, effektive und vertrauliche interne Meldekanäle einzurichten. Aufgrund dieser Stärkung nationaler Befugnisse gegenüber dem Vorentwurf fand die Richtlinie im Rat überwältigende Zustimmung. Lediglich die Vertreter Deutschlands und Großbritanniens stimmten nicht dafür.

Die Verweigerungshaltung Deutschlands setzte sich bei der Umsetzung fort. Zwar hatte das Bundesjustizministerium Ende 2020 einen Referentenentwurf für ein sogenanntes Hinweisgeberschutzgesetz vorgelegt, der scheiterte jedoch am Widerstand von CDU/CSU, die einen zu großen Bürokratieaufwand für die Unternehmen befürchteten. Der Referentenentwurf sah einen weitergehenden Whistleblowerschutz vor als von der EU gefordert: Das Gesetz sollte Hinweisgeber nicht nur dann schützen, wenn sie Verstöße gegen EU-Recht, sondern auch gegen Bundes- oder Landesgesetze aufdecken. Wohl wissend, dass der Ablauf der Umsetzungsfrist in den Verantwortungsbereich einer neuen Regierung fallen würde, blieb das Projekt auf Eis liegen.

Die Kommission hätte nun grundsätzlich die Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten, das Strafzahlungen zur Folge hätte. Da solche Verfahren allerdings sehr langwierig sind, dürfte die neue deutsche Regierungskoalition dessen Abschluss durch ein Hinweisgeberschutzgesetz zuvorkommen. Ob dies auch für andere Mitgliedstaaten gilt, ist fraglich, denn europaweit wurden erst sieben entsprechende Umsetzungsgesetze erlassen. Diese Zählung der EU berücksichtigt indes nicht, dass einige Staaten wie Irland, schon lange vor Inkrafttreten der Richtlinie über eigene, teils lediglich geringfügig anpassungsbedürftige Whistleblowerschutzgesetze verfügten.

Unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie – Deutschland haftet

In der Zwischenzeit sind Whistleblower keineswegs schutzlos, denn der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung bekräftigt, dass EU-Richtlinien bei mangelhafter Umsetzung unmittelbar anwendbar sein können. Die hierfür entwickelten Kriterien erfüllt die Whistleblower-Richtlinie überwiegend: Die Richtlinie ist inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt. Sie bestimmt in Art. 4 die Anspruchsinhaber unter anderem als Arbeitnehmer und Beamte (sogar vor und nach dem Arbeitsverhältnis), Selbstständige, Anteilseigner sowie Freiwillige und Praktikanten. Anspruchsberechtigt sind auch Mittler und Dritte, die mit den Hinweisgebern in Verbindung stehen und in einem beruflichen Kontext Repressalien erleiden könnten, wie Kollegen oder Verwandte des Hinweisgebers, und sogar juristische Personen, die im Eigentum des Hinweisgebers oder mit ihm in Verbindung stehen.

In inhaltlicher Hinsicht benennt die Richtlinie zahlreiche konkrete staatliche Handlungs- und Unterlassungspflichten, etwa indem sie von den Mitgliedstaaten verlangt, angemessene und insbesondere vertrauliche interne und externe Meldekanäle einzurichten. Dazu sind zum Beispiel externe Behörden zu benennen, die befugt sind, Rechtsverstoßmeldungen entgegenzunehmen, etwa Staatanwaltschaft oder Polizei. Intern und extern hat der Whistleblower einen Anspruch auf Eingangsbestätigung und Rückmeldung nach drei, beziehungsweise in begründeten Fällen nach sechs Monaten.

Wahrhaft neu und revolutionär an der Richtlinie ist das Recht zur Offenlegung nach Art. 15. Danach kann sich der Hinweisgeber unter bestimmten Voraussetzungen direkt an die Öffentlichkeit oder die Medien wenden, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Nach wie vor ist es in der Regel geboten, vor der Information von Medienvertretern zunächst die internen Vorgesetzten oder zuständigen Behörden – etwa die Staatsanwaltschaft – zu informieren. Bleiben diese Stellen jedoch untätig, ist nach spätestens drei Monaten und sieben Tagen, in begründeten Fällen nach sechs Monaten, eine Offenlegung gestattet. Wenn der zu rügende Rechtsverstoß das öffentliche Interesse unmittelbar oder offenkundig gefährden kann, oder der Whistleblower im Falle einer externen Meldung Repressalien befürchten muss, kann dies sogar eine sofortige Beteiligung der Medien ohne vorherige interne oder externe Meldung rechtfertigen. Dasselbe gilt für die begründete Annahme, dass Beweismittel unterdrückt oder vernichtet werden oder die Behörde am Rechtsverstoß beteiligt sein könnte. Auf die Einhaltung des in Art. 19 der Richtlinie verankerten Repressalienverbots besteht ein subjektiver Anspruch – zumindest gegenüber dem Staat.

Denn der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht umgesetzter Richtlinien steht unter einer wesentlichen Einschränkung: Er gilt nicht gegenüber Privaten. In diesem Fall wandelt sich das Repressalienverbot in einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch (Francovich) gegen den umsetzungssäumigen Staat. Die Voraussetzungen, die der EuGH in seiner Factortame III – Brasserie de Pêcheur-Rechtsprechung konkretisiert hat, liegen vor – insbesondere ein „hinreichend qualifizierter Verstoß“, da die Bundesrepublik nicht nur unzureichend umgesetzt hat, sondern trotz Kenntnis der Umsetzungsfrist gar nicht tätig geworden ist.

Für Whistleblower in Deutschland, die das durch die Richtlinie vorgegebene Meldungs- und Offenlegeverfahren einhalten, ergeben sich daraus weitreichende Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik: auf Lohnersatz bei Kündigung, Schmerzensgeld bei Mobbing, Gehaltseinbußen wegen schlechter Zeugnisse, sogar auf Ersatz ärztlicher und psychiatrischer Heilbehandlungskosten. Um diesen Ansprüchen aus dem Weg zu gehen, sollte der Bundesgesetzgeber die Whistleblower-Richtlinie schnellstmöglich umsetzen. Die neue Regierungskoalition hat immerhin in ihrem Koalitionsvertrag die Absicht bekundet, die EU-Whistleblower-Richtlinie rechtssicher und praktikabel umzusetzen. Sie dürfte vermutlich sogar über das von der EU geforderte Maß hinausgehen, indem nicht nur die Meldung von Verstößen gegen Unionsrecht geschützt wird, sondern jegliches „erhebliches Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt“. Damit würde der Gesetzgeber auch den schon frühzeitig im Verfassungsblog formulierten Forderungen aus der Rechtswissenschaft Rechnung tragen – und es Whistleblowern noch ein wenig leichter machen, die Öffentlichkeit auf Missstände hinzuweisen.


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