08 May 2020

Wir Super-Europäer

Im Sommer 2009 produzierte ich für den Deutschlandfunk ein kleines Radiofeature unter dem Titel “Droht der ,Krieg der Richter’?” Es ging um das Lissabon-Urteil, es ging um Ultra-Vires- und Identitätskontrolle und um die bange Frage, ob und welchen Gebrauch Karlsruhe von diesen Instrumenten fortan machen würde. Ach, so sagten damals viele, ein “Krieg der Richter”, das ist doch maßlos übertrieben. Wird nie stattfinden. Ein kalter Krieg höchstens, in dem man sich in vorsichtiger Distanz das Arsenal zur mutually assured destruction zeigt, auf dass es niemals zur Anwendung kommen muss. Aber dass Karlsruhe jemals Ernst machen und auf den roten Knopf drücken und die Bundesrepublik verfassungsrechtlich zum Bruch von Europarecht verpflichten würde – das hielten die meisten für Science Fiction.

Tja.

Es kam die Finanz-, es kam die Eurokrise, es kam die große deutsche Entrüstung darüber, dass uns Exportweltmeistern mit einmal zugemutet werden sollte, um der Finanznöte irgendwelcher mediterranen Spaßvögel willen Haushaltsrisiken von schwer absehbaren Ausmaßen auf uns zu nehmen. Es kam die Troika, es kam die AfD, es kam die Zeit der vielen hübschen jungen Spanier_innen in Berlin, die uns für wenig Geld und in charmant gebrochenem Deutsch unseren Latte Macchiato servierten. Es kamen die schlimmen Nachrichten aus Ungarn, dann aus Polen, wo unsere deutschen Global Champions ihre Fabriken stehen haben zur Mehrung unseres super-europäischen Wohlstandes und im besten Einvernehmen mit den dortigen Machthabern. Es kam die Erkenntnis, welchen Dreck sich besagte Machthaber um das Europarecht scheren, wenn es von ihnen verlangt, auch nur einem einzigen syrischen Flüchtling menschenwürdigen Schutz zu gewähren. Es kam der Zusammenbruch des europäischen Migrations- und Grenzregimes.

Und immer waren wir Deutschen in der Mitte, weit weg von den Problemen, tüchtig, reich und selbstzufrieden. Wir Super-Europäer. Leitstern und Augentrost des gesamten, in Rechtspopulismus, Verantwortungslosigkeit und Misstrauen versinkenden Kontinents, der neid- und hoffnungsvoll auf uns blickt, die wir alles richtig machen und ein Grundgesetz haben und einen Haushaltsüberschuss und eine Menschenwürde und sie nicht, die Ärmsten. So sähen wir uns gerne am 75. Jahrestag der NS-Kapitulation. Herren Europas, aber in a good way diesmal. Aus der Geschichte gelernt, aber sowas von, da nickt sogar der Pleitegrieche respektvoll mit dem Kopf.

Tja.

Die ganze Zeit über hatte das Bundesverfassungsgericht kunstvoll in der Schwebe gehalten, was denn nun Phase ist zwischen ihm und dem EuGH. Hatte die Europarechtsfreundlichkeit zum Verfassungsgrundsatz erhoben. Hatte die Ultra-Vires-Kontrolle auf offensichtliche Fälle beschränkt. Hatte zuletzt sogar selbst den EuGH angerufen. Hatte eine juristische Gelehrtenrepublik namens “Verfassungsgerichtsverbund” gegründet, in der die Weisen der europäischen Verfassungsjurisprudenz in gelehrtem Disput durch die Wandelhallen schreiten und in Rede und Gegenrede klären, was Recht und was Unrecht ist in Europa.

Tanzschritte

In der Karlsruher Binnenwahrnehmung scheint auch das Urteil vom letzten Dienstag nicht viel mehr als ein Denkanstoß in diesem Disput zu sein, etwas robuster formuliert als gewohnt, aber was will man machen, wenn der Gesprächspartner in Luxemburg seinen Irrtum partout nicht einsehen will. Ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung, der sich meiner Vermutung nach wohl die Rechtslage – man kennt sich in München – von einem intimen Kenner der Karlsruher Gedankenführung hatte erklären lassen, wollte in dieser Woche diesen Disput als “Tanz der Gerichte” auf den Begriff bringen: Ach was, kein Konflikt sei das, sondern ein “Geschäft auf Augenhöhe” zwischen zwei Gerichten, die miteinander aushandeln, wo die jeweiligen Kompetenzen und Kontrollbefugnisse anfangen und enden. Und wenn Polen und Ungarn jetzt glauben, sich unter Berufung auf dieses Urteil aus der Rechtsgemeinschaft verabschieden zu können, dann müsse man “ihnen die Schrittfolge in dem komplexen Tanz zwischen dem deutschen und dem europäischen Höchstgericht einbläuen”.

Was für ein hübsches Sprachbild: Man sieht ihn förmlich vor sich, den deutschen Tanzmeister, wie er grazil den osteuropäischen Bauerntrampeln vorhopst, wie man am Hofe zu Karlsruhe die Quadrille tanzt. Man kriegt regelrecht Mitleid. Kinder in dem Alter können so grausam sein.

Machen wir uns mal klar, wie die Welt des Jahres 2020 außerhalb der Tanzschule ausschaut. Die Vorstellung, dass die Unterwerfung der Macht unter das von den zuständigen Gerichten ausgelegte Recht die von Ausnahmen bestätigte Regel ist – auch Herrschaft des Rechts genannt – verkehrt sich gerade weiträumig in ihr Gegenteil, nicht nur, aber jedenfalls auch in Europa. Die Ausnahmen nehmen überhand und bestätigen überhaupt nichts mehr. Das europäische Asylrecht ist nur das eklatanteste Beispiel dafür. Und glaube niemand, dies sei nicht längst auch ein innerdeutsches Phänomen.

In dieser Situation schlägt sich das Bundesverfassungsgericht – das Bundesverfassungsgericht! – auf die Seite derer, die sagen: Von den zuständigen Richtern lassen wir uns nichts sagen. Es hatte dem EuGH Vorlagefragen gestellt, darauf eine Antwort bekommen, und jetzt sagt es unter allerlei Tanzgetrippel: Nö, wir erlauben uns das weiterhin anders zu sehen. Und wozu? Um zu erreichen, dass die EZB bei dem, was sie ohnehin tut, besser erklärt, warum sie es auch mit Blick auf die wirtschaftspolitischen Umverteilungsfolgen für das geldpolitisch Gebotene hält. So viel zum Thema Verhältnismäßigkeit.

Am Dienstag, als das Urteil erging, überwog in meinen Kreisen eine Emotion alle anderen: Trauer. Da ist etwas kaputt und zu Ende gegangen.

Was? Die Eurozone? Die Rechtsgemeinschaft? Die Einflussposition des BVerfG? Der souveränistische Strang der deutschen Staatsrechtslehre? Das wird die Zeit entscheiden.

Meine Prognose: Ihr Urteil wird kein gnädiges sein.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Auf dem Verfassungsblog hatten wir unterdessen mal wieder eine ziemlich wahnsinnige Woche. Deshalb meine emphatisch vorgebrachte Bitte: Werden Sie bitte Unterstützer_in des Verfassungsblogs auf Steady! Wir brauchen das Geld. Und wenn Sie sich nicht regelmäßig committen wollen, bitte überweisen Sie uns einen angemessenen Betrag auf paypal@verfassungsblog.de oder IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03, BIC PBNKDEFF. Vielen Dank!

Lennart Kokott hat zu meiner großen Erleichterung diese ereignis- und beitragsreiche Woche für dieses Editorial zusammengefasst, ein großer Dank an ihn!

Vom Blatt kommt ALEXANDER THIELE zu dem Schluss, dass das Ultra-vires-Verdikt des BVerfG ohne Not die Büchse der Pandora für andere Verfassungsgerichte öffnet, die im europäischen Rechtsprechungsverbund kaum wieder zu schließen sein wird. Über das Urteil und unmittelbare Reaktionen darauf spricht er auch im Podcast #21. Mehr Sensibilität für die eigene Signalwirkung bei der Kritik am EuGH hätten MATTHIAS KOTTMANN und ROYA SANGI erwartet, die im Urteil zudem einen währungspolitischen Tabubruch angelegt sehen. MIGUEL POIARES MADURO weist auf die argumentative Inkonsistenz des Gerichts hin und warnt, dass die Maßstäbe des BVerfG für die Auslegung von Art. 123 AEUV mit Blick auf das neue Anleihekaufprogramm in der Corona-Krise besonders folgenreich werden könnten. Es zeige sich, dass das Gericht die Welt und seine Rolle darin nicht mehr verstehe, schreibt BERNHARD WEGENER, den das Urteil darum traurig stimmt. Das BVerfG könnte mit dieser Entscheidung seine Zuständigkeit überschritten und mithin selbst ultra vires gehandelt haben, meinen ALEXANDER BRADE UND MARKUS GENTZSCH in ihrer Untersuchung des Urteils und seiner Vorgeschichte.

ARMIN STEINBACH hingegen nimmt das BVerfG in Schutz und fordert zur Stabilisierung ausgedünnter Legitimationsstränge eine prozedurale Einhegung der Zentralbank. Ähnlich sieht es MATEJ AVBELJ, der das Urteil als Ausdruck eines konstitutionellen Pluralismus begreift und die Chance erkennt, davon ausgehend an der demokratischen Grundierung der europäischen Fiskalunion zu arbeiten.

ANDREJ LANG ordnet das Urteil in den fortwährenden Dialog von BVerfG und EuGH über das Anleihekaufprogramm ein, der zum schweren Konflikt geworden sei, und konstatiert, dass beide Gerichte dafür einen hohen legitimatorischen Preis zahlen könnten. FRANZ C. MAYER hält das Urteil für enttäuschend und sieht das BVerfG in der Auseinandersetzung mit dem EuGH auf einem profunden Irrweg, der zu einem Vertragsverletzungsverfahren führen müsse, um nicht in der Entstehung eines Faustrechts im europäischen Rechtsprechungsverbund zu münden. MICHAEL WILKINSON blickt auf das Urteil in seinem souveränitätspolitischen Kontext, verknüpft es mit dem gegenwärtigen Zustand der europäischen Integration und attestiert der Union, in einem schwerwiegenden Dilemma zu stecken.

In den Reaktionen auf die Entscheidung des BVerfG findet sich immer wieder der Verweis auf die fatalen Auswirkungen, die es auf den Rechtsstaatsdiskurs in der EU haben könnte. Natürlich bleiben Ungarn und Polen dabei die prominentesten Beispiele. Dort verschärft sich die Krise der Rechtsstaatlichkeit fortwährend: VIKTOR Z. KAZAI befasst sich mit ihren ökonomischen Aspekten in Ungarn, wo sich Investor*innen von rechtsstaatlichen Bedenken unbeeindruckt zeigen. Die ökonomische Analyse decke wirtschaftliche Abhängigkeiten auf – deren Kenntnis auch einen Wert für den verfassungsrechtlichen Diskurs habe. In Polen wiederum lenkte die PiS erst wenige Tage vor der für diesen Sonntag angesetzten Präsidentschaftswahl ein und stimmte einer Verschiebung der Wahlen zu. In scharfen Worten kritisiert MARTIN MATCZAK das Gebaren der Regierungspartei und stellt fest, die moralisch wie verfassungsrechtlich unhaltbare Durchführung der Wahl hätte die Legitimation des Wahlsiegers schwer beschädigt. Die Belastungen der anhaltenden Rechtsstaatskrise bekommen viele Menschen täglich zu spüren. TOMASZ TADEUSZ KONCEWICZ legt dar, welchen juristischen Ethos es in der „konstitutionellen Pandemie“ braucht und gibt einen Einblick in seine Familiengeschichte, die ihn zu einer emphatischen Verteidigung demokratischer Werte in der Verfassungsordnung motiviere.

Auch in Brasilien zeigt die Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro seit geraumer Zeit autoritäre Tendenzen. DOUGLAS CARVALHO RIBEIRO ordnet die Krise ein, in die der Rücktritt des Justizministers die Regierung stürzte, blickt auf die politische Perspektive des Landes und fürchtet, dass auch ein Amtsenthebungsverfahren nicht für eine Stabilisierung der Verhältnisse sorgen würde.

Mit der Entscheidung des EGMR, die EMRK nicht auf Visumsverfahren anzuwenden, befasst sich ADEL-NAIM REYHANI, der darin einen weiteren Beleg für den systematischen Ausschluss von Geflüchteten aus der internationalen Rechtsordnung sieht und feststellt, dass wir über die Universalität der Menschenrechte sprechen müssen.

Abseits des Ultra-vires-Urteils weisen INDRA SPIECKER GENANNT DÖHMANN und SEBASTIAN BRETTSCHNEIDER auf eine weitere folgenreiche Entscheidung des BVerfG hin: In einem Beschluss zum Digitale-Versorgung-Gesetz entlaste es den Gesetzgeber im einstweiligen Rechtsschutz von erheblichem Argumentationsaufwand in einer Weise, die die Erfolgsaussicht des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem BVerfG erheblich senke – und erschüttere zudem das Datenschutzrecht und den Grundrechtsschutz in der Digitalisierung  in seinen Grundfesten.

In einer Woche, in der sich ein Koalitionsstreit über die Verteidigungspolitik abzeichnet, arbeitet ANDREAS SCHÜLLER auch mit Blick auf den Koalitionsvertrag die Völkerrechtsauffassung der Bundesregierung hinsichtlich des Einsatzes von bewaffneten Drohnen heraus und warnt davor, dass unlängst geleaste bewaffnungsfähige Drohnen der Bundeswehr bei Einsätzen anhand dieses Maßstabs zu Werkzeugen für den Völkerrechtsbruch werden könnten.

Auch die Corona-Pandemie wirft weiterhin verfassungsrechtliche Fragen en masse auf. HEIKO SAUER schaut am Beispiel Nordrhein-Westfalens auf die Wiederaufnahme des Schulbetriebs und untersucht, ob die allgemeine Schulpflicht angesichts der damit verbundenen Gesundheitsgefahren einer Relativierung bedarf. Apropos Lockerungen nimmt ANIKA KLAFKI die Debatte um einen Immunitätsausweis in den Blick und diskutiert, ob er möglicherweise verfassungsrechtlich geboten ist ebenso wie Schwachstellen des entsprechenden Gesetzentwurfs. Mehr dazu gibt es von ihr in Ausgabe #20 unseres Podcasts. Nach Lockerungen dürften sich auch jene sehnen, deren Partner*in im Ausland lebt. Dass das Einreiseverbot für Lebenspartner*innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit verfassungsrechtlich überhaupt aufrecht zu erhalten ist, bezweifelt JULIA WEITENSTEINER. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Corona-Maßnahmen allerdings bergen mitunter ihre eigenen Probleme: Mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu Maßnahmen der Pandemiebekämpfung befasst sich MARTIN HEUSER und weist auf methodische Unzulänglichkeiten hin. Eine Stimme aus der Justiz ist im Podcast-Interview mit THOMAS SMOLLICH zu hören. Der Präsident des niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts und des Staatsgerichtshofs von Niedersachsen spricht über die Arbeit der Gerichte in der Pandemie, aber auch über den Umstand, dass es in Niedersachsen keine Verfassungsbeschwerde gibt.

ALEXANDER SOMEK widmet sich der neuen Normalität in der Pandemie. Er zeigt auf, welcher Einsichten der normative Umgang mit einem aus den Fugen geratenen lebensweltlichen Hintergrund bedarf und wie der für eine produktive Verarbeitung notwendige Spagat zwischen Erinnerung und Hoffnung gelingen könnte.

In unserem Symposium Covid-19 and States of Emergency zu internationalen Antworten auf die Pandemie berichtet ALEKSEJS DIMITROVS von der schnellen Reaktion in Lettland. KRISTIAN CEDERVALL LAUTA warnt vor falschen Schlüssen aus der gelungenen Antwort Dänemarks. Aus Malta berichtet VINCENT A. DE GAETANO, RIDWANUL HOQUE blickt kritisch auf die Lage in Bangladesch, die chaotisch und in einem unklaren rechtlichen Rahmen verlaufe. Die schwedische Strategie stellen IAIN CAMERON und ANNA JONSSON-CORNELL vor. NIALL COGHLAN analysiert, in welchem Ausmaß Staaten internationale Menschenrechtsverträge unter Bezug auf Maßnahmen gegen die Pandemie derogieren, bereitet verschiedene Dimensionen graphisch auf und zieht Schlüsse für die internationalen Menschenrechtsregime.

In der nächsten Woche probieren wir etwas Neues aus: eine Diskussionsveranstaltung zum Thema COVID-19, organisiert von Pierre Thielbörger und seinem ehrwürdigen Bochumer IFHV, coronabedingt im zeitgenössischen Zoom-Format, live gestreamt auf dem Verfassungsblog und mit, wie ich finde, außergewöhnlich attraktiver Besetzung. Am Dienstag nachmittag um 16 Uhr geht es los mit einem Podium zu den deutschen Infektionsschutzmaßnahmen und ihrer Rechtmäßigkeit, zusammengesetzt aus SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER, CHRISTOPH MÖLLERS, PIERRE THIELBÖRGER und BENEDIKT BEHLERT, ANIKA KLAFKI und ANDREA RÖMMELE, moderiert von your’s truly. An den beiden folgenden Dienstagen folgen weitere, ebenfalls sehr spannend besetzte Panels. Details dazu hier. Stay tuned!

Alles Gute, Ihr

Max Steinbeis


5 Comments

  1. Maria Müller Fri 8 May 2020 at 22:55 - Reply

    Lieber Herr Steinbeis,

    der Vergleich der BVerfG-Rechtsprechung mit der polnisch-nationalistischen Argumentation verkennt ganz fundamental: das BVerfG möchte MEHR und NICHT weniger EuGH. Der Zweite Senat sah sich hierzu genötigt, weil der EuGH sich auf den Dialog nicht einlässt und v.a. seine Funktion als Staatsorganisationsgericht, Kompetenzen ernsthaft zu kontrollieren, fundamental verfehlt.

    Das ist ein pro-europäisches Urteil.

    So viele Kommentatoren hier auf dem Verfassungsblog sind extrem kurzsichtig.

    • Kaffeesatzleser Sat 9 May 2020 at 12:35 - Reply

      Diese Vorstellung, das Urteil sei eigentlich eine Art von ‘tough love’ ist wirklich neben der Sache. Das Urteil hat das Potential, die EU zu zerstören, die Rechtsgemeinschaft aufzulösen. Es ist ein Akt des reinen Nationalismus und der reinen Machtausübung. Man lese die Interviews von Peter Huber zur EU. Da geht es nicht um das GG, da geht es darum, die EU zu zerstören – und wenn dafür die Verfassung gebeugt werden muss.

  2. Weichtier Fri 8 May 2020 at 23:58 - Reply

    MS: „Es kam die Finanz-, es kam die Eurokrise, es kam die große deutsche Entrüstung darüber, dass uns Exportweltmeistern mit einmal zugemutet werden sollte, um der Finanznöte irgendwelcher mediterranen Spaßvögel willen Haushaltsrisiken von schwer absehbaren Ausmaßen auf uns zu nehmen.“

    Hierzu: https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52842/aussenhandel
    „Im Jahr 2008 konnte Deutschland seinen Titel als “Exportweltmeister” noch knapp gegen China verteidigen – sechsmal in Folge exportierte Deutschland mehr Waren als jedes andere Land. 2009 wurde Deutschland jedoch klar von China abgelöst. Nach Angaben der UNCTAD konnte China seinen Vorsprung gegenüber Deutschland im Jahr 2017 auf rund 815 Milliarden US-Dollar vergrößern. Zudem lagen in den Jahren 2010 bis 2017 auch die USA wieder vor Deutschland.“
    Als vielen hübschen jungen Spanier_innen in Berlin den atte Macchiato servierten war nix mehr mit Exportweltmeister.

    Der Hinweis auf den Status eines Exportweltmeisters war für MS bereits 2012 in https://staging.verfassungsblog.de/deutschland-ist-mitnichten-verfassungsexportweltmeister/ wichtig: „Wir Deutschen rühmen uns ja gern, Exportweltmeister zu sein.“ Ich für meinen Teil habe mich nicht gerühmt Exportweltmeister zu sein. Für MS scheint der Status eines Exportweltmeisters aber wirklich wichtig in Hinblick auf das Verfassungsrecht zu sein.

  3. Norbert Dittrich Sat 9 May 2020 at 18:10 - Reply

    Das Wort “Europafreundlichkeit” steht nicht im Grundgesetz.
    Und Fiskalpolitik ist in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Kein aquis comunautaire. Steuerpolitik ist Teil der Fiskalpolitik. Umverteilung geht regelbasiert über die nationale Steuer~und Haushaltspoltik.Haushalspolitik ist verfassungsrechtlich tief verankert. No taxation without representation.
    Geldpolitik ist Aufgabe des ESZB~DIE EZB UND ALLE 19 NATIONALEN Zentralbanken, die Teil davon sind.Nicht die 26 Mitgliedsstaaten. Dass Geldpolitik in der makroökonomischen Dynamik auch Nebenwirkungen auf Umverteilung und Wachstum hat, ist Fakt. Man kann das nicht trennen~wenigstens muss man das in Kauf nehmen. Wie weit, das ist die ungeklärte Frage des BVerfG. Nun ist das EZSB verpflichtet zur Preistabilität, auch unter Beachtung der Allokation und Distribution der Faktoren. Dies sollte unterstützend und nicht im Widerspruch zum Hauptziel Preisstabilität stehen.
    Und bisher folgte das BVerfG dieser Argumentation der VWL~ Berater. Die Sorge, dass das Hauptziel konterkariert wird durch Nebenziele, indem das Ankaufprogramm dies in Kauf nimmt, ist Kern des Urteils.Verneint wurde verdeckte Staatsfinanzierung. Im Fall der Bundesbank sowieso nicht. Mehr als die Hälfte unserer Staatspapiere ist im Besitz des Auslands.Die kaufen 30jahrige Nullzinsanleihen wie Goldstücke. Warum? DARUM! Die bei der vom BVerfG eingeforderte Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist zu berücksichtigen.Keine Nebenwirkungen oder Ziele auf Kosten des HAUPTZIELES!
    Der Vorwurf der schleichenden Verschiebung nationaler Kompetenz in europäische Kompetenz ist dann nicht berechtigt, wenn die zielabwägende Überprüfung der ESZB Geldpolitik auf der Ebene der Ziele wie der Ebene der Methodik und Mittel stattgefunden hat und DIESE Hypothese falsifiziert.
    Für die EZB ist das eine machbare Aufgabe. Und noch etwas abseits von Verfassungsfragen:Geldpolitik in Krisenzeiten ist eine dynamische und höchst komplexe Angelegenheit. Es geht auch nicht um die Rettung irgendwelcher Zombies, sondern um die Sicherstellung der Liquidität im gesamten Eurosystem, [Zentralbanken Banken, Versicherungen] , ohne die das Ziel der Preisstabilität schon in normalen Zeiten gar nicht erreicht werden kann. [Monetary dominance oder modern monetarian theorie]
    In Zeiten der latenten Panik gilt das ganz besonders. Wer will denn einen Liqiditätsinfarkt im Bankensystem? Wer will denn den Infarkt der Pensionskassen und Betriebsrenten, die im Schnitt eine Zweidrittelkapitaldeckung haben? Also abwarten und stahlharte Nerven bewahren. Drei Monate für eine schlüssige Antwort der EZB. Die EZB wird das meistern, im Geleit mit der Bundesbank.
    Letztere verliert ja am meisten. Ihre Beteiligung steht jetzt nach dem Urteil nach innerstaatlichem Recht auf dem Spiel.Nicht die Banque de France oder jede andere ZB.Die berührt das Urteil gar nicht.
    Die Politik ist auch erst am Ende gefragt. Bislang drohte kein einziger Euro Verlust im Bundeshaushalt.Im Gegenteil Gewinne bei Bundesbank und ESM die im Haushalt reinfliessen oder dem Eigenkapital im ESM thesauriert werden.
    Die sensible Frage ist doch jetzt erst recht auf dem Tisch, wie die Unabhängigkeit der Bundesbank in Zukunft verteidigt wird, innnerstaatlich wie auch innerhalb des ESZB.Dies geht nur über die Fachunterausschüsse im Haushaltsausschuss des BT. Eine mittelbare Rechenschaftspflicht bei einem Höchstmaß an intelligenter, sensibler und weitgehend vertraulicher Pflichtbeteiligung dieser Gremien. Fanfarenstössse wie wir sie von der Afd Haushaltspoltik letzte Woche im Bundestag hörten, sind dazu sehr wenig geeignet.

  4. meine5cent Sat 9 May 2020 at 20:51 - Reply

    Verstehe ich nicht. Da kritisiert man die SZ für den arroganten Vorschlag, man müsse den Osteuropäern die subtilen Bruchlinien zwischen nationaler Souveränität und der Integrationsmaschine vortanzen,,andereseits schreibt man hier selbst von “Machtahabern” in osteuropa, als würden dort nicht mehrheitlich gewählte Regierungen sitzen, sondern Despoten wie in Weisrussland.
    Double standards?

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