25 August 2020

„Wirtschaftliche Vernichtung“ unter Freunden

Zur Rechtmäßigkeit der US-Sanktionen gegen Nord Stream 2

Es kommt wohl nicht alle Tage vor, dass Mitglieder des US-Senats einer kommunalen Hafengesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern offen mit „wirtschaftlich vernichtenden“ Maßnahmen drohen. Genau das geschah aber Anfang August der Fährhafen Sassnitz GmbH auf Rügen, die einen entsprechenden Brief einer Gruppe um Senator Ted Cruz erhielt. Grund hierfür ist, dass im Fährhafen Sassnitz-Mukran Schiffe und Materialien für den Bau der Nord Stream 2-Gaspipeline liegen. Nord Stream 2 soll in naher Zukunft russisches Gas durch die Ostsee nach Deutschland leiten. Die USA gehören zu den entschiedensten Kritikern des Projekts und betrachten es als eine Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit und ihrer außenpolitischen Interessen in Europa. Nach erfolglosen diplomatischen Bemühungen versuchen sie nun, die Vollendung der bereits zu über 90 % fertiggestellten Pipeline zu verhindern, indem sie beteiligten europäischen Unternehmen mit Wirtschaftssanktionen drohen. Dies ist nicht nur politisch, sondern auch völkerrechtlich in hohem Maße problematisch.

Die US-Sanktionsgesetzgebung gegen Nord Stream 2 und ihre Auswirkungen

In den letzten Jahren hat der US-Kongress zwei gesetzliche Grundlagen für Sanktionen gegen Nord Stream 2 geschaffen. Bereits 2017 trat der Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) in Kraft. CAATSA erlaubt der US-Regierung unter anderem, Sanktionen gegen Personen zu verhängen, die Russland beim Bau von Gaspipelines unterstützen – beispielsweise durch Investitionen, durch Dienstleistungen oder durch die Bereitstellung von Technologie.

Ende 2019 beschloss der Kongress den Protecting Europe’s Energy Security Act (PEESA), der spezifisch auf Nord Stream 2 und den aktuellen Ausbau der TurkStream-Pipeline zugeschnitten ist. PEESA sieht Sanktionen gegen ausländische natürliche und juristische Personen vor, die an der Bereitstellung von Schiffen für den Pipelinebau beteiligt sind. Im Juli 2020 wurde eine Verschärfung des PEESA in die Wege geleitet: Danach sollen auch Sanktionen gegen Unternehmen verhängt werden, die das Nord Stream 2-Projekt unterstützen, indem sie beispielsweise vorbereitende Erdarbeiten ausführen, Schiffe warten oder aufrüsten, Risiken versichern oder andere Dienstleistungen erbringen.

Die US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 sind als sogenannte gezielte Sanktionen (targeted sanctions) konzipiert. Sie richten sich nicht gegen Staaten, sondern unmittelbar gegen einzelne natürliche oder juristische Personen, die dadurch möglichst weitreichend wirtschaftlich isoliert werden sollen. Das Spektrum möglicher Sanktionsmaßnahmen ist breit gefächert. Dazu gehören z.B. Visabeschränkungen, umfassende Vermögenseinfrierungen oder den Ausschluss von der öffentlichen Auftragsvergabe. Zugleich wird es Dritten verboten, näher bezeichnete Geschäftsbeziehungen mit sanktionierten Personen zu unterhalten.

Schon die bloße Androhung der Sanktionen hatte spürbare Auswirkungen. Ende 2019 zog sich das schweizerisch-niederländische Konsortium Allseas aus dem Projekt zurück, was den Weiterbau zum Erliegen brachte. 

Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob und inwieweit die angedrohten Sanktionen rechtmäßig sind. Die Rechtmäßigkeit richtet sich dabei – neben dem US-Verfassungsrecht – vor allem nach dem Völkerrecht.

Völkerrechtliche Grundlagen staatlicher Sanktionsgewalt

Wirtschaftliche Sanktionen sind nicht per se völkerrechtswidrig. Vielmehr darf jeder Staat im Rahmen seiner souveränen Hoheitsgewalt, die ihm durch das Völkerrecht zugewiesen ist, das Verhalten von Personen und Unternehmen regulieren und dieses grundsätzlich auch sanktionieren. Die USA machen davon regen Gebrauch: Sie unterhalten mehr als 30 verschiedene Sanktionsregimes gegen Staaten, Organisationen und Personen. Aber auch andere Staaten sowie die EU verhängen in größerem Umfang Sanktionen, etwa im Ukraine-Konflikt.

Das Völkerrecht stellt Regeln dafür auf, in welchen Fällen ein Staat kraft seiner Hoheitsgewalt Sanktionen verhängen darf. Entscheidend ist, dass ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen dem Staat und dem zu sanktionierenden Verhalten besteht. Dieser Zusammenhang kann über verschiedene Anknüpfungspunkte hergestellt werden. Der wohl wichtigste Anknüpfungspunkt ist das Territorium. Jeder Staat darf nach dem sogenannten Territorialitätsprinzip Hoheitsgewalt auf seinem Staatsgebiet inklusive aller sich darin aufhaltenden Personen ausüben. Ebenso darf jeder Staat nach dem sogenannten aktiven Personalitätsprinzip das Verhalten seiner eigenen Staatsangehörigen regeln. 

Ob es neben dem Territorialitäts- und dem aktiven Personalitätsprinzip auch andere Anknüpfungspunkte gibt, ist dagegen völkerrechtlich weniger gesichert. Die Staatenpraxis ist hier oft uneinheitlich oder auf bestimmte Rechtsbereiche beschränkt. So z.B. für die Frage, inwieweit ein Staat nach dem sogenannten Auswirkungsprinzip Verhalten mit Sanktionen belegen darf, das sich zwar vollständig im Ausland abspielt, aber Auswirkungen auf das eigene Territorium hat. Ebenso ist ungeklärt, inwieweit ein Staat Verhalten von Personen im Ausland sanktionieren darf, das seine elementaren Sicherheitsinteressen gefährdet (sogenanntes Schutzprinzip).

Bei der Ausübung der Sanktionsgewalt ist zu unterscheiden, ob ein Staat Sanktionsgesetze erlässt, diese vollzieht oder darüber Recht spricht. Gesetze vollziehen (enforcement jurisdiction) darf der Staat grundsätzlich nur im eigenen Staatsgebiet – amerikanische Amtsträger dürften also beispielsweise nicht eigenmächtig im Ausland das Vermögen sanktionierter Personen beschlagnahmen. Dagegen darf ein Staat unter bestimmten Voraussetzungen seine Befugnis zur gesetzlichen Regelung (prescriptive jurisdiction) und zur gerichtlichen Entscheidung (adjudicative jurisdiction) auch auf Auslandssachverhalte ausdehnen – die Voraussetzungen sind im Einzelnen jedoch umstritten.

Auf den ersten Blick scheinen sich CAATSA und PEESA weitgehend innerhalb dieses völkerrechtlichen Rahmens zu bewegen. Zwar werden ausländische Personen für Verhalten im Ausland sanktioniert, bei den eigentlichen Sanktionsmaßnahmen handelt es sich jedoch überwiegend um Maßnahmen auf US-Territorium sowie Verbote gegenüber US-Bürgern und Anweisungen an US-Behörden.

Daraus aber umstandslos zu schließen, dass alle Sanktionen, die in CAATSA und PEESA vorgesehen sind, völkerrechtskonform sind, greift aus mehreren Gründen zu kurz.

Zu weitgehendes Verständnis der Sanktionsgewalt

Erstens beruht die US-Sanktionspraxis jedenfalls in Teilen auf einem zu weitgehenden Verständnis staatlicher Sanktionsgewalt. 

Wo genau die Grenzen staatlicher Sanktionsgewalt liegen, lässt sich natürlich kaum abstrakt bestimmen. Wendet man die oben genannten Grundsätze an, verbleiben unweigerlich Grauzonen. Allerdings haben die USA – auch schon vor dem Streit um Nord Stream 2 – diese Unschärfen denkbar großzügig zu ihren Gunsten ausgelegt. Dabei haben sie teils schon bei minimalen Bezügen zu den USA einen hinreichend engen Zusammenhang für die Durchsetzung von Sanktionsgesetzen angenommen. 

So gingen die USA in der Vergangenheit z.B. wiederholt gegen europäische Banken vor, weil diese für sanktionierte Personen im Ausland Geschäfte in US-Dollar abgewickelt hatten, bei denen eine (ansonsten unbeteiligte) Clearing-Stelle in den USA zwischengeschaltet war. Der Vorwurf lautete, dass die Banken hierdurch eine Verletzung der Sanktionsgesetze durch die Clearing-Stelle verursacht hätten. Die Verfahren endeten mit Vergleichen und Strafen im dreistelligen Millionen- und teils im Milliardenbereich, die ihre abschreckende Wirkung kaum verfehlt haben dürften (siehe z.B. hier und hier).

Allein an mehr oder minder zufällige Berührungspunkte wie ein Clearingverfahren anzuknüpfen, dürfte die Grenzen der rechtmäßigen Ausübung von Hoheitsgewalt überschreiten. Dennoch findet sich auch im PEESA der Tatbestand der „Verursachung einer Sanktionsgesetzverletzung“ (Sec7503(g)(2)), der schon den Bankenfällen zugrunde lag. Sollte diese Vorschrift im Fall von Nord Stream 2 ähnlich weit gehandhabt werden, dürfte dies die Grenzen des völkerrechtlich Zulässigen überschreiten.

Die Grenze des Interventionsverbots

Zweitens können Sanktionen in unzulässiger Weise in die Hoheitssphäre anderer Staaten eingreifen. In diesem Zusammenhang wird oft das völkergewohnheitsrechtliche Interventionsverbot genannt, das es verbietet, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, und dadurch die souveräne Gleichheit der Staaten schützt. 

Die Verletzung des Interventionsverbots setzt allerdings die Anwendung von Zwang in gewisser Intensität voraus. Ob hierfür Wirtschaftssanktionen ausreichen, wird kontrovers diskutiert und hängt nicht zuletzt auch von Art und Umfang der Sanktion ab. 1986 hat der Internationale Gerichtshof im Nicaragua-Fall die Frage für bestimmte, dort strittige Sanktionsmaßnahmen verneint. Dagegen hat sich die UN-Generalversammlung diesbezüglich wiederholt offener gezeigt. So kritisiert eine überwältigende Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten seit Jahrzehnten die umfassenden US-Sanktionen gegen Kuba.

Bei den Nord Stream 2-Sanktionen setzen die USA zielgerichtet erheblichen wirtschaftlichen Druck ein, um eine strukturell relevante energiepolitische Entscheidung anderer souveräner Staaten zu konterkarieren und eigene geostrategische Interessen durchzusetzen. Ob deswegen aber nach Art und Intensität bereits von einer verbotenen Intervention gesprochen werden kann, ist ungewiss.

Hielte man diese Schwelle für überschritten, könnten sich die USA allerdings wohl nicht auf Rechtfertigungsgründe berufen. Weder hat der UN-Sicherheitsrat die Sanktionen genehmigt, noch können diese nach dem Recht der Staatenverantwortlichkeit als Repressalien gegen vorangegangene Völkerrechtsverstöße gerechtfertigt werden. Auch, dass sich die USA auf russisches Fehlverhalten berufen, ändert daran nichts: Dieses würde nämlich keine Gegenmaßnahmen gegen europäische Unternehmen rechtfertigen.

Grenzen in völkerrechtlichen Verträgen

Schließlich können die Sanktionen gegen Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen der USA verstoßen. Zu diesen gehören etwa das WTO-Recht, regionale Handelsabkommen, Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträge (sog. FCN-Verträge), Investitionsschutzabkommen und Menschenrechtsverträge. 

Auch vor diesem Hintergrund erscheinen einige der in CAATSA und PEESA vorgesehenen Sanktionsmaßnahmen problematisch. Das gilt etwa für das umfassende Einfrieren von Vermögen, das in beiden Gesetzen vorgesehen ist: Der deutsch-amerikanische FCN-Vertrag begrenzt das Recht der USA, in das Eigentum deutscher Staatsbürger und Unternehmen einzugreifen (Art. I und V Abs. 4 FCN). Auch hinsichtlich weiterer Sanktionsmaßnahmen, die in CAATSA vorgesehen sind, finden sich im FCN-Vertrag einschlägige Regeln, z.B. bezüglich Warenexportbeschränkungen, Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs und des Ausschlusses von der öffentlichen Auftragsvergabe (Art. XIV Abs. 2, XII Abs. 3 und XVII Abs. 2 FCN). Neben Deutschland haben überdies zahlreiche weitere EU-Mitgliedstaaten FCN- oder Investitionsschutzverträge mit den USA geschlossen.

Grenzen ergeben sich zudem aus multilateralen Abkommen. Die nach CAATSA zulässigen Exportbeschränkungen müssen sich am WTO-Recht messen lassen (siehe Art. XI:1 GATT). Dass die Sanktionen auf juristische Personen, deren Geschäftsführung und Anteilseigner ausgedehnt werden, dürfte in die Vereinigungsfreiheit eingreifen, die u.a. im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte geschützt ist; dass Personen in öffentlich einsehbare Sanktionslisten aufgenommen werden, in das Recht auf Schutz der persönlichen Ehre (dazu siehe z.B. hier, Rn. 10.12 f.).

Natürlich enthalten die genannten Verträge auch Ausnahme- und Rechtfertigungsklauseln. Im Falle Nord Stream 2 wären z.B. Ausnahmeklauseln zum Schutz der nationalen Sicherheit relevant, wie sie u.a. in FCN-Verträgen und im WTO-Recht enthalten sind. Danach dürfen die Vertragsstaaten notwendige Maßnahmen zum Schutz ihrer – grundsätzlich selbst definierten – essentiellen Sicherheitsinteressen treffen. Legt man die neuere WTO-Rechtsprechung zugrunde, darf dies jedoch nicht in treuwidriger Weise geschehen und bleibt rechtlichen Grenzen unterworfen. 

Im Falle von Nord Stream 2 wäre im Hinblick auf diese Ausnahmeklauseln bereits erklärungsbedürftig, warum die europäische (wohlgemerkt: nicht die amerikanische) Energiesicherheit ein essentielles Sicherheitsinteresse der USA sein soll. Noch fraglicher wäre, wieso zu dessen Schutz ausgerechnet Sanktionen gegen die Unternehmen der eigenen Verbündeten notwendig sind. Die Sanktionen mit Gründen der nationalen Sicherheit zu rechtfertigen, erscheint vor diesem Hintergrund zweifelhaft.

Fazit und Ausblick

Ãœber das Für und Wider von Nord Stream 2 lässt sich natürlich trefflich streiten. Auch ist die amerikanische Sorge vor einem wachsenden russischen Einfluss in Europa angesichts der aggressiven Außenpolitik des Kremls durchaus nachvollziehbar. Unabhängig davon ist aber das Ansinnen, die Europäer mit schierem wirtschaftlichem Druck zu einer ‚richtigeren‘ Energiepolitik zu zwingen, angesichts geltender Verträge und gewohnheitsrechtlicher Regeln völkerrechtlich in hohem Maße problematisch. 

Deutschland und die EU stehen nun vor der schwierigen Frage, wie sie mit den Sanktionsdrohungen umgehen sollen. Ein Nachgeben würde wohl das Ende von Nord Stream 2 inklusive aller erwartbaren Folgen bedeuten. Beschädigt wäre dann auch das Vertrauen in die Fähigkeit von EU und Mitgliedstaaten, sich gegen ungerechtfertigten internationalen Druck zu behaupten.

Allerdings erscheint das Repertoire rechtmäßiger, konsensfähiger und effektiver Optionen bislang begrenzt. In Betracht kommt die Aktivierung internationaler Streitbeilegungsmechanismen, etwa im Rahmen der WTO oder geltender FCN-Verträge. Daneben könnten EU und Mitgliedstaaten Klagen betroffener europäischer Unternehmen vor amerikanischen Gerichten oder internationalen Streitbeilegungsinstanzen unterstützen. Und schließlich kommen Gegensanktionen oder der Erlass weiterer europäischer ‚Antisanktionsgesetze‘ im Stil der sogenannten Blocking-Verordnung in Betracht.

Bei alldem darf aber auch das Ziel der transatlantischen Wiederannäherung nicht aus den Augen verloren werden. Auch die US-Demokraten Nord Stream 2 sehen kritisch. Daher ist auch bei einem Wahlsieg Joe Bidens nicht automatisch mit Entspannung zu rechnen. Langfristig bedarf es daher einer gesamteuropäischen Strategie, um europäische Souveränität als Größe im transatlantischen Verhältnis zu verorten, ohne die USA als Partner und Verbündeten zu verlieren.


3 Comments

  1. Hans Adler Wed 26 Aug 2020 at 06:22 - Reply

    Ganz praktisch gesprochen: Vielleicht würde es ja helfen, wenn diese kommunale Hafengesellschaft in ein Organ der Bundesrepublik Deutschland oder besser noch der EU umgewandelt würde.

  2. […] the pipeline poses a security threat to the US. However, as Gött has also argued in a post on Verfassungsblog, it is unclear how Europeanenergy security can ever be an essential security interest of the […]

  3. […] of the pipeline poses a security threat to the US. However, as Gött has also argued in a post on Verfassungsblog, it is unclear how Europeanenergy security can ever be an essential security interest of the US. […]

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