Zehn Jahre „Esra“-Entscheidung: Wie scharf ist das Damoklesschwert?
Zehn Jahre nach der Bestätigung des Veröffentlichungs- und Verbreitungsverbots von Maxim Billers Roman „Esra“ durch das Bundesverfassungsgericht soll hier der Versuch unternommen werden, eine Bilanz zu ziehen: Was sind die Auswirkungen des Urteils aus heutiger Sicht? Ist der befürchtete Schaden eingetreten oder nicht, und was sind die Gründe hierfür? Das von Kritikern des Urteils – vornehmlich Literaturwissenschaftlern oder zumindest literaturaffinen Juristen – heraufbeschworene Szenario, nach dem Autoren literarischer Werke nun nicht mehr frei ihre künstlerische Freiheit ausleben könnten, sondern sich aus Angst vor einem juristischen Lektorat und etwaigen Schadensersatzforderungen selbst mit einer Zensur belegen würden, ist jedenfalls ausgeblieben. Dies zeigen jüngere Verfahren, in denen sich Persönlichkeitsrechte und Kunstfreiheit gegenüberstanden. Dafür hat „Esra“ etwas für Literaten nicht minder Gefährliches heraufbeschworen: eine Rechtsprechungslinie, die den Anspruch einer kunstgerechten Betrachtung formuliert, aber kunstinadäquate Maßstäbe zur Urteilsfindung anwendet.
Nach der ersten „Esra“-Entscheidung 2003 aus der Feder des Landgerichts München I druckte das Börsenblatt sieben Fallgruppen im Sinne mehrerer Eskalationsstufen ab, die den Literaten und Verlegern eine Kalkulation darüber ermöglichen sollten, wie hoch das Risiko einer Klage gegen einen Roman ist. Diese Angst der Literaten vor einer solchen „Privatzensur“ war indes wohl unbegründet: Die „Esra“-Entscheidung hat weder dazu geführt, dass sich Schriftsteller nicht mehr von der Wirklichkeit zu ihrem Werk inspirieren lassen (wovon auch sonst?), noch schrecken sie wie die Verlage davor zurück, einen Roman, der enge Bezüge zur Wirklichkeit aufweist, zu veröffentlichen. Letzteres zeigt vor allem die Existenz jüngerer Romanverbotsverfahren. Nach der ersten „Esra“-Entscheidung gab es noch vier weitere Romane, gegen deren Vertrieb eine Privatperson geklagt hat (2003: Alban Nikolai Herbst – „Meere“, 2004: Reinhard Liebermann – „Das Ende des Kanzlers – Der finale Rettungsschuss“, 2008: Olaf Kraemer – „Ende einer Nacht. Die letzten Stunden von Romy Schneider“ und 2009: Michel Houellebecq – „Karte und Gebiet“). Aktueller Trend scheint hier zu sein, nur dürftig verpixelte Fotografien der betroffenen Person auf dem Buchcover abzudrucken (Liebermann – „Das Ende des Kanzlers“) oder gleich deren Klarnamen (Kraemer – „Ende einer Nacht“) zu verwenden. Kein Wunder also, dass das Buch von Liebermann sowie auch die Ursprungsfassung von „Meere“ verboten wurden. Auch von Kraemers Roman wurde letztendlich eine Textstelle für unzulässig erklärt. Um ein Vielfaches größer ist die Anzahl der Werke, die die mediale Aufmerksamkeit im In- und Ausland erregen, sich aber (noch) nicht vor Gericht verantworten müssen. Jüngste Beispiele hierfür sind die Romane „Bad News“ von Bruno Ziauddin sowie „Pour en finir avec Eddy Bellegeule“ des französischen Jungautors Édouard Louis, der Hass und Gewalt gegen Homosexuelle thematisiert und durch die Veröffentlichung einen Sturm der Entrüstung in seiner Familie und seinem Heimatdorf auslöste. Und auch außerhalb der Romanwelt lassen sich solche Fälle finden. Am bekanntesten sind wohl die Prozesse um den Film „Contergan“ und das Theaterstück „Ehrensache“. All dies zeigt, dass Künstler – und dies ist im besten Sinne des Wortes wertneutral gemeint – weiterhin machen, was sie wollen.
Dass nach „Esra“ eine Klagewelle von Privatpersonen, die sich als Romanfigur porträtiert und in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt sehen, auf sie zurollt, hat wohl auch die Richterschaft befürchtet. Peter Raue hat in diesem Zusammenhang von einer „neue(n) Klagelust“ gesprochen. Diese Ahnung hat sich jedoch nicht bestätigt. Hier ließen sich jetzt ebenfalls die oben genannten Romanverbotsverfahren aufführen. Bemerkenswert ist nicht deren Existenz, sondern vielmehr deren geringe Anzahl. Dies liegt aber mitnichten daran, dass Richter in den Romanverbotsverfahren so souverän mit der Materie umgehen. Ein Grund hierfür lässt sich wohl eher in dem paradoxen Umstand vermuten, dass die echte Esra und ihre Mutter mit der Klage exakt das Gegenteil von dem bewirkt haben, was sie wollten: Gerade die Gerichtsverfahren haben dafür gesorgt, dass Billers Buch besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Es hat sich also weder die Angst der Literaten noch die der Juristen vor ausufernden Romanverboten in einer ausufernden Anzahl an Verfahren bestätigt. Angst machen sollte den Schriftstellern aber die juristische Vorgehensweise, wenn dann tatsächlich ein Roman vor Gericht gebracht wird: „Esra“ hat den Weg zu einer Rechtsprechungslinie geebnet, deren Maßstäbe vor allem von Literaturwissenschaftlern, aber auch von zahlreichen Juristen – allen voran den Verfassern der Sondervoten zu „Esra“ – als kunstinadäquat moniert werden. Bei diesen in der Abwägung angewandten Maßstäben handelt es sich zum einen um die Erkennbarkeitsprüfung, bei der die Richterinnen und Richter Roman und Realität gegenüberstellen und auf Übereinstimmungen und Unterschiede untersuchen. Zum anderen wird in den Verfahren stets geprüft, wie sehr der Autor das „Abbild“ gegenüber dem Urbild objektiviert hat. Je stärker die Abweichungen von der Wirklichkeit sind, desto negativer darf eine Person im Roman dargestellt sein. Zwar wurde in der „Esra“-Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht der Anspruch formuliert, eine kunstgerechte Prüfung durchzuführen, und zu diesem Zweck auch eine Fiktionalitätsvermutung zugunsten von Romanen aufgestellt. Durch den Eins-zu-Eins-Vergleich zwischen Werk und Wirklichkeit sowie die „Je-desto“-Formel sehen die Kritiker der Entscheidung diese Vermutung jedoch konterkariert: Infolge der „Je-desto“-Formel wird die Fiktionalitätsvermutung nämlich geradezu umgedreht: Sobald Intimszenen geschildert werden, darf die Schilderung nicht an die Wirklichkeit angelehnt sein. In allen auf „Esra“ folgenden Romanverbotsverfahren wurden diese Maßstäbe angewandt. Lediglich in den Urteilen zu „Das Ende des Kanzlers“ wurde keine Erkennbarkeitsprüfung durchgeführt; allerdings durften die Richter die Identifizierung des Mordopfers in dem Roman mit dem damit gemeinten Ex-Bundeskanzler aufgrund des Konterfeis auf dem Buchcover auch voraussetzen. Dies war zu erwarten, da „Esra“ als eine Art Grundsatzentscheidung für Romanverbote fungiert. In der rechtswissenschaftlichen Literatur zu „Esra“ finden sich zahlreiche Vorschläge für eine kunstgerechtere Maßstabsfindung wie beispielsweise die Risikobetrachtung von Karl-Heinz Ladeur und Tobias Gostomzyk. Bernhard v. Becker ist in seiner Kritik an der „Esra“-Entscheidung sogar noch einen Schritt weitergegangen und bemängelt nicht bloß die Maßstäbe, sondern auch den Prüfungsstandort: Er plädiert dafür, die prüfungsrelevanten Fragen in der Prüfung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG durchzuführen, anstatt wie sonst in den Romanverbotsfällen das Vorliegen von Kunst ohne weitere Prüfung zu bejahen.
Wie wäre also eine fiktive juristische Welt ohne „Esra“? Für die literarischen Autoren würde sich wenig ändern. Ein Roman ist fiktiv, aber ein Roman ohne Wirklichkeitsbezug ist auch undenkbar. Die Rechtswissenschaft hingegen wäre um ein „Grundsatzurteil“ ärmer, denn einen vergleichbaren Fall gab es seit „Esra“ nicht, zumindest hat es kein weiterer Roman seit „Esra“ bis zum Bundesverfassungsgericht geschafft. Auch wurden in der „Esra“-Entscheidung die Maßstäbe für Romanverbotsverfahren, die Fiktionalitätsvermutung und die „Je-desto“-Formel formuliert. Insofern wurde das Vorgehen für Richter in Romanverbotsverfahren präzisiert. Dies führt aber gleichzeitig zu einem Diskurs mit den Literaturwissenschaften, die diese Maßstäbe ablehnen und – mehr noch – Kunst grundsätzlich für nicht justiziabel halten. In Zukunft wäre daher eine engere Kooperation der Disziplinen in diesem Streit um die Deutungshoheit über Texte zu begrüßen.
Bei Wälsungenblut hatte auch ein Thomas Mann überzogen und hat selbst die Zensuraxt angelegt. Ein Vorbild?
Ein hervorragender Artikel, der das Problem auf den Punkt bringt! Vielen Dank dafür.