08 January 2020

Zweck verfehlt

Die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zum Sozialhilfe-Grundsatzgesetz

Im Dezember hob der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) wesentliche Teile des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes auf. Die Entscheidung gehört zu den rechtsstaatlichen Aufräumarbeiten nach dem Ende der Koalition aus ÖVP und der FPÖ, die mit dem zugrunde liegenden Grundsatzgesetz das Ziel verfolgt hatte, die Sozialhilfe bundesweit zu vereinheitlichen und dabei Zugewanderte im Sozialhilfesystem schlechter zu stellen. Nachdem sich auch die gestern vereidigte Regierung aus ÖVP und Grünen nicht auf eine Überarbeitung des Gesetzes geeinigt hat, wird die Regelungskompetenz weiterhin bei den Ländern verbleiben.

Von Mitteln…

Das Gesetz aus 2019 war der dritte Versuch zur bundesweiten Vereinheitlichung der Sozialhilfe, mit dem dritten Instrument: Nachdem ein Mustersozialhilfegesetz der Länder aus den 70er Jahren nach und nach seine Vorbildwirkung verloren hatte und ein Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern aus 2010 mangels Konsens 2016 nicht mehr erneuert werden konnte, griff der Bund nun zu einem Grundsatzgesetz. Grundsatzgesetze ähneln EU-Richtlinien: Mit ihnen darf der Bund unter anderem für das „Armenwesen“ Grundsätze regeln, während Ausführungsgesetzgebung und Vollziehung den Ländern obliegt.

Das neue Gesetz weist mehrere Besonderheiten auf, die auch im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung standen:

  • Das Gesetz soll die „Zuwanderung in das österreichische Sozialsystem“ bekämpfen. Strebte die Gesetzgebung bis dahin eine „bedarfsorientierte Mindestsicherung zur verstärkten Bekämpfung und Vermeidung von Armut und sozialer Ausschließung“ an, so geht es jetzt darum, unter Berücksichtigung „integrationspolitischer und fremdenpolizeilicher Ziele“ nur „zur Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts und zur Befriedigung des Wohnbedarfs der Bezugsberechtigten beizutragen“ und neben der Wiedereingliederung dieser Personen in das Erwerbsleben auch „die optimale Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes“ weitest möglich zu fördern.
  • Das Gesetz verbietet zu viel Sozialhilfe. Anders als bisher enthält es keine Mindestsätze, etwa um ein race to the bottom der Länder zu begrenzen, sondern es schreibt Höchstsätze vor, die die Länder im Regellall nicht überschreiten dürfen, auch wenn sie den Aufwand selbst tragen: nicht mehr als 885,47 € pro Monat für Alleinstehende, 1505,30 € für ein Paar, 221,37 € für das 1. Kind, 132,82 € für das 2. Kind und 44,27 € für jedes weitere Kind.
  • Das Gesetz stellt Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft in mehrfacher Weise schlechter: Asylwerbende sind von vorherein ausgenommen; sie erhalten eine andere, mit 365 € wesentlich geringere Leistung, die Grundversorgung. Sonstige Ausländer haben Ansprüche auf Sozialhilfe erst nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich. Sofort berechtigt sind allerdings anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte, denen Sozialhilfeleistungen aber nur auf Grundversorgungsniveau zustehen sowie Personen mit einem völkerrechtlichen oder unionsrechtlichen Anspruch, also z.B. erwerbstätige EU-Bürger. Vor allem aber schreibt das Gesetz den Ländern unter dem Titel „Arbeitsqualifikationsbonus“ vor, die Geldleistungen für Erwerbsfähige um mindestens 35% zu kürzen, bis sie durch Schulabschluss oder Prüfung zumindest das Sprachniveau B1 (Deutsch) oder C1 (Englisch) gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen nachweisen. Diese Personen sollten (als Alleinstehende) also höchstens 575,56 € pro Monat, dafür aber Sprachkurse als Sachleistung erhalten.

Sozialdemokratische Mitglieder des Bundesrats, die damals noch das für die Anfechtungsbefugnis notwendige Drittel der Abgeordneten ausmachten, hatten das Gesetz in einem abstrakten Normenkontrollverfahren angefochten. (Die Bundesratsmitglieder werden in Österreich von den Landtagen entsprechend der Stärke der Parteien dort gewählt; inzwischen hat die SPÖ durch ein schlechtes Wahlergebnis in der Steiermark ihr Bundesratsdrittel verloren.)

Die vorgebrachten kompetenzrechtlichen Bedenken teilte der VfGH nicht: Der Kompetenztypus „Grundsatzgesetz“ erlaube dem Bund auch Detailregelungen (wie die betragsmäßigen Höchstsätze), sofern diese für das ganze Bundesgebiet von grundsätzlicher Bedeutung sind; das sei hier der Fall, zudem blieben den Ländern noch Regelungsspielräume. Und im Rahmen des Kompetenztatbestands „Armenwesen“ dürften auch integrationspolitischer Ziele sowie die Förderung der (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt berücksichtigt werden (zu Fremdenpolizei und Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarkts sagte der VfGH nichts).

…und Abwegen

Damit blieben Grundrechtsfragen, vor allem der Gleichheit.

Der VfGH hatte schon in früheren Entscheidungen festgestellt, dass eine Wartefrist für Ausländer grundsätzlich zulässig ist, weil sie in ihr Heimatland zurückkehren und dort Sozialleistungen in Anspruch nehmen können, nicht aber für Asylwerber, die das nicht können; und dass subsidiär Schutzberechtigten, die das auch nicht können, weniger gezahlt werden darf als Asylberechtigten, nämlich, angesichts ihres eher vorübergehenden Aufenthalts, die für ein menschenwürdiges Dasein erforderlichen Leistungen nur im zwingend erforderlichen Umfang. Verfassungswidrig waren für den VfGH im Sozialhilfe-Grundsatzgesetz aber (neben einer zu unbestimmten Ermächtigung zur Datenübermittlung) die Bestimmungen über die degressive Staffelung der Leistungen für Kinder und der „Arbeitsqualifizierungsbonus“.

Für die degressive Staffelung mit den minimalen Beträgen ab dem 3. Kind gibt er VfGH eine doppelte Begründung: Zum einen liege darin eine nicht gerechtfertigte Schlechterstellung von Mehrkindfamilien gegenüber Familien mit weniger Kindern, zum anderen könne diese Regelung dazu führen, dass der notwendige Lebensunterhalt bei Mehrkindfamilien nicht mehr gewährleistet ist. Die erste Begründung liegt auf der Hand. Erwähnt werden sollte, dass die diskriminierten Mehrkindfamilien oft aus dem Ausland kommen.

Die zweite Begründung bedarf einer Erklärung: Die österreichische Verfassung enthält kein Sozialstaatsprinzip und keinen Anspruch auf ein staatlich gesichertes Existenzminimum. Der VfGH leitet aus dem Gleichheitssatz aber auch ein vergleichsunabhängiges Sachlichkeitsgebot für gesetzliche Regelungen ab. In früheren Entscheidungen hatte er Regelungen in Mindestsicherungsgesetzen als Verstoß gegen dieses Sachlichkeitsgebot aufgehoben, wenn sie den Zweck verfehlten, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren (z.B. hier, hier, hier und hier). Nun wird man Zweckverfehlung nicht allgemein mit Unsachlichkeit und Verfassungswidrigkeit gleichsetzen können; in den jeweiligen Fällen ergab sich aus der Judikatur freilich im Effekt ein Anspruch auf ein – betragsmäßiges nicht näher definiertes – Existenzminimum. Seiner Logik nach hing dieser Anspruch jedoch von der gesetzlichen Zielsetzung („Mindestsicherung“) ab; dass ihn der VfGH auch gegenüber einem Gesetz aufrechterhält, das nur zur „Unterstützung“ des allgemeinen Lebensunterhalts „beitragen“ will, ist daher bemerkenswert.

Zugleich sah der VfGH in der degressiven Staffelung eine Verletzung des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, dessen Art. 1 in Umsetzung der Kinderrechtskonvention jedem Kind Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit verleiht.

Der VfGH hob ebenfalls den „Arbeitsqualifizierungsbonus“ auf, nicht weil Maßnahmen zur Arbeitsqualifikation überhaupt nicht verlangt werden dürften, sondern „weil keine Gründe ersichtlich sind, weshalb ausschließlich bei Deutsch- und Englischkenntnissen auf diesem hohen Niveau eine Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt anzunehmen sein soll. Es ist offenkundig, dass für viele Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt weder Deutsch auf B1-Niveau noch Englisch auf C1-Niveau erforderlich sind“. Hier kombiniert die Begründung Argumente für eine Unverhältnismäßigkeit und vergleichsunabhängige Unsachlichkeit (Zielverfehlung einer Dämpfung der Zuwanderung bei Asylberechtigten) mit solchen für eine mittelbare Diskriminierung (der EU-Bürger gegen über den Österreichern).

Da sich die neue Bundesregierung aus ÖVP und Grünen nicht auf eine Reparatur des Grundsatzgesetzes einigte, dürfen die Länder die Sozialhilfe nunmehr im Rahmen der verbliebenen Bestimmungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes frei regeln. Was den früheren Regierungsparteien und vielen ihrer Wähler so wichtig war, nämlich die Schlechterstellung von Zugewanderten, stößt aber rechtlich an deutliche Grenzen.


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