Der österreichische VfGH zur Wahlanfechtung: eine rechtsrealistische Kritik
Nach der knappen Niederlage des FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer in der Stichwahl zur Bundespräsidentschaft hatte die FPÖ die Wahl wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten und Manipulationen vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof angefochten. Am 1. Juli hat der VerfGH sein Urteil verkündet: der Anfechtung sei stattzugeben und die Stichwahl zur Gänze annulliert. Er bestätigte, dass es in einigen Bezirken zu Unregelmäßigkeiten gekommen war, aber hielt fest, dass es keinerlei Hinweise von Missbrauch gegeben habe.
Der Nachweis von tatsächlichen Manipulationen ist laut VfGH auch nicht erforderlich. Er führte aus, dass es neben dem Nachweis einer Rechtswidrigkeit vielmehr bereits ausreiche, dass diese auf das Wahlergebnis von Einfluss sein hätte können. Dieser Rechtssatz wurde in ständiger Rechtsprechung konstituiert.
Dass der VfGH seit jeher so urteilt, ändert aber nichts daran, dass der Wortlaut der österreichischen Bundesverfassung etwas anderes vorschreibt. Artikel 141 B-VG fordert ausdrücklich, dass die Rechtswidrigkeit „auf das Wahlergebnis von Einfluss war“ (Hervorhebung S.V.).
Die Wortlautgrenze zu respektieren, ist rechtsstaatlich-demokratisch wichtig und hat mit Gewaltenteilung zu tun: demokratisch legitimierte Gesetzgebung auf der einen Seite, ausführende Rechtsanwendung auf der anderen. Der VfGH hat sich mit seiner Entscheidung über das Gebot der Gewaltenteilung hinweg gesetzt.
Dazu kommt, dass die Entscheidung ein weiteres verfahrensrechtliches Prinzip ignoriert: Wer klagt, hat zu beweisen. Nur in einzelnen, klar bezeichneten Fällen nimmt das Gesetz eine Umkehr der Beweislast vor. Im Hinblick auf die Wahlanfechtung fehlt jede Spur davon.
Gegen alle Wahrscheinlichkeit
Der so außerhalb vom Gesetzeswortlaut etablierte Rechtssatz wird auch noch von der Realität losgelöst und in automatisch-mechanischer Weise auf Sachverhalte appliziert. Dies wird deutlich, wenn man in der Begründung des VfGH weiterliest: „Diese Rechtsprechung stellt angesichts des notwendigerweise unbekannten Wählerverhaltens auf die zumindest theoretisch mögliche (Hervorhebung S.V.) Verschiebung aller, von den festgestellten Rechtswidrigkeiten betroffenen Stimmen ab“, heißt es da. Und weiter: „von den festgestellten Rechtswidrigkeiten in den von mir genannten Stimmbezirken sind 77.926 Stimmen erfasst, die theoretisch Ingenieur Norber Hofer oder Dr. Alexander Van der Bellen allein hätten zufallen können.“
Um am Rechtssatz der möglichen Beeinflussung festhalten zu können, unterstellte der VfGH also höchst unwahrscheinlich, dass die 77.926 Stimmen theoretisch einem der beiden Wahlwerber allein hätten zufallen können. Um das Wahlergebnis tatsächlich beeinflussen zu können, hätten immerhin mindestens 54.395 dieser Stimmen an Hofer, hingegen 23.532 an Van der Bellen fallen müssen, was einer immer noch prozentuell sehr unwahrscheinlichen Aufteilung von 70% zu 30% entspricht. Das zunächst festgestellte Auszählungsergebnis in den betroffenen Bezirken lag hingegen im bundesweiten Trend. Eine Beeinflussung des Wahlergebnisses würde voraussetzen, dass ca. 20% der betroffenen Stimmen, das heißt über 15.000 Stimmen, die abweichend vom Trend bei Hofer lagen, in Van der Bellen-Stimmen verwandelt wurden. Es gab, wie gesagt, keinerlei Hinweise auf tatsächliche Manipulationen. Dies wurde auch von forensischen Wahlanalysen bestätigt.
Dieselbe Realitätsfremdheit trifft auch den zweiten vom VfGH bejahten Aufhebungsgrund: die vorzeitige Veröffentlichung von Wahlergebnissen. Diese diente der gezielten Information von Medien und Forschungsinstituten, Hochrechnungen wurden auf ihrer Grundlage erstellt. Dies war jahrzehntelang bekannte Praxis. Auch hier lagen keine Anhaltspunkte für eine tatsächliche Wahlbeeinflussung.
Auch hier hat der Verfassungsgerichtshof es für ausreichend gehalten, dass die Möglichkeit eines abstrakten Einflusses besteht. Man kann vermuten, dass der VfGH nur auf Basis dieses Grundes wohl kaum der Anfechtung stattgegeben hätte. Oder umgekehrt: er hat diesen Grund wohl nur nachgeschoben, weil ihm die Regelverstöße bei der Auszählung allein zu wenig waren.
Beamtenpositivismus und Kelsenfetisch
Der geschilderte Begründungsweg trägt Züge eines Rechtspositivismus in Schwundform: ein Gesetzestext wird im Zuge der Auslegung auf einen abstrakten Sinn hin festgelegt. Diese Lesart wird als die einzig richtige angesehen und folglich als ständige Rechtsprechung fortgeschrieben. Die Richter applizieren die Auslegung quasimathematisch als Formel.
Auf einer Ebene tiefer liegt die Vorstellung des Rechts als geschlossenes, in sich stimmiges System, das aus seiner eigenen Vernunft heraus zu verstehen sei. Der Rechtsanwender hat in diese holistische Lochmaschine nur seinen Sachverhalt einzuspeisen, dieser wird nach bestimmten Formeln verarbeitet und die fertige Lösung ausgespuckt. Alle Eigenverantwortung kann abgegeben und verdeckt werden.
Daneben wird auch in der Bezugnahme auf Hans Kelsen ein irrationales Fetisch- und Totemelement deutlich: In der öffentlichen Verhandlung beriefen sich die Verfassungsrichter direkt auf die Auslegung der Bestimmung durch den Gründungsvater unserer Verfassung bei einer Wahlanfechtung im Jahr 1927. Dort ward der seitdem beibehaltene Rechtssatz nämlich erstmals ausgesprochen – allerdings vor einem vollkommen anderen Hintergrund als heute, nämlich einer noch nicht gefestigten Demokratie mit gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen und Hinweisen auf tatsächliche Manipulationen. Auch war Artikel 141 B-VG noch nicht in Kraft. Diese Hintergründe blendeten die amtsführenden Richter nonchalant aus.
Auf Kosten von Demokratie und Rechtsstaat
Was mag die Richter in Wahrheit geleitet haben? Die Entscheidungsbegründung verweist auf das Ziel, das Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie zu stärken. Sie mache niemanden zum Gewinner oder Verlierer.
Beides scheint wenig glaubwürdig: Juristischer und politischer Gewinner ist klarerweise die FPÖ als Anfechtungswerberin. Auch eine Stärkung von Rechtsstaat und Demokratie sieht anders aus. Hier wird in erster Linie eine Partei gestärkt, welche diese Prinzipien auf der Oberfläche zwar einfordert, ihnen strukturell aber eher entgegensteht.
Nicht nur eine zu lasche Handhabung von Rechts- und Wahlvorschriften schwächt das Vertrauen in den Staat selbst, sondern auch eine übermäßig rigorose. Der VfGH hat mit dieser Entscheidung einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, der zukünftig wie ein Damoklesschwert über jeder Wahlentscheidung schweben wird, das von Populisten (und darüber hinaus) jederzeit gezogen werden kann.
Insbesondere ist das Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie auch im Hinblick auf die kommende Wahlwiederholung geschwächt, eine politische Krise bereits im Keim angelegt. Durch die Entscheidung wurde ein ungerechtes Momentum zugunsten Hofers geschaffen, der sich als Gewinner der Anfechtung ausgeben kann. Weiters ist wohl kaum zu erwarten, dass das Van der Bellen-Lager einen Sieg Hofers in der Wiederholung ohne Weiteres akzeptieren würde.
Aus realistischer Sicht lässt sich neben politischer Fairness und Fairplays vor allem eines aus den oben angestellten Überlegungen gegen die Stattgebung der Anfechtung aus Vertrauensgründen einwenden: die effektive Inschutznahme des Rechtsstaates und der Demokratie vor ihrer zweckentfremdenden und autodestruktiven Instrumentalisierung durch die Rechtspopulisten.
Im Zentrum steht dabei die Achtung des Wählerwillens, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit und ohne Nachweise tatsächlicher Manipulation zugunsten Van der Bellens ausgefallen war. Last but not least wären auch die wirtschaftlichen Kosten einer Wahlwiederholung, sowie aus ethischer Sicht die Mitverantwortung der FPÖ-Wahlbeisitzer an den Regelverstößen, gegen die Stattgebung der Anfechtung in die Waagschale zu werfen.
Ein realistischer Richter hätte die Anfechtung allemal abzuweisen gehabt. Dem Rechtsstaat hätte er darüber hinaus mit einer Ermahnung und Reformvorschlägen bezüglich der festgestellten Regelverstöße dienen können.
Ein interessanter Beitrag, auch wenn ich in vielen Punkten nicht zustimme.
Art 141 B-VG : “Die Anfechtung gemäß lit. a, b, e, f und g kann auf die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens gegründet werden, der Antrag gemäß lit. c und d auf einen gesetzlich vorgesehenen Grund für den Verlust der Mitgliedschaft in einem allgemeinen Vertretungskörper, im Europäischen Parlament, in einem mit der Vollziehung betrauten Organ einer Gemeinde oder in einem satzungsgebenden Organ (Vertretungskörper) einer gesetzlichen beruflichen Vertretung. Der Verfassungsgerichtshof hat einer Anfechtung stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war.”
Das kann mE durchaus auch so gelesen werden, dass nur die Rechtswidrigkeit von den AntragstellerInnen behauptet werden muss – die Beweislast also hier anders verteilt ist als es der Regelfall in verschiedensten gerichtlichen Verfahren ist.
Interessant finde ich auch das Argument der (mangelnden Beachtung der) Gewaltenteilung – diese wird ja gerade durch die Verfassung mitkonstituiert, wie kann der VfGH das dann bei der Auslegung der Verfassung zu berücksichtigen haben? (Geht es um ein Verfassungsprinzip – wenn ja, welchen Inhalts?)
Ich denke, dass realistische RichterInnen hier eine verfassungspolitische lose-lose Situation vor sich hatten.
@Teresa Weber, ich denke, das Gewaltenteilungs-Argument zielt bloß darauf, dass die Auslegung des VfGH nach Meinung des Verfassers eben nicht durch den Wortlaut der Kompetenzzuschreibung in Art. 141 B-VG gedeckt ist und der VfGH insofern rechtssetzend agiert.
Ich fand das Wortlautargument auf den ersten Blick sehr irritierend, ggf. ist es aber auch der Wortlaut der Verfassungsnorm (wenn die Auslegung wie hier vorgenommen richtig ist). Wenn man nur stattgibt, wenn die Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens tatsächlich “auf das Wahlergebnis von Einfluss war” (oder meinetwegen auch schon, wenn der Verdacht bloß naheliegt), ist dem Missbrauch ja, wie mir scheint, Tür und Tor geöffnet. Der erfolgreiche Missbrauch zeichnet sich doch eben dadurch aus, dass er nicht nachweisbar ist, und die Möglichkeit dazu wird durch das Unterlaufen des rechtsstaatlichen Wahlverfahrens eben geschaffen. Wenn ich die Urne öffne und in Herrn Hofers Büro stelle, dann kann damit alles mögliche (oder eben: gar nichts) angestellt werden. Mithin würden also gerade solche Mängel, die derart eklatant sind, dass sie in ihrem Einfluss gar nicht mehr einschätzbar sind, durchgewinkt. Das kann m.E. nicht richtig sein.
Billiges Hans Kelsen-Bashing aus dem Blickwinkel des Naturrechts – nicht mehr und nicht weniger! Wahlen im Rechtsstaat müssen – wie der “VfGH” (so übrigens die richtige Abkürzung für “Verfassungsgerichtshof”) schon in VfSlg 888 ausführte – über jeden Zweifel erhaben sein. Und – jede wissenschaftliche Argumentation muss ein Mindestmaß an Bedeutung für die Praxis haben, was der Autor zu verkennen scheint – wie soll den jemals der Nachweis einer Manipulation gelingen, etwa dass Helfer beim Auszählen ihnen nicht genehme Briefwahlkarten verschwinden ließen?! Anders als bei einer Wahlkarte, die zum Wählen in einem anderen Wahllokal berechtigt und die bei Abgabe in die Wahlliste eingetragen wird, ist bei einer Briefwahlkarte nur dokumentiert, dass die Wahlkarte abgeholt wurde, nicht aber dass die Stimme abgegeben wurde und eingelangt ist. Niemand – außer die Wahlkommission – kann feststellen, ob der Briefwähler gewählt hat und ob seine Wahlkarte per Post rechtzeitig eingetroffen ist. Und die Wahlkommissionen haben vielfach eben nicht ausgezählt, obwohl dies ihre gesetzliche Pflicht gewesen wäre. Es ist also weltfremd einen Nachweis der Manipulation vom Antragsteller bei einer Wahlanfechtung zu verlangen. Außerdem haben solche Entscheidungen immer eine große verfassungs- und rechtspolitische Bedeutung; und da gibt es – zumindest in rechtswissenschaftlicher Hinsicht – nur schwerlich ein “richtig” oder “falsch”, sondern nur eine subjektive, den Methoden der Rechtswissenschaft nicht zugängliche Wertung. Insoweit ist der Beitrag – freilich ohne dies offen zu legen – EINE rein verfassungs- und rechtspolitische, aber keine rechtsdogmatische Äußerung, die sich in die “Tradition” der letzten Beiträge hier, wie zB von Öhlinger einreiht, die meinen – ich weiß, dies ist jetzt polemisch – in beckmesserischer Weise alles besser zu wissen als der VfGH.
Das Problem ist, dass es bei so großen Wahlen ausgeschlossen ist, dass wirklich keinerlei Verfahrensfehler passieren. Mit der Rechtsprechung des VfGH ist es praktisch überhaupt nicht möglich, rechts-sichere Wahlen abzuhalten, die mit einer sehr knappen Mehrheit enden. Spätestens bei einer Mehrheit von nur wenigen Stimmen müsste die Wahl immer verworfen werden.