06 May 2018

Staatlicher „Hygienepranger“ vor dem Bundes­verfassungs­gericht

Die Behörden müssen die Öffentlichkeit informieren, wenn der Verdacht besteht, dass in Lebensmitteln zulässige Grenzwerte überschritten oder qualifiziert verbraucherschützende Regelungen verletzt werden. So steht es in § 40 Abs. 1a Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB). Diese Norm dient, anders als § 40 Abs. 1 LFGB, dessen Wirken auf dem gemeinsamen Portal des Bundes und der Länder zu besichtigen ist, nicht der Warnung und Gefahrenabwehr, sondern der Verbraucherinformation. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sie jetzt im Verfahren einer abstrakten Normenkontrolle für teilweise verfassungswidrig erklärt. Sie ist insoweit mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar, als die Veröffentlichung nicht zeitlich begrenzt ist (Az. 1 BvF 1/13). Die Regelung soll damit jedoch nicht gleich nichtig sein; vielmehr hat der Gesetzgeber die Dauer der Veröffentlichung bis zum 30. April 2019 zu regeln.

Gegen die 2012 eingefügte Regelung des § 40 Abs. 1a LFGB hatten von Anfang an Bedenken bestanden, auch von Fachgerichten, was zu einer (nicht unproblematischen) Nichtanwendung der Neuregelung führte. Die niedersächsische Landesregierung strengte eine abstrakte Normenkontrolle an, die nun zum Abschluss kam. Dass das Bundesverfassungsgericht über eine abstrakte Normenkontrolle zu entscheiden hat, ist selten. 2013 wurden drei solcher Verfahren anhängig gemacht, bei insgesamt 6.686 Verfahren, 2017 überhaupt keins. Die geringe Zahl ist aus drei Gründen nicht verwunderlich: Das Parlamentsgesetz nimmt ein hohes Maß an Legitimität für sich in Anspruch, der Kreis möglicher Antragsteller ist sehr klein, und die möglichen Antragsteller sind selbst in das vorherige Gesetzgebungsverfahren verstrickt. Dass es nun zu einem solchen Verfahren kam, liegt auch daran, dass hier der Bundesgesetzgeber den Landesbehörden eine Pflicht ins Gesetz geschrieben hat. Sie müssen informieren, und wenn sie dabei einen Fehler machen, haften sie dafür. Aus Sicht der Unternehmen und Bürger, die von Veröffentlichungen möglicherweise nachteilig und rechtswidrig betroffen sind, war es eine gute Nachricht, dass die Norm auf diesem Weg nach Karlsruhe kam: Sie hätten sich sonst zuerst durch alle Instanzen klagen müssen, bevor  die Regelung mit einer Verfassungsbeschwerde verfassungsrechtlich überprüft werden könnte (sieht man von der Möglichkeit der Richtervorlage ab).

Der verfassungsrechtliche Maßstab ist hier das Grundrecht der Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG (Rn. 24 ff.). Veröffentlichungen nach § 40 Abs. 1a LFGB berührten die Berufsfreiheit zwar nicht unmittelbar, nach Ziel und Wirkung aber doch (Rn. 29). Die Information gegenüber dem Verbraucher verfolge den Zweck, diesem eine informierte Entscheidung zu ermöglichen, und dies wirke auf die Marktbedingungen für das einzelne Unternehmen zurück. Damit argumentiert der Senat „über Bande“: Der Eingriff ist so ein mittelbarer, obwohl das Informationshandeln der Behörde Unternehmen doch schon unmittelbar betrifft. Konstruktiv macht dies einen Unterschied, im Ergebnis wird in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG eingegriffen.

Dieser Eingriff könne verfassungsrechtlich nicht vollständig gerechtfertigt werden (Rn. 30). Der Senat entwickelt dies im Wege der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, ohne dem parlamentarischen Gesetzgeber ausdrücklich einen Gestaltungsspielraum zuzuerkennen. Eher kleinteilig prüft er, ob die Norm einen legitimen Zweck verfolgt und dazu geeignet und erforderlich ist. Er nennt verschiedene Ziele und hebt diejenigen hervor, die auf Grundrechte Dritter zurückgeführt werden können (Gesundheitsgefahren und Vertragsfreiheit gegenüber bloßer Verbraucherinformation über Hygienemängel). Noch vor der Prüfung der Geeignetheit wird sodann darauf eingegangen, dass die Beeinträchtigung des Unternehmens von großem Gewicht sein könne, dass die Intensität von der behördenseitigen Darstellung im Einzelfall abhänge und dass das Unternehmen selbst Einfluss auf die Lage habe (Rn. 34 ff.).

Geeignet zur Erreichung dieser Ziele ist die Information nach Ansicht des Senats nur, wenn sie zutrifft. Bei einem bloßen Verdacht dürfe von der Möglichkeit, die Öffentlichkeit zu informieren, „nur unter strengen Voraussetzungen Gebrauch gemacht werden“ (Rn. 42). An die Tatsachengrundlage des Verdachts seien von Verfassungs wegen hohe Anforderungen zu stellen: „Ein in tatsächlicher Hinsicht unaufgeklärter Verdacht der Behörde genügt nicht“ (Rn. 44 unter Verweis auf die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 17/7374, S. 20) – in Zeiten, in denen der Verdacht als Schwelle für staatliches Handeln aufgegeben oder kognitive Dissonanz akzeptiert wird, ist dies (wenn ernstgenommen) eine wichtige Klarstellung.

Der Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG liegt aber darin, dass die Norm unverhältnismäßig im engeren Sinne ist (Rn. 48 ff.). Hier kommt der Senat dem Gesetzgeber entgegen, indem er dessen Bewertung als „vertretbar“ bezeichnet und verfassungskonform auslegt,  um die Vorschrift zu retten. Das hilft aber nicht bei der fehlenden zeitlichen Begrenzung der Informationsverbreitung, denn diese sei zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne geboten. Der strenge Umgang mit dem Tatbestand des § 40 Abs. 1a LFGB wird ein Stück weit gerade deshalb eingefordert, weil der Behörde kein Ermessen eingeräumt ist (vgl. BT-Drs. 17/7374, S. 20), „(…) das sie nutzen könnte, um die Veröffentlichung auf hinreichend gewichtige Fälle zu beschränken“ (Rn. 50). Die Erwartungshaltung des Gesetzgebers gegenüber den Behörden, die den Gesetzgeber dazu gebracht hat, eine gebundene Entscheidung zu statuieren (vgl. Rn. 4; nicht sehr deutlich in BT-Drs. 17/7374, S. 19 f.), fällt damit auf den Gesetzgeber zurück. Nur Verstöße von hinreichendem Gewicht seien mitzuteilen. Dies trifft für die Überschreitung von Grenzwerten (Abs. 1a Nr. 1) zu, weil diese Werte bereits Erheblichkeitsschwellen berücksichtigen. Für Abs. 1a Nr. 2 werde das Gewicht durch die Kumulation mehrerer Anforderungen bestimmt: Es muss der Verdacht bestehen, dass entweder in nicht unerheblichem Ausmaß oder wiederholt gegen Vorschriften verstoßen worden sei. Außerdem müsse jeweils ein Bußgeld in Höhe von mindestens 350 Euro zu erwarten sein.

Entscheidend für die Unverhältnismäßigkeit der Regelung ist für den Senat – wie schon für die Fachgerichte –, dass es an einer zeitlichen Begrenzung der Informationsverbreitung fehlt (Rn. 56 ff.). Die Länge der Zeitspanne, in der eine Information zur Verfügung steht, habe Auswirkungen auf die Größe des Kreises der Verbraucher, die von dieser Information erreicht werden, wodurch die Belastung des Unternehmens zunehme, bei gleichzeitiger Abnahme der Aktualität der Information. Dass eine Information, die im Internet veröffentlicht ist, überhaupt nicht zurückgeholt werden kann, ändert daran nichts. Die damit verbundenen Risiken könnten begrenzt werden: Darstellung und Kontext der Information könnten einem Überwirken vorbeugen. Zudem unterliege  eine Sammlung früherer Bekanntmachungen durch Dritte  selbst eigenen gesetzlichen Anforderungen. Die zeitliche Begrenzung sei daher notwendig und nicht etwa anderweitig herzuleiten (Rn. 60), sondern gesetzlich zu regeln.

Der Fall ist indes nicht erledigt: Zum einen muss jetzt der Gesetzgeber wieder aktiv werden. Zum anderen muss die Regelung weiter vollzogen werden, was weitere Konflikte und damit Gerichtsurteile verursachen wird. Es steht zu erwarten, dass irgendwann auch der Europäische Gerichtshof auf den Plan tritt, weil die Regelung des § 40 Abs. 1a LFGB zweifellos unionsrechtlich eingerahmt wird – primärrechtlich wie auch sekundärrechtlich (hier in Art. 10, hier in Art. 7). Dem beugt der Senat vor, indem er auf das EU-Recht verweist und gleichzeitig seinen eigenen Prüfungsmaßstab verteidigt (Rn. 5, 19 ff.). Mehrfach hat sich der EuGH zu staatlicher und staatlich veranlasster Informationstätigkeit geäußert. Die Zeit wird es weisen.

Das Informationshandeln des Staates erschöpft sich nicht in behördlichen Warnungen (vgl. BVerfGE 105, 252 und 279). Das Spektrum ist weit – man denke an die Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen, Staatsanwaltschaften und Polizei auf verschiedenen Sendern und Kanälen (vgl. zuletzt BT-Drs. 19/1763, S. 2), Verfassungsschutzberichte, mehr oder weniger spektakuläre Einzelaktionen (etwa: „Rote Karte“; Löw/„Deutschland Archiv“), die Veröffentlichung von Unternehmensdaten sowie den (auf § 40 Abs. 1a LFGB bezogenen) „Hygienepranger“, den es als solchen auch nach der neuesten Entscheidung des Ersten Senats nicht geben kann. Wer in einem dieser Zusammenhänge von staatlichen Behörden genannt wird, kann schnell vor dem Abgrund stehen (selten vor einer großen Zukunft). Der Ruf der Transparenz ist verlockend: Nicht nur sollen staatliche Entscheidungsträger zur Verantwortung gezogen werden können, indem sie sich erklären, sich rechtfertigen müssen, sondern der Staat ist auch zu einem Vermittler von Transparenz geworden, wenn er privaten Dritten Transparenz- und Informationspflichten auferlegt, damit für Bürger, Verbraucher, Interessierte etwas leistet und sich schon durch Information selbst legitimiert – nicht nur durch Gesetze, Genehmigungen, Geldzahlungen, Gerichtsentscheidungen. Die rechtliche Aufarbeitung solchen Handelns ist kein leichtes, geschweige denn schnell gelingendes Unterfangen und wird nicht weniger kritisch begleitet als das Informationshandeln selbst (vgl. Schoch, NVwZ 2011, 193). Der parlamentarische Gesetzgeber muss mit spezialgesetzlichen, verfassungsmäßigen Regelungen jedenfalls vorlegen. Der Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts ist ein weiterer Baustein für die Dogmatik zum Informationshandeln des Staates, damit dieser nicht auf Sand baut.


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