14 December 2020

Frei, aber nicht unabhängig

Zur Stellung der Staatsanwaltschaft im System der Gewaltenteilung

Im Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass deutschen Staatsanwälten die notwendige Unabhängigkeit fehle, um einen Europäischen Haftbefehl auszustellen. Als Reaktion darauf plant die Bundesjustizministerin nun, ministerielle Einzelzuweisungen an die Staatsanwaltschaften für die EU-Zusammenarbeit in Strafsachen im Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich auszuschließen. Eine solche „quasi-richterliche Unabhängigkeit“ geht jedoch nicht nur am eigentlichen Problem vorbei, sondern liefe auch der staatsrechtlichen Einordnung der Staatsanwaltschaft im System der Gewaltenteilung zuwider.

Zurechtweisung aus Luxemburg

Die europäischen Richter bemängelten das Weisungsrecht der Justizminister in Einzelfällen. Aufgrund dieses Weisungsrechts, so der EuGH in seiner Entscheidung, seien deutsche Staatsanwälte nicht unabhängig genug, um einen Europäischen Haftbefehl anordnen zu dürfen. Ein Europäischer Haftbefehl beeinträchtigt die Freiheitsrechte des Einzelnen tatsächlich in einem noch stärkeren Maß als ein nationaler Haftbefehl: Er wird in einem Land vollstreckt, das nicht die Ermittlungen betreibt, was in den meisten Fällen zur Vollstreckung einer Auslieferungshaft führt, wobei die Frage möglicher Verschonung von der Haft nahezu unmöglich ist. Der deutsche Gesetzgeber hätte sich deswegen von vornherein Gedanken darüber machen müssen, warum eigentlich ein innerstaatlicher Haftbefehl nur von einem Richter erlassen werden darf, wohingegen der Erlass eines Europäischen Haftbefehls durch Staatsanwälte möglich sein soll.

Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Versäumnis ganz praktische Gründe hat. Ein Europäischer Haftbefehl ist – wie der nationale Haftbefehl auch – naturgemäß ein Instrument mit besonderer Eilbedürftigkeit. Dieser Eilbedürftigkeit wird Rechnung getragen, indem der Europäische Haftbefehl bei einer Anordnung durch die ermittelnde Staatsanwaltschaft deutlich schneller geschaffen ist, insbesondere wenn nicht noch ein Richter zur Entscheidung einzubinden ist und der Sachverhalt diesem zunächst einmal vorgetragen werden muss.

Da die Kritik aus Luxemburg die deutsche Justiz vollkommen überraschend traf, war für die Ermittlungsbehörden Eile geboten. Es ging darum, das Institut des Europäischen Haftbefehls auch für die deutschen Ermittlungsbehörden als Instrument zur EU-weiten Durchsetzung nationaler Haftbefehle aufrecht zu erhalten. Daher wurde die Anordnungsbefugnis des Europäischen Haftbefehls dem Ermittlungsrichter übertragen. Demjenigen Richter also, der auch für die Anordnung von nationalen Haftbefehlen zuständig ist. Obwohl damit das deutsche System weiterhin systemimmanent handlungsfähig war, war diese Lösung für die Ermittlungsbehörden nicht zufriedenstellend und lediglich aus der Not geboren.

Am Problem vorbei

Doch statt sich nun des Themas anzunehmen, dass die richterliche Kontrolle einer derart freiheitsbeschränkenden Ermittlungsmaßnahme zwingend notwendig ist, wird vielmehr über Möglichkeiten nachgedacht, die Stellung der deutschen Staatsanwaltschaft im Justizgefüge so zu gestalten, dass sie auch nach europarechtlichen Vorgaben Europäische Haftbefehle erlassen können.

Darauf zielt auch der Vorschlag der Bundesjustizministerin ab, ministerielle Einzelzuweisungen an die Staatsanwaltschaften für die EU-Zusammenarbeit in Strafsachen im Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich auszuschließen. Sie scheint damit die Häufigkeit und den Stellenwert der europäischen Zusammenarbeit in Strafsachen zu verkennen. Es gibt kaum ein größeres Strafverfahren, das nicht europäische Bezüge hat. Das Vorhaben der Bundesjustizministerin hat deshalb den Anschein eines Täuschungsmanövers: Es will das ministerielle Weisungsrecht auf dem Papier beibehalten und für bestimmte Strafverfahren aushöhlen. Es ist auch nicht zu verstehen, warum ausgerechnet in europäischen Verfahren eine innerstaatliche demokratische Kontrolle der Staatsanwaltschaft abgeschafft werden soll. Das gilt umso mehr, wenn Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die zu innerdeutscher Kontrolle europäischer Entscheidungen anmahnen, ernst genommen werden sollen.

Hinzu kommt, dass die Diskussion um die Abschaffung des justiziellen Weisungsrechts Wasser auf die Mühlen derjenigen ist, die schon seit langem die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft einfordern. So hat zum Beispiel Thüringen im November 2020 im Bundesrat einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der eine Beschränkung des Weisungsrechts der Landesjustizverwaltungen gegenüber den Staatsanwaltschaften anregt. Eine Weisung soll nur dann erfolgen, wenn ein Staatsanwalt rechtswidrig gehandelt hat und schriftlich dokumentiert und begründet werden. Es bleibt abzuwarten, was von diesem Entwurf am Ende des Tages übrigbleiben wird. Eine Dokumentationspflicht wäre in jedem Falle wünschenswert. Sie wäre ein rechtsstaatliches Plus, weil damit dem von der Weisung betroffenen Staatsanwalt auch die Möglichkeit der Erwiderung eröffnet und so der Weg für eine rechtsstaatliche Kontrolle der Weisung frei wäre.

Unabhängig ist nur der Richter

Wer die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft fordert, verkennt jedoch, dass sie Teil der Exekutive ist. Ihre Einbindung und Eingliederung in die Justiz ändert daran nichts. Das Strafprozessrecht kennt keine „Unabhängigkeit der Justiz“, sondern nur einen unabhängigen Richter. Aus guten Gründen beschränkt Art. 97 Abs. 1 GG die Garantie der Unabhängigkeit auf Richter. Mithin gilt dies also nicht etwa für die Justiz an sich.

Die nicht-unabhängige Staatsanwaltschaft, die an Weisungen gebunden ist, begründet sich in der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Grundsatz wie folgt erklärt: „Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (verlangt), dass ein Staatsorgan, das eine Entscheidung zu treffen hat, dafür die Verantwortung trägt. Verantwortung kann nicht tragen, wer in seiner Entscheidung inhaltlich in vollem Umfang an die Willensentscheidung eines anderen gebunden ist.“ Wenn der Minister oder die Ministerin eine Verantwortung zu tragen hat, dann muss sie das Handeln auch beeinflussen können. Gerade die Weisungsbefugnis macht die parlamentarische Kontrolle möglich. Die Funktionen der – auch in ihren Ermittlungshandlungen – ausführenden Staatsanwaltschaft müssen klar von der rechtsprechenden Gewalt getrennt bleiben. Nur so kann ein demokratisches Legitimationsniveau sichergestellt werden, das Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gerecht wird.

Es ist richtig, dass die Staatsanwaltschaft eine Sonderstellung im justiziellen System innehat, dass sie zwar ein Teil der Exekutive ist, aber dennoch keine Verwaltungsbehörde. Diese Sonderstellung enthebt sie aber nicht der demokratisch-parlamentarischen Kontrolle. Das Grundgesetz ist diesbezüglich abschließend. Eine unsaubere Trennung der Funktionen der ermittelnden Staatsanwaltschaft und der rechtsprechenden Gewalt und eine daraus abgeleitete Anerkennung einer quasi-richterlichen Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft würde die staatsrechtliche Einordnung der Staatsanwaltschaft im System der Gewaltenteilung ins Wanken bringen. Hierfür gibt es keinen Grund. Die vorgeschlagenen Änderungen würden also weitreichendere Folgen haben als beabsichtigt. So könnten Staatsanwaltschaften künftig vorbringen, dass es einer richterlichen Kontrolle von Maßnahmen nicht bedürfe, wo die Unabhängigkeit der Entscheidung durch die institutionelle Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft bereits garantiert sei.

Kein Handlungsbedarf

Der seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus Mai 2019 praktizierte Umgang mit Europäischen Haftbefehlen ist nicht nur dem deutschen Recht immanent, sondern auch europarechtskonform. Erst letzten Dienstag hat der EuGH entschieden, dass die deutsche Staatsanwaltschaft Europäische Ermittlungsanordnungen (EEA) nach der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung erlassen darf. Eine EEA ist ein Ersuchen der Ermittlungsbehörde eines europäischen Staates über die Erlangung von Beweismitteln, die in einem anderen europäischen Staat generiert worden sind. Der Europäische Gerichtshof hat hierzu erklärt, dass es im Vergleich zum Erlass von Europäischen Haftbefehlen bei diesen Anordnungen unerheblich sei, dass die deutsche Staatsanwaltschaft ministeriellen Einzelweisungen unterworfen werden könne. Nach dieser Entscheidung darf die deutsche Staatsanwaltschaft im Sinne der Richtlinie eine Europäische Ermittlungsanordnung anordnen. Das Ziel der Europäischen Ermittlungsanordnung sei es nämlich, Beweismittel zu erlangen. Dies sei nicht so eingriffsintensiv wie der Europäische Haftbefehl, der zur Festnahme und Übergabe einer Person für ein Strafverfahren oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe notwendig ist. Außerdem seien in der Validierung solcher Anordnungen eine Reihe von Mechanismen zum Schutz der Grundrechte eines Betroffenen enthalten, wodurch eine Anordnung durch die Staatsanwaltschaft unproblematisch sei. Und damit schließt sich der Kreis im Wesentlichen. Denn die Validierung einer solchen Anordnung unterliegt im europäischen Recht einem Gericht, einem Richter oder einem Ermittlungsrichter und damit nicht etwa einer Justizbehörde.

Wenn also schon ein weniger invasives Mittel einem quasi-Richtervorbehalt unterliegt, wäre doch die deutlich einschneidendere Maßnahme eines Europäischen Haftbefehls erst Recht in dieses System einzugliedern und dürfte die nicht enden wollende Diskussion um die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft dementsprechend nicht weiter unterhalten.

Unparteilich bedeutet nicht frei von Kontrolle

Die Arbeit der Staatsanwaltschaft muss – ebenso wie das interne und externe Weisungsrecht der vorgesetzten Behörde und des Justizministers – in enger Bindung an Recht und Gesetz und frei von politischen Einflüssen erfolgen. Dies muss selbstverständlich auch im europäischen Kontext gelten. Und selbstverständlich ist das Vertrauen der Öffentlichkeit in eine unparteiliche Staatsanwaltschaft wichtig. Die Unparteilichkeit staatsanwaltlicher Ermittlungen ist bereits ein Gebot der Strafprozessordnung (§ 160 Abs. 2 StPO: „Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln“). Unparteilichkeit ist aber nicht gleichzusetzen mit Unabhängigkeit im Sinne einer Freiheit von parlamentarischer Verantwortlichkeit und Kontrolle.


One Comment

  1. Thomas Groß Sat 19 Dec 2020 at 15:06 - Reply

    Es ist zweifellos fragwürdig, wenn das Bundesjustizministerium die Weisungsunabhängigkeit der Staatsanwaltschaft auf die Anwendung des EU-Haftbefehls beschränken will. Die Argumente gegen eine generelle Unabhängigkeit von der Regierung gehen jedoch an der Problematik vorbei. Die Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur Exekutive ist eine historisch kontingente Entscheidung, die nicht durch das Gewaltenteilungsprinzip vorgegeben ist. Dies sieht man daran, dass die Staatsanwaltschaft in vielen anderen Ländern der Justiz zugeordnet ist (z.B. Art. 90a B-VG Österreich). Politisch motivierte Einflussnahmen auf Ermitlungen sind nicht nur in Polen oder den USA ein Problem, sondern können auch in Deutschland vorkommen, bleiben aber in der Intransparenz der Hierarchie verborgen. Auf der anderen Seite müsste eine von den Justizministerien abgekoppelte Staatsanwalt keineswegs ein kontrollfreier Raum sein, sondern sie könnte direkt dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig sein, und auch die gerichtliche Kontrolle könnte ausgeweitet werden. Informieren wir uns über europäische Lösungen, anstatt jeden Reformimpuls abzuwehren, nur weil es keine öffentlichen Skandale gibt.

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