Brot statt Böller
Zur Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.2020 (2 BvR 1845/18 und 2 BvR 2100/18) – Europäischer Haftbefehl III
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in einem Beschluss vom 1.12.2020, der am heutigen Mittwoch veröffentlicht wurde, vor Abschluss dieses turbulenten Jahres noch einmal ein kraftvolles Zeichen gesetzt. Er folgt der neuen Linie des Ersten Senats aus dem Fall Recht auf Vergessen II und wendet nun ebenfalls unmittelbar die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) als Maßstab für eine Verfassungsbeschwerde an, wenn das Unionsrecht den Sachverhalt so dominiert, dass sein Anwendungsvorrang im Grundsatz auch die Grundrechte des Grundgesetzes verdrängt. Konkret hob er Beschlüsse des Berliner Kammergerichts und des Oberlandesgerichts Celle auf, die es gestattet hätten, zwei per Europäischem Haftbefehl verlangte Auslieferungen nach Rumänien durchzuführen. Diese verstießen nach Ansicht des Senats wegen der Haftbedingungen, die die Betroffenen dort zu erwarten hätten, gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung aus Art. 4 GRCh. Damit stärkt der Senat gleichzeitig den Rechtsschutz für die Betroffenen und dämmt einige möglicherweise konfliktträchtige Anwendungsfälle der Identitätskontrolle ein.
Die grundsätzliche Bedeutung des Beschlusses wird klar, wenn man ihn mit einer sehr ähnlichen, auch schon richtungsweisenden Entscheidung vom 15.12.2015 vergleicht. Damals ging es ebenfalls um eine Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls – damals nach Italien, wo der Betroffene in Abwesenheit zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte den EuGH nicht per Vorabentscheidungsersuchen gefragt, ob das mit der Grundrechtecharta vereinbar sei. Dies hätte der Senat schlicht zum Anlass nehmen können, einen Entzug des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) festzustellen und bei der Gelegenheit seine eigene Meinung zu der Materie niederzuschreiben. Das OLG hätte die Vorlage dann nachholen müssen und bei der Gelegenheit die Karlsruher Auffassung nach Luxemburg übermittelt. Dort hätte man sich gut überlegen müssen, ob man die Rechtsfrage noch einmal so stiefmütterlich behandelt wie zuvor bei der spanischen Vorlage im Fall Melloni. Das wäre umständlich gewesen, hätte viel Zeit gekostet (was extrem misslich ist, wenn jemand in Auslieferungshaft sitzt) und am Ende vielleicht einen noch größeren Konflikt heraufbeschworen. Stattdessen wurde der Fall zum Anlass genommen, um die Dogmatik des Art. 23 GG ein bisschen nachzuspitzen: Anstelle der spätestens seit dem Bananenmarktbeschluss stumpfen Rüge, dass der Grundrechtsschutz auf EU-Ebene insgesamt auf ein Niveau abgesunken sei, das den Mindestanforderungen des Bundesverfassungsgerichts aus Solange II nicht mehr genüge, steht jetzt in jedem Einzelfall die größte Kanone des Grundgesetzes zur Verfügung: die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) als Teil der Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) und diese wiederum als integrationsfester Identitätskern des Grundgesetzes (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG). Seither ist in Konstellationen, die vollständig vom EU-Recht geprägt sind und daher auch die Anwendung der Grundgesetze des Grundgesetzes nicht erlauben, der (nicht mit dem blassen Wesensgehalt nach Art. 19 Abs. 2 GG zu verwechselnde) „Menschenwürdekern“ jedes Grundrechts in den Mittelpunkt gerückt – hat man diesen herausgearbeitet, steht einer vormals unzulässigen Verfassungsbeschwerde nichts mehr im Wege. Im Erfolgsfall sticht der Höchstwert des Grundgesetzes den Anwendungsvorrang des Unionsrechts, und auch unmittelbar anwendbare, zwingende Rechtsakte der EU wie Europäische Haftbefehle dürfen in Deutschland nicht vollzogen werden. Freilich hat dies den rechtsdiplomatisch unschönen Nebeneffekt, dass man zum einen anderen EU-Mitgliedstaaten – im konkreten Fall dem Gründungsmitglied Italien – Verstöße gegen die Menschenwürde vorwerfen muss, um effektiv intervenieren zu können. Zum zweiten holt man die Frage nach der Normenhierarchie und den Streit um das letzte Wort aus dem Giftschrank, was damals nur deshalb keinen ähnlichen Aufschrei wie dieses Jahr beim PSPP-Urteil erzeugte, weil es keinen direkten Widerspruch zur EuGH-Rechtsprechung gab (dafür hätte es ja die vom OLG versäumte Vorlage gebraucht).
Demgegenüber bietet die jetzige Lösung den Vorteil, dass sie den Handlungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts ausweitet und dennoch als integrationsfreundlicher wahrgenommen werden wird. Der Zweite Senat übernimmt dazu per Verweis ohne eigenständige Argumentation die in Luxemburg sehr positiv aufgenommene Auslegung des Ersten Senats, dass rügefähige Grundrechte im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG auch solche der GRCh sind (Rn. 36; vgl. zu den Gesichtspunkten, warum das problematisch ist, meine Analyse in JURA 2020, 479). Andererseits zitiert er aus seinem umstrittenen PSPP-Urteil das Postulat, dass die EU „ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund“ sei, innerhalb dessen das Bundesverfassungsgericht „den Grundrechtsschutz in enger Kooperation mit dem Gerichtshof der Europäischen Union […], dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Verfassungs- und Höchstgerichten der anderen Mitgliedstaaten“ gewährleiste (Rn. 38 des aktuellen Beschlusses). Damit verbindet er (wenn auch ohne direktes Zitat) eine Referenz an die CILFIT-Rechtsprechung des EuGH bzgl. „actes clairs“ und „actes éclairés“ und streicht heraus, dass wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh EGMR-Judikatur und wegen Art. 52 Abs. 4 GRCh auch „Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungs- und Höchstgerichte zu Grundrechten“ die Offenkundigkeit der richtigen Auslegung der Grundrechtecharta begründen könne. Ein möglicher Konfliktpunkt ist insoweit, wie detailliert der EuGH dem EGMR bei Chartarechten, die solchen in der EMRK entsprechen, folgen muss (hier nimmt Luxemburg sich tendenziell mehr Beinfreiheit heraus, als die Entstehungsgeschichte und die Erläuterungen zur Charta es nahelegen). Noch interessanter ist jedoch die bisher am Kirchberg völlig ausgeklammerte letztgenannte Bestimmung, die das Bundesverfassungsgericht dazu nutzen könnte, nach Rechtsvergleichen im Stil von Rn. 125 des PSPP-Urteils „actes clairs“ festzustellen. Die Identitäts- und die Ultra-vires-Kontrolle bleiben zwar unberührt (Rn. 40); ihre Anwendung in grundrechtlichen Fragen ist jedoch deutlich unwahrscheinlicher geworden, da sich nach dem Ersten jetzt auch der Zweite Senat auf das Spielfeld des Charta-Dogmatik begeben hat. Damit ist Karlsruhe jetzt definitiv mehr als der vom damaligen Verfassungsrichter Udo Steiner kurz nach dem Bananenmarktbeschluss in der Festschrift für Hartmut Maurer (2001) apostrophierte „Auswechselspieler mit geringer Einsatzchance“. Die Gefahr eines Spielabbruchs wegen Böllerwürfen auf das Spielfeld ist aber auch wieder ein wenig kleiner geworden.
Für die einzelnen Rechtsschutzsuchenden, denen das Bundesverfassungsgericht im Anwendungsbereich des Unionsrechts meist Steine statt Brot geboten hatte, ist der Beschluss eine gute Nachricht. Das Gericht nutzt ihnen als Mitspieler mit überschaubaren, auch nachsichtig interpretierbaren Zulässigkeitsvoraussetzungen für Verfassungsbeschwerden (vgl. Rn. 41) deutlich mehr. Auch für das Verhältnis zwischen Karlsruhe und Luxemburg ist es gut, dass einstweilen auch der Zweite Senat sich nicht mehr zu aggressiver Rhetorik gezwungen sieht, um die (zu Recht) hohen Hürden der Ultra-vires- und Identitätskontrolle zu überwinden, sondern subtilere und rechtspolitisch erfolgversprechendere Einflussmöglichkeiten wahrnimmt.
Es ist erfreulich und entspricht einem langjährigen Postulat, dass die Charta mittlerweile – zwanzig Jahre nach Ausarbeitung im Grundrechtekonvent, an der ich mitwirken durfte, und Proklamation und gut zehn Jahre nach Inkrafttreten – ernst genommen und rechtspraktisch immer mehr angewendet wird. Taking rights seriously … Gleichwohl bleibt es erstaunlich und erklärungsbedürftig, warum sich die deutsche Rechtswissenschaft und -praxis so lange Zeit ließen, und es in den ersten Jahren nur spärlich zu Publikationen zur Charta kam, die zum Gutteil noch durch eine gewisse Abwehrhaltung geprägt waren. Aufgrund aktueller Recherchen zu diversen “NS-Belastungen” ist für mich der Kontrast zu der Flut an Veröffentlichungen 1933 ff., zur sich geradezu überstürzenden Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung am nationalsozialistischen (Un)Recht, eklatant. Vielleicht ein anderer “Zeitgeist”, see Christopher Clark (“Von Zeit und Macht”), vielleicht eine Fortwirkung des Ungeistes in der Tiefenschicht?