10 March 2021

Über Richten und Schlichten

Einigung der Bundesregierung mit den Energieversorgern zum Atomausstieg

Am Freitag, 5. März 2021, gaben die drei zuständigen Bundesministerien in einer Pressemitteilung bekannt, dass sich die Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall auf Ausgleichzahlungen für den Atomausstieg geeinigt habe. Die Einigung ist insbesondere für das noch anhängige investitionsschutzrechtliche Verfahren Vattenfall gegen Bundesrepublik Deutschland vor einem internationalen Schiedsgericht von großer Bedeutung. Dieses Verfahren war nach fast neun Jahren Verfahrensdauer mutmaßlich in den Endzügen und schluckte 22 Mio. Euro Steuergelder allein für die Prozesskosten. Da es nun aufgrund der Einigung außerhalb des Verfahrens kein Ergebnis liefern wird, diente es womöglich jahrelang nur als Drohkulisse. Der im internationalen Energiechartervertrag stark ausgestaltete Schutz ausländischer Investoren hätte so – trotz fehlender Entscheidung in der Sache – Druck auf die Regelung der Ausgleichszahlungen für Vattenfall ausgeübt.

Aber egal ob das Verfahren schlussendlich eine Drohwirkung hatte oder bedeutungslos war: Das investitionsschutzrechtliche Verfahren ist in jedem Fall abzulehnen. Im Gegensatz hierzu war das Verfahren vor dem BVerfG schnell, rechtssicher und im Ergebnis fair: Das BVerfG hat einen angemessenen Ausgleich zwischen Eigentumsfreiheit und den gesellschaftlichen Verpflichtungen des Privateigentums herstellen können. Die Einigung der Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen nimmt nun eine abschließende Kalkulation der notwendigen Ausgleichszahlungen vorweg. Zuvor war mehrfach darauf hingewiesen worden, dass eine genaue Berechnung durch das Bundesumweltministerium erst im Jahr 2023 erfolgen könne, wenn alle Atomkraftwerke vom Netz gegangen sind. Während das Verfahren vor dem Schiedsgericht jeder Notwendigkeit entbehrte, weil das Verfahren vor dem BVerfG ausreichenden Rechtsschutz lieferte, kürzt es die rechtsstaatliche Abwicklung des Atomausstiegs nun womöglich in fragwürdiger Weise ab.

Die Einigung

Über die genauen Details der Einigung ist noch nicht viel bekannt, aber die Eckpunkte stehen fest: Die Bundesrepublik Deutschland zahlt einen Ausgleich in Höhe von insgesamt etwa 2,428 Mrd. Euro (1,425 Milliarden Euro an Vattenfall, 880 Millionen Euro an RWE, 80 Millionen Euro an EnBW und 42,5 Millionen Euro an E.ON/PreussenElektra). In Bezug auf Vattenfall und RWE dienen die Zahlungen als Ausgleich für Reststrommengen, welche die Unternehmen nicht mehr in konzerneigenen Anlagen erzeugen können. RWE, EnBW, E.ON/PreussenElektra sollen die Zahlungen zudem als Ausgleich für Investitionen bekommen, welche die Unternehmen im Vertrauen auf die 2010 in Kraft getretene Laufzeitverlängerung getätigt hatten, die dann nach den Ereignissen von Fukushima entwertet wurden. Im Gegenzug sollen alle anhängigen Klageverfahren einschließlich des anhängigen Schiedsverfahrens einvernehmlich bei Tragen der jeweils eigenen Kosten sowie hälftiger Teilung der Gerichtskosten beendet werden.

Parallele Verfahren vor BVerfG und Schiedsgericht

Im Jahr 2012 initiierte Vattenfall ein Schiedsverfahren auf Grundlage des Energiechartavertrags vor einem Schiedsgericht, das nach den Regeln des Übereinkommens vom 18. März 1965 zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (ICSID-Konvention) gebildet wurde. Der Energiechartavertrag, der 1998 in Kraft trat, ist ein multilateraler Vertrag, der Regelungen für Handel, Transit und Investitionsschutz im Energiesektor enthält. Vattenfall argumentierte, dass Deutschland den Energiechartavertrag verletzt habe als es mit der 13. Atomgesetznovelle den Atomausstieg nach dem Reaktorunfall in Fukushima besiegelte. Vattenfall hält Anteile an zwei Atomkraftwerken: Krümmel (50 Prozent) und Brunsbüttel (66,6 Prozent). Die Klageforderung belief sich zuletzt auf mit rund 6 Mrd. Euro inklusive Prozesszinsen. Fast gleichzeitig erhob Vattenfall Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG).

Der Erste Senat des BVerfG urteilte am 6. Dezember 2016, dass die 13. Atomgesetznovelle im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das BVerfG hatte sich im Kern des Urteils mit der dogmatischen Frage der Abgrenzung zwischen Enteignungen und Inhalts- und Schrankenbestimmungen auseinanderzusetzen. Es hielt die Regelungen der Atomgesetznovelle nicht für Enteignungen gemäß Art. 14 Abs. 3 GG. Vielmehr nahm es an, die angegriffenen Bestimmungen der 13. Atomgesetznovelle seien Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums i. S. d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Während Enteignungen immer einer Entschädigung bedürfen, sind Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums grundsätzlich nicht zu entschädigen. Sie können jedoch eine Ausgleichspflicht nach sich ziehen, wenn eine Verhältnismäßigkeitsprüfung dies ergibt oder wenn die betreffende Regelung sich nicht als gleichheitsgerecht und vertrauensschutzwahrend erweist. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Übergangs- und Ausgleichsregelungen stets Entschädigungszahlungen gegenüber vorzugswürdig sind. Das BVerfG wägte die Regelungen ausführlich hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Allgemeininteresse und der Beschränkungen des Eigentums der AKW-Betreiber ab. Bei zwei von drei Regelungen kam es zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber Nachbesserungen vornehmen müsse, die auch eine Ausgleichspflicht nicht ausschließen. Das BVerfG verpflichtete daher den Gesetzgeber, bis spätestens 30. Juni 2018 eine Neuregelung zu treffen.

Die vom BVerfG geforderte Neuregelung durch den deutschen Gesetzgeber aus dem Jahr 2018 wurde in der 16. Atomgesetznovelle niedergeschrieben. Hiergegen legte Vattenfall erneut Verfassungsbeschwerde ein, der das BVerfG in seiner Entscheidung von 29. September 2020 stattgab (dazu auch Ludwigs). Die 16. Atomgesetznovelle scheiterte bereits an formalen Gründen, weil sie mangels einer als notwendigen Bedingung formulierten Genehmigung durch die Europäische Kommission nicht in Kraft trat. In der Sache stellte das BVerfG fest, dass die getroffene Neuregelung eines Ausgleichs nicht verstromter Elektrizitätsmengen (§ 7f Atomgesetz) den Verstoß gegen das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG aber auch nicht beheben könnte. Die 16. Atomgesetznovelle verknüpfte eine mögliche Ausgleichszahlung durch den Staat mit einer Bemühensobliegenheit für die Energiekonzerne, ausgleichsfähige Elektrizitätsmengen zu angemessenen Bedingungen auf andere Unternehmen zu übertragen. Das BVerfG hielt diese Regelung für unzumutbar, weil für die Energiekonzerne nicht ersichtlich sei, wann sie dieser Verpflichtung gerecht würden. Darüber hinaus sieht § 7f (1) Atomgesetz vor, dass Vattenfall einen angemessenen Ausgleich in Geld für die Hälfte der Reststrommengen verlangen darf, die das Kernkraftwerk Krümmel nicht verbraucht oder auf einen anderen Reaktor übertragen hat. Bei Brunsbüttel sind es zwei Drittel der Reststrommenge. Diese Regelung hielt das BVerfG für zu unbestimmt, da mehrere Gesellschaften an den AKWs beteiligt sind, wovon nur eine ausgleichsbefugt ist.

Im Ergebnis bleibt daher der Gesetzgeber weiterhin zur „alsbaldigen Neuregelung“ verpflichtet, um die bereits im Urteil vom 6. Dezember 2016 festgestellten Grundrechtsverstöße zu beseitigen. Nach der Einigung vom 5. März 2021 soll diese nun mit den Gremien der Energiekonzerne und der Europäischen Kommission abgestimmt werden und danach in Gesetzesform gegossen werden. Welche Regelungen dieses Gesetz im Einzelnen enthalten wird, ist nicht bekannt, da die Pressemitteilung nur das Ergebnis in €/MWh Preis gegeben hat, nicht aber welche Erwägungen dem zugrunde liegen.

Der Unterschied zwischen Grundgesetz und Energiechartavertrag

Bei einem Vergleich der Ergebnisse der Verfassungsbeschwerden der Energiekonzerne vor dem BVerfG und des investitionsschutzrechtlichen Rechtsstreits vor dem Schiedsgericht zeigt sich, dass sowohl der jeweilige Rechtsschutz andere Ziele verfolgt als auch substantiell das Schiedsgericht auf der einen Seite und das BVerfG auf der anderen Seite zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können.

Nach deutschem Verfassungsrecht darf bei Verletzung des Eigentumsgrundrechts der Geschädigte die Rechtsverletzung nicht einfach hinnehmen und sodann eine Entschädigung verlangen. Vielmehr muss zunächst gegen das die Rechtsverletzung verursachende Gesetz geklagt und erst in einem zweiten Schritt eine Entschädigung gerichtlich eingeklagt werden. Im Investitionsschutzrecht kann ein Geschädigter hingegen die Rechtsverletzung schlicht dulden, ohne gegen sie selbst vorzugehen und bereits in einem ersten und einzigen Schritt vor einem Schiedsgericht Schadenersatz einklagen. Darüber hinaus fällt eine Entschädigung für Enteignungen nach dem Energiechartavertrag regelmäßig höher aus als nach dem Grundgesetz, da im Energiechartavertrag der Grundsatz der vollen Kompensation gilt. Nach dem Grundgesetz können hingegen Entschädigungen unter Berücksichtigung von Allgemeinwohlinteressen geringer ausfallen.

Hinzu kommen klar hervortretende Unterscheidungen in der Enteignungsdogmatik nach dem Grundgesetz und derjenigen nach dem Energiechartavertrag. So gibt es insbesondere im Grundgesetz grundsätzlich keine Entschädigungspflicht für Inhalts- und Schrankenbestimmungen, die dem Begriff einer indirekten Enteignung im Sinne des Investitionsschutzrechts entsprechen würden. Die Rechtmäßigkeit einer Inhalts- und Schrankenbestimmung des Grundgesetzes hängt von ihrer Verhältnismäßigkeit ab. Gleichwohl können rechtmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmungen Entschädigungen nach dem Investitionsschutzrecht auslösen. Im Urteil zu den Verfassungsbeschwerden der Energiekonzerne hat das BVerfG auch klar Position zu der Frage bezogen, ob eine Enteignung einen sogenannten Güterbeschaffungsvorgang auf Seiten des Staates oder Dritter bedarf. Ein Güterbeschaffungsvorgang erfordert, dass sich der Staat das entzogene Eigentum auch aneignet oder einem Dritten verschafft. Durch Bestätigung dieses Kriteriums, hat es die Abgrenzung zwischen Enteignungen und Inhalts- und Schrankenbestimmungen noch weiter präzisiert. Während in der deutschen Eingriffsdogmatik Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Grundsatz somit keines Ausgleichs bedürfen, ist im Investitionsschutzrecht das Regel-Ausnahmeverhältnis genau umgekehrt, weil entsprechende Bestimmungen in die Kategorie einer indirekten Enteignung fallen. Das BVerfG hat sich dagegen entschieden, die Atomgesetznovelle dogmatisch als (indirekte) Enteignung einzuordnen und stellt sich damit der Rechtsprechung internationaler Investitionsschiedsgerichte entgegen.

Das Vattenfall-Verfahren zeigt die Divergenzen, die zwischen der verfassungsrechtlichen und investitionsschutzrechtlichen Bewertung eines Sachverhalts bestehen könnten, auf. Ein Staat kann im Rahmen eines Investor-Staat-Schiedsverfahrens dazu verpflichtet werden für Maßnahmen, die nach dem deutschen Recht zulässig sind, Entschädigungen zu zahlen. Ein Schadensersatz hätte in diesem Fall dem vollen Marktwert zu entsprechen und fiele damit deutlich höher aus als eine Ausgleichspflicht, die auf Grundlage einer Inhalts- und Schrankenbestimmung zu erfolgen hätte.

Im Kern schützt das Investitionsschutzrecht das Eigentum ausländischer Investoren vor vielfältigen staatlichen Eingriffen. Dieser Fokus auf einen starken Eigentumsschutz ist in der Vergangenheit in der Schiedsrechtsprechung verstärkt worden, sodass andere Interessen als diejenigen des Investitionsschutzes kaum Berücksichtigung fanden. Dieser Unausgeglichenheit, die in den materiellen Bestimmungen in Kombination mit der Investor-Staat-Streitbeilegung angelegt ist, werden sich Staaten und Zivilgesellschaft zunehmend bewusst. Das Investitionsschutzregime hat einen internationalen Eigentumsschutz für ausländische Investoren hervorgebracht, der beispiellos ist. Der Energiechartavertrag ist nur ein Abkommen unter vielen. Die grundlegenden Defizite des Energiechartavertrags will die Bundesregierung nicht – wie derzeit durch eine Petition gefordert – durch eine Kündigung des Investitionsschutzabkommens beheben; stattdessen nimmt sie an derzeit stattfindenden Verhandlungen zur Modernisierung des Vertrags teil.

Fazit

Das internationale Investitionsschutzrecht ist seit den öffentlichen Auseinandersetzungen um TTIP und CETA in den vergangenen Jahren Gegenstand erhöhter gesellschaftspolitischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit geworden. Die Aktualität und Dynamik des internationalen Investitionsschutzrechts verleihen dem Verhältnis von Investitionsschutzrecht und innerstaatlichem Recht eine besondere Sprengkraft. Während im Rahmen moderner Verfassungsstaaten der Ausgleich zwischen Freiheit und gesellschaftlicher Verpflichtung des Privateigentums fortwährend Gegenstand intensivster gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist, konnten Investitionsschutzabkommen völlig losgelöst von gesellschaftlichen Diskursen eine gänzlich neue Eigentumsordnung für ausländische Investoren formulieren. Die stetig neue Verhandlung dieser Auseinandersetzungen in einem mehrheitsfähigen Eigentumskompromiss ist eine spezifisch demokratische Errungenschaft unserer Verfassungsstaaten. Das Vattenfall Verfahren vor dem ICSID-Schiedsgericht hat in den vergangenen Jahren sowohl in Fachkreisen, aber auch außerhalb, sehr viel Aufmerksamkeit erfahren. Wenn Vattenfall seine Schiedsklage nun aufgrund der Einigung zurückziehen wird, kann auch ein Schiedsspruch vermieden werden, der möglicherweise die Legitimität investitionsschutzrechtlicher Verfahren in der Öffentlichkeit weiter in Frage gestellt hätte. Damit kann die Einigung vor allem als Abwendung einer weiteren Destabilisierung des Investitionsschutzrechts gewertet werden.


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