26 November 2021

Schrauben und Bolzen

Zum Verfassung-Ändern kann man sich nicht wählen lassen. Die Ampel-Koalition hat eine Mehrheit im Bundestag, kann regieren, kann Gesetze erlassen und ändern. Aber die Rechtsgrundlage für all das, die Verfassung, ist ihrer Macht entzogen. Das Grundgesetz kann nach Art. 79 Abs. 2 GG nur eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat ändern, weshalb im gesunden Normalfall die gewählte Regierungsmehrheit die Stimmen der Wahlverlierer, der Opposition dafür benötigt. Und das ist gut und richtig so, denn das stellt sicher, dass die Spielregeln im Wettbewerb um die Mehrheit und für den Umgang derselben mit der Minderheit nicht vom temporären Sieger zu seinen Gunsten manipuliert und so das ganze Spiel entwertet werden kann, wie dies in den letzten Jahren in so vielen einstigen Demokratien ringsum zur traurigen Regel geworden ist.

Das stimmt natürlich so nicht ganz. Natürlich kann die gewählte Mehrheit Verfassungspolitik betreiben, und in der Tat enthält der Koalitionsvertrag der Ampel davon eine Menge. Teils als Absichtserklärung, sich für formelle Verfassungsänderungen ins Zeug legen zu wollen (Rassebegriff: raus. Verbot von Diskriminierung wegen sexueller Identität, Wahlrecht ab 16 bei Bundestagswahlen, Kinderrechte: rein). Teils als einfachgesetzliche Verfassungspolitik ohne formelle Änderungen am Grundgesetz. Über die Grundrechte und/oder föderalen Zuständigkeiten hat ja eh fast alles Verfassungsbezug, aber davon rede ich hier gar nicht, sondern über materielles Verfassungsrecht, über die rechtlichen Schrauben und Bolzen des Machtausübungs- und Rechtsetzungsgetriebes der Bundesrepublik, die in ganz normalen Bundesgesetzen geregelt sind. Wahlrecht, Parlamentsrecht, Parteienrecht. Solche Sachen.

Das Wahlrecht zum Beispiel: Das will die Koalition binnen Jahresfrist reformieren, “um nachhaltig das Anwachsen des Bundestags zu verhindern” (S. 11). Der Bundestag mit seinen derzeit 736 Sitzen soll “in Richtung der gesetzlichen Regelgröße” von 598 verkleinert werden. “Eine Verzerrung der Sitzverteilung durch unausgeglichene Überhangmandate lehnen wir ab.”

Hatten wir das alles nicht gerade erst? Die jüngste Reform des Bundeswahlgesetzes 2020 hatten CDU/CSU und SPD gegen den Willen der damaligen Opposition durchgedrückt. Deren Normenkontrollantrag dagegen ist in Karlsruhe anhängig: Ihrer Ansicht nach hat die GroKo-Reform das System Umwandlung von Stimmen in Sitze so verworren und undurchdringlich gemacht, dass man jetzt endgültig niemandem mehr erklären kann, wie der zentralen Akt, über den das Staatsvolk seine Staatsgewalt ausübt, tatsächlich funktioniert. Das Bundesverfassungsgericht konnte sich im August zwar nicht dazu entschließen, dieses Gesetz kurz vor der Bundestagswahl per einstweiliger Anordnung zu kippen, ließ aber in der Begründung erkennen, dass es die Bedenken der damaligen Opposition für nicht völlig unplausibel hält.

Zwei der damaligen Oppositionsparteien sind jetzt an der Regierung, zwei der damaligen Regierungsparteien sind jetzt in der Opposition. Eine davon ist die CSU. Vor allem sie hatte diese hirnverbiegende Wahlrechtsreform erzwungen, weil sie so viele Überhangmandate hat, seit sie bei den Zweitstimmen auf 30%+ abgesackt ist, bei den Erststimmen aber immer noch fast alle Direktmandate in Bayern holt. Die will sie behalten, und alles andere ist ihr nicht so wichtig. FDP, Grüne und Linke hatten einen Gegenentwurf vorgelegt, der die Aufblähung des Bundestags durch Überhang- und Ausgleichsmandate dadurch stoppen will, dass er die Zahl der Wahlkreise und damit der Direktmandate von 299 auf 250 verringert und die Zahl der Gesamtmandate von 598 auf 630 vergrößert, so dass es überhaupt seltener zu Überhang- und damit auch zu Ausgleichsmandaten kommt.

Die SPD hatte 2020 zwar für den GroKo-Entwurf gestimmt, aber ich würde mich wundern, wenn sie zu dessen Verteidigung jetzt immer noch große Mengen Herzblut vergösse. Ob sie die grün-gelbe Neigung teilt, den Zielkonflikt durch Streichung von Direktmandate aufzulösen, ist damit freilich noch nicht gesagt, zumal wenn man sich den flächendeckend rot gefärbten Nordosten auf der Erststimmen-Landkarte anschaut. Aber die Festlegung darauf, dass die Reform “innerhalb des ersten Jahres” fertig werden soll, kann man aber vielleicht als Hinweis darauf deuten, dass man jedenfalls optimistisch ist, sich da schnell einig zu werden.

Wird die Ampel ihre Lösung dann nötigenfalls gegen den Widerstand der Unionsfraktion beschließen? Und warum auch nicht? Hatte nicht auch 2020 die damalige Mehrheit ihrerseits die Minderheit majorisiert? Dass das 2020 so war, scheint mir, ganz abgesehen von den verfassungsrechtlichen Problemen der damaligen Reform, schon ein enormer und zu wenig wahrgenommener Verlustposten zu sein: dass Wahlrechtsreformen jetzt etwas sind, bei dem auch mal die Mehrheit die Minderheit majorisiert.

Die ganzen Technizitäten des Wahlrechts stehen nicht im Grundgesetz und hätten dort auch nichts verloren. Aber sie sind materielles Verfassungsrecht. Sollte das jetzt zur Normalität werden, dass die Mehrheit gegen den Willen der überstimmten Minderheit an den Schrauben und Bolzen des Machtausübungs- und Rechtsetzungsgetriebes der Bundesrepublik herumdreht, dann fände ich das extrem beunruhigend. Das sind genau die Dinge, deren sich mein fiktiver Volkskanzler bedient, um auf Basis einer einzigen gewonnen Wahl mit einfacher Mehrheit im Bundestag binnen einer Legislaturperiode die ganze Verfassungsordnung auszuhebeln. Natürlich habe ich die Ampel nicht im akuten Verdacht, ein solches Ziel zu verfolgen. Aber vier Jahre sind schnell rum. Und wer weiß, was da auf mittlere Sicht da noch alles kommt.

Ganz so majoritär ist die GroKo-Wahlrechtsreform dann aber doch nicht, da sie immerhin eine überparteiliche Kommission vorsieht, die den ganzen, ja auch anderweitig bestehenden parlaments- und wahlrechtlichen Reformbedarf dann noch mal gründlich und im Gesamtzusammenhang aufbereiten soll – das Problem der Aufblähung des Bundestags ausdrücklich eingeschlossen. Diese Kommission wurde im April eingesetzt, bestehend aus je acht Abgeordneten aller Fraktionen und acht Sachverständigen, und sie soll nach dem Willen der Ampel-Koalition auch in dieser Legislaturperiode weiterarbeiten. Ihre Themen sollen laut Koalitionsvertrag diese sein: die paritätische Repräsentanz von Frauen und Männern im Parlament, die Bündelung von Wahlterminen, die Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre und die Begrenzung der Amtszeit der Bundeskanzler_in. Ob die Wahlrechtsreform auch in diesem Gremium verhandelt werden soll, weiß ich nicht; der Koalitionsvertrag liest sich jedenfalls nicht so. Vielleicht ein Indiz dafür, dass die Koalition keine Lust mehr hat, sich darüber mit der Opposition noch länger herumzustreiten? Wir werden sehen.

Es gäbe zu diesem Koalitionsvertrag noch viel mehr zu sagen, vor allem zu seinem Europakapitel, das für die Weiterentwicklung des europäischen Verfassungsrechts die aufregendsten Sachen verspricht. Aber dieses Editorial wird eh schon wieder viel zu lang. Daher jetzt zu…

… der Woche auf dem Verfassungsblog

Halt, doch noch nicht. Zuvor noch eine Ankündigung.

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So, jetzt aber:

“Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein”, heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel. Wie das alles konkret umgesetzt werden soll, wird sich zeigen. Worüber erstaunlich wenig diskutiert wird, ist die Frage, ob das europa- und völkerrechtlich überhaupt geht. ROBIN HOFMANN beschreibt die Hürden.

Die Corona-Welle türmt sich unterdessen höher und höher, flächendeckend 2G scheint das Gebot der Stunde, und wer nicht geimpft ist, wird für sein Ungeimpft-Sein verantwortlich gemacht. UTE SACKSOFSKY geht der Frage nach, an welchem Maßstab die in 2G implizierte Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften zu messen ist, und mit welchem Ergebnis.

Müssen Impfunwillige im Triage-Fall sich ganz hinten anstellen? Das hört man immer öfter. Ein Tabu verliert an Wirkung – auch in der Rechtswissenschaft, zum Entsetzen von WEYMA LÜBBE.

In der Schweiz hat die Akademie der Wissenschaften eine Studie zur Rolle der Wissenschaft bei der politischen Reaktion der Schweiz auf die COVID-19-Pandemie publiziert. Danach gibt es für die wissenschaftliche Politikberatung keine rechtliche Grundlage in der schweizerischen Gesetzgebung. MONIKA PLOZZA argumentiert dagegen: die einzelnen Mitglieder von wissenschaftlichen Beratungsgremien sind in der Kommunikation ihrer Erkenntnisse von der Wissenschaftsfreiheit geschützt, und die Bevölkerung hat ein Recht auf evidenzbasierte Politik.

Ebenfalls Schweiz: Dort stimmen am diesem Sonntag stimmen die Wahlberechtigten darüber ab, ob die bisher nach Parteiproporz ernannten Richter_innen am Bundesgericht künftig auf revolutionäre Weise bestimmt werden sollen, nämlich durch Losentscheid. ANNE SANDERS und ELISABETH FALTINAT halten diese Idee für hoch interessant, nicht nur für die Schweiz, sondern für ganz Europa, wo die Unabhängigkeit der Justiz immer mehr unter Druck gerät.

Apropos abhängige Richter:innen: Das polnische “Verfassungsgericht” hat diesen Mittwoch festgestellt, dass das Xero-Flor-Urteil des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs vom Mai diesen Jahres gegen die polnische Verfassung verstoße. Nach dem Europarecht legt sich die PiS-Regierung nun also auch mit dem Völkerrecht an. OLIVER GARNER und RICK LAWSON berichten von den Hintergründen dieses sogenannten Urteils.

Nicht nur in Polen, auch in Ungarn muss man als Richter_in mit einem Disziplinarverfahren rechnen, wenn man die falsche Vorlagefrage nach Luxemburg schickt. Dazu und zu der Frage, ob ein höheres Gericht die Vorlage eines unteren Gerichts aufheben kann, hat jetzt der EuGH ein wichtiges Urteil gefällt, das PETRA BÁRD analysiert.

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Vor kurzem hat der neue Chefankläger beim Internationalen Gerichtshof (IStGH) Karim A. A. Khan die Vorermittlungen gegen Kolumbien wegen möglicher Verbrechen in der Auseinandersetzung mit der Guerilla-Organisation Farc aus Gründen der Komplementarität eingestellt. Dieses ist nicht das erste Mal, dass die Anklagebehörde einen derartigen Weg wählt. Sie ist dabei nicht ohne Kritik geblieben – für NORMAN PAECH ein Anlass, diese Praxis ein wenig genauer anzuschauen.

Die EU-Verträge verpflichten die Europäische Zentralbank, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU zu unterstützen. Dennoch hat die EZB diesen Teil ihres Mandats lange Zeit ignoriert. In der kürzlich abgeschlossenen Überprüfung der geldpolitischen Strategie wird er nur kurz erwähnt. NIK DE BOER und JENS VAN ‘T KLOOSTER halten diese Vernachlässigung des sekundären Mandats der EZB für rechtswidrig.

In Griechenland sollte am 18. November 2021 zwei Menschenrechtsverteidiger:innen der Prozess gemacht, angeblich wegen Beihilfe zur illegalen Einreise von Drittstaatsangehörigen. EIRINI FASIA hält die Anschuldigungen für überzogen und das ganze Verfahren für ein weiteres Beispiel für die anhaltende Kriminalisierung der humanitären Hilfe für Flüchtlinge und Asylbewerber in Europa.

Viele wichtige Bundesbehörden haben die NS-Belastung ihres Personals in der Gründungsphase untersuchen lassen. Der Historiker Friedrich Kießling und der Strafrechtler Christoph Safferling haben nunmehr die institutionelle Nachkriegsgeschichte der Bundesanwaltschaft aufbereitet. Die gründliche Untersuchung befördert eine Fülle aufschlussreicher sowie lesenswerter Details und Arabesken ans Licht. KLAUS FERDINAND GÄRDITZ hat eine Rezension verfasst.

Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs  hat sein mit Spannung erwartetes Urteil in der Rechtssache Lloyd gegen Google verkündet – ein Fall von großer Bedeutung für die Entwicklung des Datenschutzrechts im Vereinigten Königreich. ELENI FRANTZIOU ist mäßig glücklich über die Entscheidung.

Das war’s. Bis nächste Woche, alles Gute, bleiben Sie gesund und stecken Sie niemanden an!

Ihr

Max Steinbeis

 


One Comment

  1. Frank Müller Sun 28 Nov 2021 at 22:58 - Reply

    “Schrauben und Bolzen” finde ich irritierend. War hier eine automatische Übersetzung am Werk?

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