Am Rand der Gesellschaft
Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,
Ich habe in diesem Sommer eine etwas längere Pause eingelegt mit diesem Editorial als sonst üblich. Das hat nur teilweise mit meinem Erholungsbedürfnis zu tun. Wir haben uns, wie im letzten Editorial vor der Pause angekündigt, über den Sommer eine Reihe von Projekten vorgenommen, darunter eine Rundum-Erneuerung der Website. Die war ja teilweise doch arg unübersichtlich geworden in den letzten Monaten. Die neue Website ist fast fertig und wird in den nächsten Tagen online gehen. Wir freuen uns schon drauf. (Eigentlich sollte sie mit der heutigen Wiederaufnahme des Editorials starten, aber, you know…)
Eso-Muttis und Reichsflaggen
Am letzten Wochenende war ich nicht in Berlin, weil da in Hamburg mein “Volkskanzler”-Text am Lichthof-Theater aufgeführt wurde (übrigens: diese Woche Samstag und Sonntag in Berlin zu sehen!). Wäre ich da gewesen, hätte ich mir vielleicht die Corona-Demo in Berlin aus der Nähe angesehen, anstatt mir aus dem Medienecho ein Bild zu machen. Das war jedenfalls enorm: Einen erheblichen Teil der letzten Woche hat die deutsche Medienöffentlichkeit damit zugebracht, sich darüber klar zu werden, was da vorgefallen ist vor dem Berliner Reichstag und auf seinen Stufen. Was die schwarz-weiß-roten Fahnen zu bedeuten haben und was die Tatsache, dass sie es überhaupt dort hinaufgeschafft haben, bevor die Polizei sie mit Pfefferspray wieder runterbekam. Was die Eso-Muttis, die dort mitgelaufen sind, mit den Rechtsextremen zu tun haben, die dort ebenfalls mitgelaufen sind. Was sich da formiert, und wie gefährlich das ist oder noch werden kann.
Ich werde am Montag 50 und erreiche damit ein Alter, ab dem man leicht der Versuchung erliegt, mit der unerträglichen Abgeklärtheit älterer Herren (es sind meist welche) alles schon mal gesehen und alles schon mal überstanden zu haben und aus dieser Warte die Gegenwart zu betrachten, zu bewerten und für halb so wild zu erklären. Ich bin alt genug, um mich an Friedens- und Anti-Atomkraft-Demos zu erinnern. An Helmut Kohl und Franz-Josef Strauß. An die Geltung starker sozialer Normen, wie man sein Haar zu scheiteln und wie man wem guten Tag zu sagen hatte. An das Wort “Sympathisant”. An das Wort “linker Spinner”. An die Demütigungen, die Frauen, Homosexuellen, Ausländer_innen und Menschen mit Behinderungen ununterbrochen zugefügt wurden, als sei das das Normalste auf der Welt (was in gewisser Weise war). Ich kann mich an die Merkhefte des Zweitausendeins-Verlags erinnern. An das Wort “Subkultur”. An den starken Anziehungs- und den nicht weniger starken Abstoßungseffekt, den all das auf mich hatte.
Ich kann mich an die Witze erinnern, die ich und die allermeisten um mich herum über diese Leute machten, überhaupt über alle, die für bzw. gegen etwas kämpften, gegen ihre eigene Marginalisierung zumeist oder auch nur um ihre Würde. Es war so leicht, sich über diese Leute lustig zu machen. Irgendwann aber wurde das uncool. Kam außer Gebrauch. Der Humor hatte sich geändert. Die Marginalisierten waren im Kampf gegen ihre Marginalisierung erfolgreich. So sehr, dass mir und vielen Nicht-Marginalisierten das Witzemachen verging. Den einen, weil sie sich schämten. Den anderen, weil sie es mit der Angst bekamen.
Womit wir bei der Corona-Demo wären und bei den vielen, miteinander ganz unvereinbaren Strömungen, aus denen sie sich zusammensetzt. Ich habe neulich mal den Katalog des Kopp-Verlags in die Hand bekommen. Das ist ein Buchverlag mit angeschlossenem Versandhaus, das einen erheblichen Teil des Spektrums bedient, das da am letzten Wochenende vor dem Reichstag zusammenkam: Verschwörungstheorien, Survival Guides, Esoterisches, Rechtsintellektuelles, Enthüllungen über Finanzmärkte und wer wirklich schuld am 2. Weltkrieg war, bis hin zu Chiasamen und ätherischen Ölen fürs Duftlämpchen. Das Zweitausendeins-Merkheft unserer Tage, wenn man so will: Hier finden all diejenigen zusammen, die sich als marginalisiert empfinden.
Teilweise sind das die gleichen Leute mit den gleichen Ansichten: Impfgegner und Ufogläubige, damals wie heute habituell unerfolgreich darin, in der Gesellschaft mehr als eine Randposition zu erringen, sofern sie das überhaupt ernsthaft anstreben (man kann es sich ja auch ganz gemütlich machen in der Marginalisierung). Teilweise sind das aber ganz andere Leute: Das sind die “ganz normalen” Helmut-Kohl- und Franz-Josef-Strauß-Wähler_innen von ehedem. Das sind Leute, die damals noch die Marginalisierer waren. Das sind die, die immer noch die gleichen Witze machen wollen und würden, wenn die ehedem Marginalisierten, längst in der sprichwörtlichen “Mitte der Gesellschaft” Angekommenen sie noch ließen.
Von wegen Symmetrie
Es scheint so, als habe ein Rollentausch stattgefunden in den letzten 20 Jahren: Die ehedem Marginalisierten haben mit ihren Marginalisierern die Plätze getauscht. Die Erben von Stefan Raab und Harald Schmidt können nicht mehr auf breites gesellschaftliches Einstimmen in ihr Hohngelächter rechnen, sondern finden sich im Auge eines Shitstorms wieder. Und wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Oder sie wissen, wie ihnen geschieht und nutzen das für ihre mediale Profilierung, nicht viel anders als einst Hanns Dieter Hüsch und Dieter Hildebrandt. Und ihr Publikum ergreift dankbar die Gelegenheit, die von den einstmals Marginalisierten geräumten Untergrundstellungen zu besetzen, allen voran die Protestform der Marginalisierten schlechthin: Sie gehen auf die Straße.
Besonders attraktiv wird diese Strategie, weil damit eine Art Symmetrie suggeriert wird: Seht her, damals ihr, heute wir, läuft eh aufs Gleiche raus. Aber die Suggestion geht noch weiter: Ihr wart spektakulär erfolgreich mit eurem Protest gegen uns. Seht her, wie wir jetzt das Gleiche mit euch machen. Das, so wäre meine Hypothese, ist einer der maßgeblichen Gründe, warum dieser Protest von “rechten Spinnern” auch und gerade denen, gegen die er sich richtet, solchen Eindruck macht: als habe man es mit einem fiesen Doppelgänger zu tun, einem Wiedergänger der eigenen Demo- und Protestvergangenheit, zurückgekehrt, um einem den Nachtschlaf zu rauben.
Bei Tageslicht betrachtet sehen die Dinge aber meistens anders aus, und so ist es auch hier. Die vermeintliche Symmetrie ist nicht mehr als eine Suggestion, und als solche bereits Teil des rechten Narrativs: Sie impliziert, dass es immer nur darum geht, wer wem auf den Kopf schlägt, und nicht aus welchen Gründen. Das könnte denen so passen. Als ob es keine Kriterien gäbe zu werten, ob jemand zu Recht oder zu Unrecht auf den Kopf geschlagen bekommt. Die ehedem Marginalisierten waren erfolgreich in ihrem Kampf nicht einfach so, sondern weil sie zu Unrecht drangsaliert und zum Schweigen gebracht und unsichtbar gemacht wurden und die Marginalisierer ihre eigenen Gründe für das Gegenteil irgendwann selbst zu glauben aufhörten.
Die Suggestion vom vermeintlichen Rollentausch ist noch aus einem anderen Grund fatal: Sie verdeckt die tatsächlichen Marginalisierungen, die natürlich auch hier und heute unter vergleichsweise idyllischen links-grün versifften Verhältnissen immer noch jeden Tag stattfinden. Wer weiß, wie viele Angehörige von Menschen, die die Abwehr der Pandemie das Leben gekostet hat, unter den Protestierenden waren. Sie haben ein Recht zum Protest. Auch vor dem Deutschen Bundestag. Gerade weil im Moment niemand hören will, was sie sagen.
Der Sommer auf dem Verfassungsblog
… war zu lang, um das alles jetzt noch zu rekapitulieren. Daher nur eine persönliche, eingestandenermaßen eklektische Auswahl von Höhepunkten aus den letzten fünf Wochen:
Der Cum/Ex-Skandal ist wie wenig andere geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in Gerechtigkeit und funktionierende Institutionen im bundesdeutschen Verfassungsstaat auszuhöhlen. Dass der Gesetzgeber, wohl versteckt inmitten der Corona-Maßnahmen, dafür gesorgt hat, dass die Täter ihre Beute weitgehend behalten können, hat KILIAN WEGNER aufgedeckt.
ESRA DEMIR-GÜRSEL und BASAK CALI nehmen das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts zur strafrechtlichen Verfolgung der Unterzeichner des Academics-for-Peace-Aufrufs unter die Lupe und zeigen, warum die Entrechtung der Betroffenen damit noch lange nicht zu Ende ist.
Kurz vor der Wahl in Belarus beleuchten MAKSIM KARLIUK und YULIYA MIADZVETSKAYA, was auf dem Spiel steht und welche Rolle das Recht bzw. die Verfassung dabei spielen.
Vor der Wahl in den USA scheint Präsident Trump nicht einmal mehr davor zurückzuschrecken, die Post zu beschädigen, wenn ihm das seinen Wahlchancen in punkto Briefwahlauswertung möglicherweise zugute kommen könnte. KIM SCHEPPELE stellt die nötigen Zusammenhänge her. DAN WALTERS analysiert, wie schwach der prozedurale Schutz ist, den der US Supreme Court unter Chief Justice Roberts gegen den Missbrauch durch die Regierung gewährt.
KIRILL KOROTEEV zeigt am Beispiel der Geldwäschepolitik der russischen Regierung, dass das internationale Recht bisweilen auch ein nützliches Werkzeug für autoritäre Herrscher sein kann, um seine Gegner zu drangsalieren.
MATTHIAS GOLDMANN fühlt der deutschen Politik im Umgang mit Entschädigungsforderungen der Nachkommen von Opfern des Völkermords an den Herero und Nama im heutigen Namibia auf den Zahn.
ANNA KATHARINA MANGOLD und JOHANNA WOLFF liefern sich eine Kontroverse zur Maskenpflicht in der Schule.
CAROLIN KEMPER untersucht die rechtlichen Probleme, die entstehen, wenn es gelingt, menschliche Nervenzellen mit Computern zu vernetzen.
DIMITRY KOCHENOV und GRAHAM BUTLER prangern den Rechtsbruch an, den die EU-Mitgliedstaaten ihrer Ansicht nach mit der jüngsten Wahl eines Generalanwalts am EuGH begangen haben, obwohl dessen Stelle mit Eleanor Sharpston immer noch besetzt und mitnichten durch den Brexit frei geworden ist. In den Kommentaren wird nicht minder leidenschaftlich die gegenteilige Ansicht vertreten.
Das ist nur eine winzige Auswahl aus einer Vielzahl von Artikeln, die ich mit dem gleichen Recht hier hätte aufführen können. Hervorheben will ich noch unser aktuelles Online-Symposium zur Frage, was nach dem Neoliberalismus kommt – eine Frage, der ein von POUL KJAER herausgegebener Sammelband gewidmet und die auf dem Blog intensiv diskutiert wird mit Beiträgen von FLORIAN HOFFMANN, MARTIJN HESSELINK, SIMON DEAKIN, FERNANDA NICOLA, SABINE FRERICHS, JOANA MENDES, CESARE PINELLI, MATTHIAS GOLDMANN und JAN KOMÁREK.
So viel für diesmal. Ihnen alles Gute, und falls ich mir zu meinem runden Geburtstag etwas von Ihnen wünschen darf, wäre das ein Beitrag zum finanziellen Fortbestand des Verfassungsblog-Projekts, am liebsten in Gestalt einer Steady-Unterstützung (sonst gern auch über Paypal, paypal@verfassungsblog.de, oder an IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03). Vielen Dank!
Ihr
Max Steinbeis
Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag!