Binnengrenze ≠ Außengrenze: Klärendes vom EuGH zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen
Wenn ein Mitgliedstaat wieder Grenzkontrollen einführt, dann wird damit nicht aus einer EU-Binnengrenze eine Außengrenze. Mit dem Urteil Arib hat der EuGH heute entschieden, dass die Ausnahmen in der Rückführungsrichtlinie bei Binnengrenzkontrollen keine Anwendung finden, da diese nicht mit den Kontrollen an den Außengrenzen vergleichbar sind. Selbst in unmittelbarer Nähe der Binnengrenze befindet sich die Person bereits auf dem Territorium des kontrollierenden Mitgliedstaates. Damit hat der EuGH klargestellt, dass sich die „Fiktion der Nichteinreise“ des Flughafentransits oder die sog. „carrier sanctions“ nicht auf die Situation bei einer erlaubten Binnengrenzkontrolle übertragen lassen, und damit den Schengen-Raum als gemeinsamen europäischen Freizügigkeitsraum gestärkt.
In dem konkreten Fall ging es um einen marokkanischen Staatsangehörigen namens Arib, der in einem Bus saß, der während des bestehenden Ausnahmezustandes in Frankreich (und bestehender Binnengrenzkontrollen) im Juni 2016 in der Nähe der spanisch-französischen Grenze angehalten und kontrolliert wurde. Es stellte sich heraus, dass Herr Arib bereits 2013 eine Ausweisungsverfügung aus Frankreich erhalten hatte und keine Einreise- oder Aufenthaltsberechtigung besaß. Daraufhin wurde er inhaftiert. Das Tribunal de Grande Instance von Perpignan entließ ihn aber wieder aus der Haft, weil es zum Schluss kam, dass eine Inhaftierung in der Situation von Herrn Arib nach der Rückführungsrichtlinie nicht gerechtfertigt sei. Auch das Berufungsgericht in Montpellier schloss sich dieser Meinung an.
Der zuständige Präfekt legte bei der Cour de Cassation Revision ein. Dieses Gericht legte dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor, die im Wesentlichen darum kreisen, welche rechtlichen Grundlagen bei rechtmäßig wiedereingeführten Binnengrenzkontrollen gelten. Konkret ging es vor allem um die Frage, ob an den Binnengrenzen „wie an den Außengrenzen“ Ausnahmen von der vollumfänglichen Anwendung der Rückführungsrichtlinie (vgl. Art. 2 Abs. 2 RRL) gelten, ob daher eine Einreiseverweigerung möglich ist und ob das Transportunternehmen aufgrund des Art. 26 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ), der die „carrier sanctions“ enthält, verpflichtet ist, die Person (nach Spanien) zurückzubringen.
Der EuGH hat die Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Der Gerichtshof hebt hervor, dass die Situation bei Kontrollen an der Binnengrenze nicht mit den Kontrollen an der Außengrenze vergleichbar ist. Damit wird eine Binnengrenze auch nicht durch die rechtmäßige Wiedereinführung von Grenzkontrollen zur Außengrenze, wie dies die deutsche und die französische Regierung im Verfahren argumentiert hatten (vgl. Schlussanträge Rn. 48). Der EuGH erklärt seine Rechtsprechung im Fall Affum (der eine Kontrolle ohne wiedereingeführte Binnengrenzkontrollen betraf) für umfassend anwendbar und unterstreicht, dass sich die kontrollierte Person bei Kontrollen im Rahmen von Schleierfahndungen (also Kontrollen in der Nähe der Binnengrenze) bereits auf dem Territorium des kontrollierenden Mitgliedstaates befindet.
Die Fiktion der Nichteinreise, die die Bundesregierung bei solchen Kontrollen für anwendbar hält, greift also nicht, da die Einreise bereits durch den irregulären Grenzübertritt erfolgt. Der EuGH sagt in Rn. 38 dazu: „ein Drittstaatsangehöriger, der nach irregulärem Grenzübertritt auf dem Territorium dieses Mitgliedstaates in unmittelbarer Nähe einer der Binnengrenzen kontrolliert wird und die Einreise- oder Aufenthaltsbedingungen nicht erfüllt, muss als sich irregulär auf dem Territorium dieses Mitgliedstaats aufhaltend angesehen werden.“ Zudem betont der EuGH mehrfach, dass die Grenzkontrollen in Einklang mit Art. 25 des Schengener Grenzkodex (SGK) eingeführt worden sein müssen (bspw. Rn. 44 und 47).
Konsequenzen der Entscheidung
Dies hat einige sehr bedeutsame Konsequenzen für Binnengrenzkontrollen und die sich daran anschließenden Verfahren. Zuerst ist festzustellen, dass bei einer solchen Kontrolle geklärt werden muss, ob die kontrollierte drittstaatsangehörige Person ein Einreise- oder Aufenthaltsrecht hat (Verifikation des migrationsrechtlichen Status). Damit ist auch klar, dass keine vereinfachten Rückkehrverfahren durchgeführt werden können und dass auf die Einleitung eines Rückkehrverfahrens nach der Rückführungsrichtlinie nicht verzichtet werden kann. Ziel dieses Verfahrens ist die Beendigung des illegalen Aufenthalts im Schengen-Raum (durch Aufenthaltsgewährung oder Ausreise).
Das wiederum bedeutet konkret, dass die Binnengrenzkontrollen umfassend in den Anwendungsbereich des Europarechts fallen. So kann beispielsweise die Person nur dann inhaftiert werden, wenn dies aus (strafrechtlich relevanten) Gründen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nötig ist oder wenn eine Einreisesperre besteht – nicht aber allein wegen der illegalen Einreise. Die Entscheidung, eine Person im Zuge dieses Verfahrens zu inhaftieren, muss dabei im Einklang mit den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie stehen (Rn. 66).
Art. 14 Abs. 4 SGK ermöglicht es, eine Person an der Einreise zu hindern, indem „die Grenzschutzbeamten […] sicher[stellen], dass ein Drittstaatsangehöriger, dem die Einreise verweigert wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht betritt.“ Da Personen, die schon im Schengen-Raum sind und an einer Binnengrenze rechtmäßig kontrolliert werden, nicht an der Einreise gehindert werden können (da sie bereits im Schengen-Raum sind), kann Art. 14 Abs. 4 SGK in diesem Kontext nicht angewandt werden (Rn. 54-64).
Aus demselben Grund können generell die Ausnahmen von der Anwendung der Rückführungsrichtlinie, die an der Außengrenze gelten, an der Binnengrenze nicht anwendbar sein. In Rn. 47 sagt der EuGH dazu, dass „Art. 2 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, unerlaubt aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen ihrer illegalen Einreise über eine Binnengrenze vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen.“ Da keine Situation „wie an der Außengrenze“ vorliegt, sind auch die Regeln zu „carrier sanctions“ (Art. 26 SDÜ) nicht anwendbar. Diese Folgerung ergibt sich für den EuGH auch aus einer „systematischen Auslegung des Schengener Grenzkodex“ (Rn. 60), die es verbiete, die rechtmäßig wiedereingeführten Kontrollen an der Binnengrenze mit Außengrenzkontrollen gleichzusetzen. Insgesamt setzt der Gerichtshof die rechtlichen Konsequenzen einer Kontrolle an der Binnengrenzkontrolle mit denen einer regulären Kontrolle durch die Polizei auf dem Hoheitsgebiet gleich.
Umsetzungsbedarf (nicht nur) in Deutschland
Der deutsche Vortrag, die Grenzkontrollen seien an der Binnengrenze „wie an der Außengrenze“ durchzuführen, wird vom EuGH ebenso explizit verworfen wie die Annahme, Transportunternehmen könnten an Binnengrenzen denselben Sanktionen unterworfen werden wie an der Außengrenze (sog. carrier sanctions). In der Konsequenz bedeutet das Urteil für Deutschland Folgendes:
Die Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze müssen den Vorgaben des Urteils entsprechen und daher angepasst werden. Etwaige Grenzkontrollen an anderen deutschen Binnengrenzen mit Nachbarstaaten müssten diese Vorgaben entsprechend ebenfalls erfüllen. Die „Fiktion der Nichteinreise“ ist nicht vom Europarecht gedeckt und somit im Kontext der Binnengrenzkontrollen rechtswidrig, weil die Person das Territorium schon betreten hat.
Ebenso rechtswidrig ist eine Inhaftierung während des Rückkehrverfahrens, wenn die Person nicht individuell eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt oder bereits einer Einreisesperre (wegen eines Voraufenthalts) unterliegt. Die mobilen Binnengrenzkontrollen (ohne Benennung von Grenzkontrollstellen), die an der deutsch-österreichischen Grenze durchgeführt werden, können unter keinen Umständen dazu führen, dass die Rückführungsrichtlinie oder das Dublin-Verfahren auf dort irregulär einreisende Personen nicht anwendbar wäre. Es ist immer das vorgesehene Verfahren durchzuführen, und die Person hat damit unter anderem auch Anspruch auf umfassenden Rechtschutz und Verbleib im Hoheitsgebiet während des Verfahrens. Insoweit unterscheidet sich die Binnengrenzkontrolle nicht von einer regulären Polizeikontrolle im Inland.
Es muss also bei der „Grenzkontrolle“ festgestellt werden, in welcher rechtlichen Situation sich die Person befindet und welches Verfahren anwendbar ist. Die Binnengrenzkontrolle darf weder zu einem vereinfachten Verfahren führen (wie das mit Spanien und Griechenland vereinbarte Verfahren an der deutsch-österreichischen Grenze) noch kann die Person rechtlich als „nicht eingereist“ eingestuft werden.
Darüber hinaus betont der EuGH, dass Art. 25 SGK eingehalten werden muss. Dieser regelt, wann, wie und wie lange Binnengrenzkontrollen durchgeführt werden dürfen. Die Kontrollen dürfen nur „unter außergewöhnlichen Umständen“ eingeführt und auf höchstens bis zu zwei Jahren verlängert werden. Beide Voraussetzungen liegen an den deutschen Grenzen jedenfalls nicht mehr vor. Die aktuell durchgeführten Kontrollen sind daher schon wegen der fehlenden rechtlichen Grundlage für die Durchführung der Kontrollen rechtswidrig.
Der EuGH stärkt mit diesem Urteil den Schengen-Raum als Raum ohne Binnengrenzkontrollen, da er die Vorgaben für die Außengrenzkontrollen nicht auf den Binnenraum überträgt, sondern eine systematische, am Zweck des Schengen-Raums orientierte Auslegung vornimmt. Nationale Alleingänge bei den Binnengrenzkontrollen verlieren durch diesen gesamteuropäisch angelegten Ansatz ihren Sinn, da umfassende Kontrollen an den Binnengrenzen mit Zurückweisungs- und Inhaftierungsmöglichkeit nur in Ausnahmefällen und zum Zweck der Abwehr einer von der jeweiligen Einzelperson ausgehenden Gefahr, nicht aber zur generellen Migrationssteuerung, erlaubt sind. Letztere kann nur von den Mitgliedstaaten gemeinsam beschlossen und durchgeführt werden. Insoweit enthält das Urteil auch ein klares Bekenntnis zum Schengen-Raum als Freizügigkeitsraum. Gleichzeitig stärkt der EuGH durch seine restriktive Auslegung von Ausnahmeregelungen zum wiederholten Male die Verfahrensrechte der betroffenen Personen und tritt somit den Versuchen verschiedener Staaten entgegen, zu Lasten migrierender Personen übermäßigen Gebrauch von bestehenden Abweichungsmöglichkeiten zu machen oder diese gar analog auf weitere Sachverhalte anzuwenden.
Habe ich es richtig verstanden, dass in der Zukunft Ausweisung vorwiegend (oder nur?) über Einreisesperren möglich sein werden? Dass für den illegalen Aufenthalt Aufgegriffenen keine Ausschaffungszentren erlaubt sind, wie von der CSU geplant und tw. realisiert?
Kann man irgendwo Statistiken darüber finden, wie viele Einreisesperren in der letzten Zeit in D ausgesprochen worden sind?
Damit dürften die sog. Zurückweisungen an der Bayrischen Grenze aufgrund von obskuren Verwaltungsvereinbarungen europarechtswidrig sein.