Das österreichische Impfpflichtgesetz
Ein anpassungsfähiger Rahmen für die allgemeine Impfpflicht
Der österreichische Nationalrat beschloss am 20.01.2022 mit breiter Zustimmung (137 Ja- und 33 Nein-Stimmen) das Gesetz über die Pflicht zur Impfung gegen COVID-19 (kurz COVID-19-IG). Am Donnerstag wird darüber im Bundesrat abgestimmt. Viele Details bleiben in dem neuen Gesetz allerdings ungeregelt. Der Gesetzgeber hat durch Verordnungsermächtigungen die inhaltliche Ausgestaltung der Impfpflicht größtenteils auf den Gesundheitsminister übertragen. Das sorgt für Flexibilität, birgt aber auch die Gefahr, dass wesentliche politische Entscheidungen der Verwaltung überlassen werden. Zur Abwehr der aktuellen Omikron-Welle kommt die allgemeine Impfpflicht zu spät, bietet aber längerfristig den Rahmen für die weitere Pandemiebekämpfung.
Das COVID-19-IG
Mit dem Beschluss des Nationalrats ist der Weg zu einer allgemeinen Impfpflicht in Österreich geebnet. Die weiteren Schritte im Gesetzgebungsprozess – insbesondere die Zustimmung im Bundesrat, der Länderkammer des österreichischen Parlaments – lassen keine Hürden für das geplante Inkrafttreten des Gesetzesvorhabens im Februar erwarten. Ab Mitte März 2022 soll damit für alle volljährigen Personen mit Wohnsitz in Österreich eine allgemeine Impfpflicht gelten. Eine Impfpflicht nur für bestimmte Personengruppen wie etwa Beschäftigte im Gesundheitssektor, wie sie in anderen Ländern (u.a. Frankreich, Griechenland; Vereinigtes Königreich) bereits eingeführt und auch in Österreich ursprünglich geplant war, ist also hinfällig. Die Durchsetzung der Impfpflicht wird stufenweise ausgerollt, zunächst sollen Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes diese nur kontrollieren, wenn sie die Identität einer Person im Rahmen einer Amtshandlung feststellen, etwa bei Verkehrskontrollen.
Als Ziel des Gesetzes nennen die Gesetzesmaterialen insbesondere eine Steigerung der Durchimpfungsrate zum Schutz der Gesundheitsinfrastruktur. Konkret soll laut Gesetzesbegründung eine Durchimpfungsrate von 90% erreicht werden, wenngleich darauf hingewiesen wird, dass es der Dynamik der pandemischen Lage geschuldet schwierig ist, konkrete Prozentwerte anzugeben. Mit dem Tag des Beschlusses im Nationalrat waren in Österreich etwa 75% der Bevölkerung mindestens einmal gegen COVID-19 geimpft.
Die geplante Implementierung einer allgemeinen Impfpflicht löste im Vorfeld sowohl national als auch international heftige Diskussionen und Proteste aus. Bereits die Ankündigung im November 2021 stellte einen scharfen Kurswechsel in der österreichischen Coronapolitik dar, schloss der Bundeskanzler doch im Sommer noch eine Impfpflicht für Österreich aus. Die divergierenden gesellschaftlichen Meinungen und vielfältigen kritischen Stimmen spiegelten sich letztlich auch in der Rekordzahl von 108.325 Stellungnahmen im vorparlamentarischen Begutachtungsverfahren wider. Die Früchte dieses breiten gesellschaftlichen Prozesses zur geplanten Impfpflicht zeigen sich in der Fassung des im Nationalrat beschlossenen Gesetzes, die in einigen Punkten vom ursprünglichen Gesetzesentwurf abweicht. Insbesondere wurden weitere Aspekte auf die Verordnungsebene verlagert, um die konkrete Ausgestaltung und laufende Anpassung der Impfpflicht flexibler zu machen. Auch der Vizekanzler bezeichnet die vorliegende Lösung deshalb als „Impfpflichtrahmengesetz“. In der Tat präsentiert sich das COVID-19-IG als eine Art Baukasten mit Zusatzmodulen, mit dem die Verwaltung jeweils adäquat auf die neu evaluierte Krisensituation reagieren kann.
Verhältnismäßigkeit durch Flexibilität?
Ein Thema im Zentrum der Diskussionen ist die gebotene Verhältnismäßigkeit der Impfpflicht in einer sich rasch verändernden Pandemiesituation. Denn auch wenn man den mit einer Impfpflicht verbundenen Grundrechtseingriff in die körperliche Unversehrtheit zum aktuellen Zeitpunkt als „ultima ratio“ für gerechtfertigt hält, können sich verändernde epidemiologische Faktoren auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme auswirken. So könnten etwa neue Varianten des Virus das Infektionsgeschehen so beeinflussen, dass eine Impfpflicht nicht länger das geeignete oder erforderliche Mittel zur Verhinderung einer Überlastung der Gesundheitsinfrastruktur wäre. Das COVID-19-IG reagiert auf diese Unsicherheit mit einer Vielfalt von Regelungstechniken und -instrumenten – angefangen bei weitläufigen Verordnungsermächtigungen über die Verankerung zusätzlicher Kontroll- und Evaluierungsmechanismen bis zur grundsätzlichen Befristung der Geltungsdauer des Gesetzes bis Jänner 2024. Dies verhilft dem Gesetz zu größerer Flexibilität bei gleichzeitiger engmaschiger Evaluierung und soll dafür sorgen, dass eine Impfpflicht nur so lange und in dem Ausmaß angewendet wird, wie dies notwendig ist. Gerade dieser flexible gesetzliche Rahmen erlaubt damit die Sicherstellung einer verhältnismäßigen Handhabung der Impfpflicht in einer dynamischen Pandemiesituation.
Flexibilität durch Verordnungsermächtigungen
Die gewollte Flexibilität des Gesetzes zeigt sich daran, dass viele Details der Impfpflicht durch Verordnung des Gesundheitsministers oder der Bundesregierung noch ausgestaltet werden müssen. Darunter auch zentrale inhaltliche Aspekte der Impfpflicht selbst. Im Vergleich zum ursprünglich eingebrachten Gesetzesentwurf, hat in der beschlossenen Fassung der Gesundheitsminister zum Beispiel erst die erforderliche Anzahl der Impfungen und die dazwischenliegenden Impfintervalle für die Erfüllung der Impfpflicht festzulegen. Auch was die Frage der geeigneten Impfstoffe anbelangt, wird neben den durch die Europäische Kommission zugelassenen Impfstoffen auf durch Verordnung des Gesundheitsministers anerkannte Impfstoffe verwiesen. Der Gesundheitsminister ist für die Anpassung bestehender Ausnahmeregelungen und erforderlichenfalls auch die Verordnung zusätzlicher Ausnahmegründe verantwortlich.
Schließlich hat der Bundesminister sogar die Möglichkeit zur teilweisen oder gänzlichen ggf. vorübergehenden Aussetzung der Impfpflicht, die er bei Vorliegen gewisser Voraussetzungen unverzüglich anordnen muss. Auch diese Option wurde dem Gesetzesentwurf erst später hinzugefügt. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, schnell auf bestimmte Faktoren reagieren zu können, wie zum Beispiel „eine Änderung des Standes der Wissenschaft hinsichtlich der Wirksamkeit der Impfstoffe oder der Eignung der Impfpflicht zur Verhinderung einer Überlastung der medizinischen Versorgung insbesondere in Hinblick auf das Auftreten neuer Virusvarianten oder einer Veränderung des infektionsepidemiologischen Geschehens“ (§ 19 Abs 2 COVID-19-IG).
Stufenweise Durchsetzung
Zwei wesentliche Entscheidungen bezüglich der Festlegung von Stichtagen im Zusammenhang mit der bereits erwähnten stufenweisen Durchsetzung der Impfpflicht legt das Gesetz allerdings nicht in die Hände des Gesundheitsministers, sondern behält sie der Bundesregierung vor. Die Regierung soll, sobald die Ermittlung der impfpflichtigen Personen technisch möglich ist, einen Erinnerungsstichtag festlegen, an dem der Gesundheitsminister Personen, die an diesem Tag die Impfpflicht nicht erfüllen, Erinnerungsschreiben zusendet. Die ungeimpften Personen werden auf Basis eines Abgleichs von Daten aus dem Impfregister, dem Zentralen Melderegister sowie dem Register anzeigepflichtiger Krankheiten ermittelt.
Als letzte Stufe der Durchsetzung der Impfpflicht sollen österreichweit, systematisch Verwaltungsstrafverfahren gegen die noch ungeimpften Personen auf Basis eines umfassenden Datenabgleichs eingeleitet werden. Allerdings erst, nachdem die Bundesregierung wiederum einen Impfstichtag per Verordnung festgelegt hat. Einen konkreten Zeitplan für den Übergang zu Erinnerungsschreiben und die darauf folgende Bestimmung eines Impfstichtages gibt das Gesetz nicht vor.
Gesetzliche Vorherbestimmtheit trotz weitreichender Verordnungsermächtigungen
Die große Flexibilität hat in der Dynamik des Pandemiegeschehens Vorteile, aber die Festlegung großzügiger Verordnungsermächtigungen birgt auch die Gefahr, dass wesentliche politische Entscheidungen durch zu unbestimmte gesetzliche Vorgaben verfassungswidrig an die Verwaltung delegiert werden. Auch in einer Krisensituation muss der demokratisch legitimierte Gesetzgeber dafür sorgen, dass die Ermächtigung der Verwaltung bestimmt genug ist, um dem Prinzip der Rechtstaatlichkeit zu genügen.
Der Verfassungsgerichtshof hielt den Anspruch einer ausreichenden gesetzlichen Bindung der Verwaltung auch im Kontext der Pandemiebekämpfung aufrecht (VfSlg 20.399/2020). Eine situationsbezogene Konkretisierung könne aber dem Verordnungsgeber überlassen werden, wenn die wesentlichen Zielsetzungen zur Leitung des Verwaltungshandelns aus dem Gesetz deutlich zu entnehmen sind. Speziell in Krisensituationen, wenn ein rasches Handeln erforderlich ist, um sinnvolle und wirksame Regelung zu ermöglichen, dürften die Anforderungen der gesetzlichen Determinierung nicht „überspannt“ werden.
Das COVID-19-IG schränkt den Handlungsspielraum der Verwaltung trotz der vielen Verordnungsermächtigungen ein. Zum einen sind die übergreifenden Zielsetzungen des Gesetzes – insbesondere der Schutz der Gesundheit durch die Verhinderung der Überlastung der Gesundheitsinfrastruktur – bei der Auslegung des gegebenen Spielraums zu beachten. Zum anderen binden viele der Verordnungsermächtigungen die zuständige Behörde an explizit genannte Kriterien wie insbesondere den „Stand der medizinischen Wissenschaft“ oder einer „Notwendigkeit zur Erfüllung der Impfpflicht“ der konkreten Maßnahme. Diese Einschränkungen ermöglichen so eine spätere Überprüfung des Verwaltungshandeln am Maßstab des Gesetzes auf seine Rechtmäßigkeit.
Einbindung weiterer Akteure und Monitoring
Für bestimmte Verordnungen des Gesundheitsministers (Ausnahmen von der Impfpflicht, Details des Umfangs der Impfpflicht, Aussetzen der Impfpflicht) bzw. der Bundesregierung (Impfstichtag) fordert das COVID-19-IG eine Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrates. Dieses Element der parlamentarischen Rückbindung verstärkt die demokratische Legitimation der Verordnungen. Bevor der Gesundheitsminister Details zum Umfang der Impfpflicht und den Ausnahmebestätigungen festlegen kann, muss er außerdem das Nationale Impfgremium anhören. Dabei handelt es sich um eine – bereits seit vor der Pandemie bestehende – Kommission aus Expert*innen aus unterschiedlichen Bereichen wie Epidemiologie, öffentliche Gesundheit oder Vakzinologie, die auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Standes Impfempfehlungen für Österreich erstellt und den Gesundheitsminister bei fachlichen Fragen berät.
Neben der Einbindung dieser beiden Akteure in das Verfahren der Verordnungserlassung, stellt die Einrichtung einer eigenen Kommission zum laufenden begleitenden Monitoring der Impfpflicht einen wichtigen Eckpfeiler des Gesetzes dar, der erst kurz vor Beschlussfassung verankert wurde. Dieser Kommission haben jedenfalls zwei Professor*innen eines rechtswissenschaftlichen Faches an einer Universität sowie zwei medizinische Fachexpert*innen anzugehören. Die vorgesehenen regelmäßigen Berichtspflichten dieser Kommission an den Nationalrat, den Gesundheitsminister sowie die Bundesregierung erweiterten für die Verwaltung den zu berücksichtigenden Informationsstand als Entscheidungsgrundlage bei der Ausübung der vom Gesetz übertragenen Handlungsmöglichkeiten und geben zudem auch dem Gesetzgeber einen aktuellen Überblick über die pandemische Situation als möglichen Ausgangspunkt für eine Adaptierung der gesetzlichen Grundlage.
Mögen die Einbindung des Hauptausschusses oder die Etablierung einer Kommission zum begleitenden Monitoring inklusive Berichtspflichten an den Nationalrat auch politische Zugeständnisse an kritische Stimmen oder Oppositionsparteien gewesen sein, stärken sie dennoch die demokratische Legitimation der Maßnahmen und schaffen eine fundierte Grundlage für eine laufende parlamentarische Evaluierung der Notwendigkeit der Impfpflicht.
Offene Kritikpunkte
Trotz dieser positiven Gesamtschau, haben bestimmte Aspekte oder praktische Auswirkungen des beschlossenen Gesetzes bereits Kritik erfahren. So etwa die Möglichkeit im Verwaltungsstrafverfahren nach Erhebung eines Rechtsmittels höhere Strafen (bis zu 3600 Euro) als in einer zuvor ausgestellten Impfstrafverfügung zu verhängen. Es wurden auch hinsichtlich einer erwarteten Überlastung der Rechtsmittelinstanzen durch unzählige Verfahren gegen nach dem COVID-19-IG verhängte Strafen Bedenken geäußert. Des Weiteren wird von einigen in einer allgemeinen Impfpflicht aufgrund der gesellschaftlichen Auswirkungen dieser einschneidenden Maßnahme ein „hochriskantes Politikinstrument“ gesehen, da sie zu einer Vergrößerung der Gruppe der Impfverweigerer*innen oder einem möglichen Vertrauensverlust in die Politik bei ineffektiver Umsetzung führen kann (siehe dazu die Stellungnahme von Prof.in Prainsack im Falter).
Ob sich das Gesetz in der praktischen Umsetzung bewährt, wird sich zeigen – zumal die Impfpflicht gerade durch die auf Gesetzesebene gegebene Flexibilität ihre konkrete Ausgestaltung ja erst durch die noch zu erlassenden Verordnungen erfahren muss. Zur Abwehr der Omikron-Welle kommt das Gesetz zu spät, es kann aber mit Blick auf mögliche weitere Corona-Wellen einen Rahmen für die Pandemiebekämpfung bieten.