Der österreichische Verfassungsgerichtshof und die Mindestsicherung
Der österreichische Verfassungsgerichtshof, dessen Kandidatenkür kürzlich intensiv medial behandelt wurde, kam vergangene Woche nun auch inhaltlich in die Schlagzeilen: In seinem Erkenntnis (G136/2017-19) vom 7.3.2018 erklärte der Gerichtshof Teile des Niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetzes (NÖ MSG) für verfassungswidrig, weil sie gegen den Gleichheitssatz verstoßen bzw. aufgrund unsachlicher Kriterien wie etwa nach der Aufenthaltsdauer im österreichischen Staatsgebiet differenzieren. Kaum ein Thema wird in der Alpenrepublik derzeit derart heftig diskutiert (siehe hier), geht es doch um nichts weniger als das „dritte oder letzte Netz der sozialen Sicherheit“((Arbeiterkammer, Sozialleistungen im Überblick 2017 (2017) 392.)) in Österreich. Kernpunkte der Diskussion beziehen sich dabei auf die Frage, in welcher Höhe Asylberechtigte, subsidiär Schutzberechtigte und im allgemeinen anspruchsberechtigte Fremde Mindestsicherungsleistungen erhalten sollen. Nach dem Willen der aktuellen Bundesregierung sollen Österreicher*innen, wenn möglich, bevorzugt werden. In dem Sinne wollen die Regierungsparteien ÖVP und FPÖ bis Jahresende eine bundeseinheitliche Lösung präsentieren. Diese soll laut einer Stellungnahme der beiden Parteien zwischen jenen unterscheiden, „die schon länger in das Sozialsystem eingezahlt haben und jenen Nicht-Österreichern, die neu in das Sozialsystem dazu gekommen sind“ (siehe hier).
Allgemein ist das Ziel der Mindestsicherung ein System zu schaffen, das den erforderlichen Mindeststandard für ein menschenwürdiges Leben gewährleistet. Zur Implementierung eines solchen Systems hat die österreichische Gesetzgebung laut Verfassungsgerichtshof einen weiten Spielraum. Vor diesem Hintergrund will ich das kürzlich erlassene Erkenntnis und ein Erkenntnis aus dem Vorjahr zum NÖ MSG näher diskutieren und einen Blick auf mögliche zukünftige Regelungen werfen.
Sozialleistungen für Fremde: Grundversorgung und Mindestsicherung
Hilfsbedürftige Fremden können in Österreich entweder einen Anspruch auf Leistungen aus der Grundversorgung oder der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (Mindestsicherung) geltend machen. Grundversorgungsleistungen kommen etwa Asylwerber*innen oder Geduldeten zu. Daneben soll die Mindestsicherung vor Armut und sozialer Ausgrenzung schützen. Sie greift in Fällen, in denen die vorgelagerten Systeme aus Sozialversicherung, Erwerbsarbeit oder anderen sozialen Transfers kein Einkommen in einer festgesetzten Mindesthöhe ermöglichen. Österreichweit hat der Bund von der Möglichkeit der Erlassung eines Grundsatzgesetzes derzeit keinen Gebrauch gemacht.((Pfeil, (Vorläufiges) Aus für die einheitliche Mindestsicherung, Österreichische Zeitschrift für Pflegerecht 2017/14, 24.)) Deshalb richtet sich die Frage der Anspruchsberechtigung auf Mindestsicherungsleistungen nach den jeweiligen Landesgesetzen.
Teil 1 zum NÖ MSG – VfGH 28.6.2017, E3297/2016
Bereits im Juni des Vorjahres stand das NÖ MSG im Zentrum der Aufmerksamkeit des Verfassungsgerichtshofes (siehe hier). Damals ist zur Diskussion gestanden, ob es sachlich gerechtfertigt ist, subsidiär Schutzberechtigte vollkommen vom Zugang zur Mindestsicherung auszuschließen und ihnen nur mehr einen Anspruch aus der Grundversorgung zu gewähren (§ 5 Abs. 3 Z. 4 NÖ MSG). Die Höhe der Grundversorgungsleistungen liegt um ein Vielfaches unter jener der Mindestsicherung (siehe sogleich Teil 2 zum NÖ MSG). Privat wohnende Personen erhalten monatlich etwa 375€ (Verpflegungsgeld und Mietzuschuss); jenen, die in einer Bundes- oder Landesunterkunft untergebracht sind, wird lediglich ein Taschengeld in der Höhe von 40€ ausbezahlt, und der*die Unterkunftgeber*in erhält pro Person monatlich 215€ für Unterbringung und Verpflegung.
Der VfGH sah den Ausschluss insofern als gerechtfertigt an, als „angesichts des Provisorialcharakters des durch subsidiären Schutz vermittelten vorübergehenden Aufenthaltsrechtes subsidiär Schutzberechtigter, die für ein menschenwürdiges Dasein erforderlichen Leistungen nur im zwingend erforderlichen Umfang gewährt werden“.
Diese Entscheidung wurde zu Recht vehement kritisiert.((Kaspar, Sozialhilferechtliche Differenzierung aufgrund des Aufenthaltsstatus von subsidiär Schutzberechtigten: Ausschluss nach dem NÖ MSG – VfGH 28. Juni 2017, E 3297/2016, juridikum 2017, 476 (481-487) sowie Sußner, Warten auf … ? Verfassungs- und unionsrechtliche Perspektiven auf den Mindestsicherungszugang nach einem positiv abgeschlossenen Asylverfahren (NÖ MSG), juridikum 2017, 207.)) Vor allem die Vereinbarkeit mit Art. 29 Abs. 2 StatusRL scheint zweifelhaft. Diese Bestimmung ermöglicht es Mitgliedstaaten, Sozialleistungen für subsidiär Schutzberechtigte auf „Kernleistungen“ zu beschränken. Eine Auslegung des Begriffs „Kernleistung“ durch den EuGH steht noch aus (siehe in dem Zusammenhang aber EuGH 24.4.2012, C-71/10, Kamberaj, Rn. 85-93). Der Verfassungsgerichtshof sah es im konkreten Fall aber auch nicht als erforderlich an, hierzu eine Vorlagefrage an den EuGH zu stellen. Im Gegensatz dazu hat das oberösterreichische Landesverwaltungsgericht erst kürzlich eine Vorlagefrage im Zusammenhang mit der Mindestsicherung für befristet Asylberechtigte an den EuGH gestellt (siehe hier). Insgesamt ist es allerdings fraglich, „warum sich eine Differenzierung bei der Aufenthaltsdauer von Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten gerade auf den konkreten Bedarf an existenzsichernden Leistungen auswirken solle. Vielmehr müssten die konkreten Richtsätze in einem transparenten Verfahren ermittelt werden und die soziale Realität durch die Mindestsicherungsgesetze der Länder widergespiegelt werden“.((Kaspar, Sozialhilferechtliche Differenzierung aufgrund des Aufenthaltsstatus von subsidiär Schutzberechtigten: Ausschluss nach dem NÖ MSG – VfGH 28. Juni 2017, E 3297/2016, juridikum 2017, 476 (487).)) Die Problematik, ob Grundversorgungsleistungen an sich ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen können, sei hier nur am Rande erwähnt.((Frahm, Zugang zu adäquater Grundversorgung für Asylsuchende aus menschenrechtlicher Perspektive, juridikum 2013, 464 und Groschedl, migraLex 2015, Menschwürdige Aufnahmebedingungen als grundrechtliches Gebot im Asylverfahren, 66.))
Teil 2 zum NÖ MSG – VfGH 7.3.2018, G136/2017-19
Im jüngsten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes standen andere Bestimmungen des NÖ MSG im Fokus. Grundsätzlich erhalten anspruchsberechtigte Personen entweder Mindestsicherungsleistungen gemäß § 11 NÖ MSG (Mindeststandard) oder § 11a NÖ MSG (Mindeststandard – Integration). Der höhere Mindeststandard beträgt derzeit 863€ für eine volljährige, alleinstehende Person. Dieser wird aber nur jenen Personen gewährt, die sich innerhalb der letzten sechs Jahre mehr als fünf Jahre in Österreich aufgehalten haben. Sollte eine Person also erst seit vier Jahren in Österreich leben, würde sie nur den Mindeststandard – Integration gemäß § 11a NÖ MSG erhalten. Dieser beträgt monatlich 572€, was in etwa 32% weniger als der Mindeststandard im Sinne des § 11 NÖ MSG ist (Rn. 99). Wohlgemerkt liegt die Armutsgefährdungsschwelle in Österreich bei 1.185€.((Siehe auch Hinterberger, Arbeitsmarktzugang von Fremden mit „Duldung“ oder „Aufenthaltstitel aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen“ – Eine gleichheitsrechtliche Analyse, Das Recht der Arbeit 2018/2, 104 (107-109).)) Trotzdem soll laut der niederösterreichischen Gesetzgebung der notwendige Lebensunterhalt und Wohnbedarf sowohl mit dem Mindeststandard als auch mit dem Mindeststandard – Integration gedeckt werden können.
Das gewählte Unterscheidungsmerkmal der Aufenthaltsdauer erklärte der VfGH für sachlich nicht gerechtfertigt. Im Hinblick auf die Unterscheidung österreichischer Staatsbürger*innen untereinander ist demnach nicht nachvollziehbar, wieso „der Bedarf für Menschen, die kürzer als fünf Jahre im Inland aufhältig sind, geringer sei“ (Rn. 102). Das von der NÖ Landesregierung ins Treffen geführte Argument, dass die „Aufenthaltsdauer einen Anknüpfungspunkt“ zu Österreich darstellen soll, schmetterte der VfGH ab (Rn. 105). Dies stelle doch an sich schon die österreichische Staatsbürgerschaft dar. Dieselbe Argumentationslinie verfolgt der VfGH, wenn er davon spricht, dass die „Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft eine vorhandene Integration voraussetzt“, wodurch die Zielsetzung der Anreizschaffung für eine bessere Integration ebenfalls ins Leere läuft (Rn. 109).
Das Argument der NÖ Landesregierung, dass niedrigere Mindestsicherungsleistungen die Bemühungen der Anspruchsberechtigten „sich zu integrieren und einen Arbeitsplatz zu finden“ verstärken sollte, fand ebenfalls keinen Rückhalt innerhalb des VfGH. Zu Recht wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Notwendigkeit eines stärkeren Arbeitsanreizes für österreichische Staatsangehörige, die innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufhältig waren, nicht ersichtlich sei, „zumal der bloße Aufenthalt im In- oder Ausland keinerlei Rückschluss auf die Arbeitswilligkeit der Person zulässt“ (Rn. 108).
Darüber hinaus wurden durch die genannten Regelungen auch Asylberechtigte untereinander ungleich behandelt. Eine sachliche Rechtfertigung lag auch hier nicht vor. Der VfGH wies darauf hin, dass Asylberechtigte „ihr Herkunftsland nicht aus freiem Entschluss verlassen und ihren Wohnsitz in Österreich nicht frei gewählt haben“ (Rn. 113 und EGMR 27.9.2011, 56328/07, Bah gg Vereinigtes Königreich, Rn. 45). Sie befinden sich deshalb in einer anderen Situation als etwa Unionsbürger*innen oder andere Drittstaatsangehörige, da diese jederzeit in ihren Herkunftsstaat zurückkehren können. Wieso der VfGH fälschlicherweise subsidiär Schutzberechtigte als Drittstaatsangehörige betrachtet, die jederzeit in ihren Herkunftsstaat zurückkehren können, ist vor dem Hintergrund der drohenden, realen Gefahr einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nicht verständlich (siehe hierzu vertiefend Kaspar((Sozialhilferechtliche Differenzierung aufgrund des Aufenthaltsstatus von subsidiär Schutzberechtigten: Ausschluss nach dem NÖ MSG – VfGH 28. Juni 2017, E 3297/2016, juridikum 2017, 476 (485).))).
Summa summarum fehlt also für die Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer im Inland sowohl im Hinblick auf österreichische Staatsbürger*innen als auch im Hinblick auf Asylberechtigte eine sachliche Rechtfertigung, wodurch sie gegen den Gleichheitssatz verstößt (Art. 7 B-VG und Art. I Abs. 1 B-VG Rassendiskriminierung).
Eine weitere Bestimmung des NÖ MSG wurde als verfassungswidrig aufgehoben. § 11b NÖ MSG normiert eine absolute Deckelung der Mindestsicherung: Demnach können in einem Haushalt lebende Personen unabhängig von ihrer Anzahl insgesamt maximal 1.500€ an Mindestsicherung beziehen (Rn. 118). Rechtlich wird dies derart gelöst, dass die Mindeststandards der Anspruchsberechtigten eines Haushalts prozentuell gekürzt werden, sodass diese insgesamt 1.500€ nicht übersteigen.
Grundsätzlich ist es nach der Rechtsprechung des VfGH zulässig, bei der Ausgestaltung von Mindestsicherungsleistungen eine gewisse Durchschnittsbetrachtung vorzunehmen (siehe hier). So muss berücksichtigt werden, dass für jede zusätzliche Person ein hinzukommender Aufwand vonnöten ist. Der Zweck, Mindestsicherungsbezieher*innen ein Existenzminimum zu gewähren, muss in jedem Fall sichergestellt sein (siehe hier). Doch gerade diesen Zweck verfehlt die pauschalierte Deckelung (Rn. 129). Wird doch gerade kein Bezug darauf genommen, „wie viele und welche Personen (volljährige, minderjährige, mit oder ohne Anspruch auf Transfer- bzw. Unterhaltsleistungen) dem Haushalt angehören“ (Rn. 126). Die Regelung ist somit als unsachlich zu qualifizieren, da sie keine einzelfallbezogene Bedarfsprüfung zulässt.
Ausblick – Bundeseinheitliche Mindestsicherung?
Das zweite Erkenntnis des VfGH ist als positiver Schritt in die richtige Richtung zu werten (siehe Reaktionen hier). Die Pläne der österreichischen Bundesregierung, die Deckelung pro Haushalt auf Bundesebene einheitlich einzuführen (siehe das Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ), wurden durch diese Entscheidung zunichte gemacht (siehe hier).
Dennoch besteht noch lange kein Grund zur Freude oder zum Aufatmen. Die Bundesregierung hält daran fest, bis Jahresende eine bundeseinheitliche Regelung präsentieren zu wollen. Als mögliche Grundlage nannte die österreichische Sozialministerin Hartinger-Klein das Vorarlberger Mindestsicherungsgesetz (siehe hier). An sich ist eine solche einheitliche Lösung sinnvoll – jedoch nur, wenn bestehende Standards nicht noch weiter nach unten gedrückt werden. Zwar hat sich der österreichische Bundeskanzler Kurz bereits für eine gesetzeskonforme Regelung ausgesprochen, „die den Anforderungen unserer Verfassung standhalten soll“ (siehe hier). Da allerdings im gleichen Atemzug Kürzungen bei anerkannten Flüchtlingen ins Spiel gebracht wurden, darf bereits jetzt an den Intentionen der schwarz-blauen Bundesregierung gezweifelt werden. Es ist wohl davon auszugehen, dass auch in Zukunft die untersten verfassungsrechtlichen Grenzen ausgereizt werden. Zwar ist die pauschalierte Deckelung pro Haushalt in Höhe von 1.500€ verfassungswidrig, doch wäre eine differenzierte Ausgestaltung wohl verfassungskonform.
Obwohl bereits jetzt manche Mindestsicherungs- bzw. Grundversorgungsleistungen hilfsbedürftigen Fremden faktisch keinen menschenwürdigen Lebensstandard gewähren, muss in Zukunft mit noch weitergehenden Kürzungen gerechnet werden. Man kann daher nur hoffen, dass der Verfassungsgerichtshof seine jüngst eingeschlagene Linie nunmehr konsequent weiterverfolgt und die Menschenwürde wieder vermehrt in den Fokus rückt. Darüber hinaus ist es die Aufgabe kritischer Jurist*innen, die verfassungs-, europa- und völkerrechtlichen Grenzen jedweder Kürzungen von Sozialleistungen aufzuzeigen.