26 April 2021

Die ‘Bundesnotbremse’ ist nicht zustande gekommen

Der Reform des Infektionsschutzgesetzes fehlt die Zustimmung des Bundesrates

Die fein ziselierte Unterscheidung von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen wird gemeinhin nicht zu den aufregendsten Gegenständen des Verfassungsrechts gezählt. Zu Unrecht, wie sich in diesen Tagen einmal mehr zeigt. Sie ist nichts weniger als das Herzstück der föderalen Gewaltenteilung. Aller Orten war in den letzten Tagen von der mutmaßlichen materiellen Verfassungswidrigkeit des neuen § 28b IfSG, der „Bundesnotbremse“, und insbesondere der dort vorgesehen nächtlichen Ausgangssperre zu lesen und zu hören. Angesichts der großen Aufmerksamkeit muss verwundern, dass die offenkundige formelle Verfassungswidrigkeit der Norm bislang nicht thematisiert wurde. Bei der „Bundesnotbremse“ handelt es sich um ein gleich in zweifacher Hinsicht zustimmungsbedürftiges Gesetz, dem die Zustimmung des Bundesrats fehlt und das daher nicht gemäß Art. 78 GG zustande gekommen ist. Eine Umdeutung der Nichtanrufung des Vermittlungsausschusses in eine Zustimmung scheidet aus.

Entgegen der ursprünglichen Rechtsauffassung insbesondere des Bundesrates (sog. Mitverantwortungstheorie) ist es zwar inzwischen gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass nicht jede Änderung eines ursprünglich zustimmungsbedürftigen Gesetzes zustimmungsbedürftig ist, doch dürfen inzwischen vier Fallgruppen der Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen als gesichert gelten. Neben der selbstverständlichen Fallgruppe, dass das Änderungsgesetz selbst neue zustimmungsbedürftige Vorschriften enthält, sind Änderungsgesetze in drei weiteren Fällen zustimmungspflichtig. Unproblematisch sind dabei die beiden Fallgruppen, in denen die ursprünglich die Zustimmungsbedürftigkeit begründenden Vorschriften des Gesetzes selbst geändert werden oder die Geltungsdauer eines befristeten Zustimmungsgesetzes verlängert wird. Konkretisierungsbedürftig ist dagegen die letzte Fallgruppe. Nach gut begründeter ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Änderungsgesetz auch dann zustimmungsbedürftig, wenn es solche materiell-rechtlichen Regelungen enthält, die bestehende zustimmungsbedürftige Vorschriften zwar formell nicht ändern, ihnen aber eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen. Wenn mindestens eine der Fallgruppen einschlägig ist, ist die Zustimmungsbedürftigkeit nicht auf die sie auslösende Einzelbestimmung beschränkt, sondern trifft das (Änderungs-)Gesetz als Ganzes (sog. Einheitsthese).

Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 104a Abs. 4 GG

Die vermeintlich unscheinbare Regelung in § 28b Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG, nach der ab einem Inzidenzwert von 100 „die Teilnahme am Präsenzunterricht […] nur zulässig für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte“ ist, „die zweimal in der Woche mittels eines anerkannten Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 getestet werden“, löst schon bei isolierter Betrachtung die Zustimmungsbedürftigkeit der gesamten „Bundesnotbremse“ aus. Gemäß Art. 104a Abs. 4 GG bedürfen nämlich Bundesgesetze, die unter anderem Pflichten der Länder zur Erbringung von „geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheit […] ausgeführt werden, der Zustimmung des Bundesrates, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind“.

Der verfassungsändernde Gesetzgeber unterstellte bei der Neuformulierung des Art. 104a Abs. 4 GG im Zuge des Föderalismus-Reform I 2006 – in ausdrücklicher Anlehnung an den sozialrechtlichen Sprachgebrauch – ein bewusst weites Verständnis des Begriffs der geldwerten Sachleistung. Diese sollte etwa auch die „Schaffung und Unterhaltung von Aufnahmeeinrichtungen für die Unterbringung von Asylbegehrenden“, „die Verpflichtung der Länder zur Erbringung von Schuldnerberatungen oder zur Bereitstellung von Tagesbetreuungsplätzen“ (BT-Drs. 16/813, S. 18) umfassen. Demensprechend sind auch die verpflichtenden Corona-Tests unter den Begriff der geldwerten Sachleistung zu subsumieren.

Gegen diesen Befund lässt sich nicht anführen, dass die Bundesländer eine solche Testpflicht für Schüler ohnehin schon vorsehen. Bislang handelte es sich nämlich um gänzlich autonome Entscheidungen der Bundesländer, die sie jederzeit ändern konnten. Der Schutzzweck des Zustimmungserfordernis des Art. 104a Abs. 4 GG liegt gerade darin, die Länder vor einer finanziellen Fremdbestimmung durch den Bund zu schützen.

Weiter lässt sich nicht entgegnen, es handele sich lediglich um eine unerheblich finanzielle Belastung der Länder. Zum einen sieht Art. 104a Abs. 4 GG aus guten Gründen schon gar keine Erheblichkeitsschwelle vor, zum anderen sind die Kosten, auch wenn ein einzelner Test schon für wenige Euro zu beschaffen sein mag, angesichts der schieren Masse von zwei Tests je Schüler pro Woche in der Summe alles andere als unerheblich.

Ferner kann 49 Jahre nach dem Ende des besonderen Gewaltverhältnis auch nicht ernsthaft behauptet werden, Schüler seien keine Dritten im Sinne des Art. 104a Abs. 4 GG. Falls doch, so handelte es sich bei § 28b Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG übrigens um eine Regelung des Verwaltungsverfahrens ohne Abweichungsmöglichkeit der Länder, die ihrerseits nach Art. 84 Abs. 1 Satz 6 zustimmungsbedürftig wäre.

Schließlich lässt sich auch nicht mit besonderer Spitzfindigkeit einwenden, § 28b Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG schreibe den Ländern ja gar nicht ausdrücklich vor, den Schülern die Tests tatsächlich kostenlos anzubieten. Schon ein schneller Vergleich zu sozialrechtlichen Leistungstatbeständen zeigt, dass die Kostenfreiheit der Gewährung einer Sachleistung grundsätzlich nicht explizit formuliert wird – alles andere grenzte an sprachliche Absurdität. Zudem kommt den Ländern überhaupt kein rechtlicher Spielraum zu, den Zugang zu öffentlichen Schulen von einem kostenpflichtigen Test abhängig zu machen. Ein solcher Versuch scheiterte an dem in zahlreichen Landesverfassungen und ansonsten in den Schulgesetzen der Länder verankerten Grundsatz der Schulgeldfreiheit. Dieser gilt übrigens jedenfalls für die Grundschulen gemäß Art. 28 Abs. 1 lit. a UN-Kinderrechtskonvention auch im Range einfachen Bundesrechts.

Zustimmungsbedürftigkeit aufgrund wesentlich anderer Bedeutung und Tragweite

Neben der sich aus Art. 104a Abs. 4 GG ergebenden Zustimmungsbedürftigkeit ist § 28b IfSG auch zustimmungsbedürftig, da er solche materiell-rechtlichen Regelungen enthält, die die bestehenden zustimmungsbedürftigen Vorschriften insbesondere des fünften Abschnitts des IfSG zwar formell nicht ändern, ihnen aber eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen.

Die Anforderungen an die Konkretisierung der wesentlich anderen Bedeutung und Tragweite sind hoch, sie sind aber jedenfalls dann erreicht, wenn es zu einer „Systemverschiebung“ (BVerfGE 48, 127, 180 f.) des föderativen Gefüges des durch das ursprünglich zustimmungsbedürftige Gesetz geregelten Sachbereichs kommt. Das ist im Falle der „Bundesnotbremse“ in geradezu paradigmatischer Klarheit der Fall. Das IfSG war bislang von einem verschachtelten Kooperationsverhältnis zwischen Bund und Ländern geprägt, dem aber als gemeinsamer Zug innewohnte, dass ein Großteil der rechtlichen Instrumente des fünften Abschnitts des IfSG zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten – mit Ausnahme insbesondere der Quarantäne bzw. Absonderung und Beobachtung nach §§ 29 f. IfSG – erst nach Konkretisierung durch Landesrechtsverordnungen zu anwendbarem Recht wurden. An dieser grundlegenden Architektur hatten auch die bisherigen Änderungen des IfSG im Zuge der Corona-Pandemie, einschließlich des Maßnahmenkatalogs in § 28a IfSG, nichts geändert. Erst die „Bundesnotbremse“ des neuen § 28b IfSG schafft von Bundesrechts wegen höchst detaillierte Verbotsnormen, die die Länder nur noch vollziehen können. Mehr noch, ab einem Inzidenzwert von 100 haben weder die Landesregierungen noch die Kommunen die Möglichkeit, regionale oder lokale Besonderheiten des Infektionsgeschehens zu berücksichtigen. Nur für „weitergehende Schutzmaßnahmen“ bleibt nach § 28b Abs. 5 IfSG Raum.

Keine Umdeutung

Ist ein Gesetz zustimmungsbedürftig und mangelt es an der Zustimmung des Bundesrats, so kommt das Gesetz nicht gemäß Art. 78 GG zustande.  Wie alle anderen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane ist auch der Bundesrat allerdings davon ausgegangen, dass es sich bei § 28b IfSG um ein Einspruchs- und nicht um ein Zustimmungsgesetz handelt. Dementsprechend hat der Bundesrat in seiner 1003. Sitzung vom 22. April 2021 auch lediglich den Beschluss gefasst, nicht gemäß Art. 77 Abs. 2 GG den Vermittlungsausschuss anzurufen. Weitgehend ungeklärt ist bislang die Frage, ob sich diese Entscheidung des Bundesrats in eine Zustimmung umdeuten lässt.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine solche Möglichkeit in einer frühen Entscheidung aus dem Jahre 1958 „ausnahmsweise“ bejaht (BVerfGE 8, 274, 296 ff.), wenn „besondere Umstände bei der Beratung und Beschlußfassung eindeutig erkennen lassen, daß der Bundesrat mit der Vorlage einverstanden war und das Zustandekommen des Gesetzes gewollt hat.“ (297, Hervorhebung im Original). Die besonderen Umstände konkretisiert das Bundesverfassungsgericht dahingehend, dass „von keinem Lande Bedenken geltend gemacht worden“ (299) sein dürfen, alle Bundesländer den „Erlaß für unbedingt notwendig gehalten“ (299 f.) haben und die Vorgänge letztlich als „technisches Versehen“ (300) verstanden werden müssen. Keine dieser Voraussetzungen dürfte im Falle der „Bundesnotbremse“ und der 1003. Sitzung des Bundesrates am 22. April 2021 zu bejahen sein. Erstens wurden in allen sieben Reden der Bundesratsmitglieder erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit und gegen die Zweckmäßigkeit des „Bundesnotbremse“ geäußert. So wollte etwa Ministerpräsident Haseloff gar nicht mal einen „Mehrwert“ der Bundesnotbremse erkennen. Zweitens hat jedenfalls ein Teil der Länder nicht etwa deswegen auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses verzichtet, weil sie den Erlass der „Bundesnotbremse“ für unbedingt notwendig erachteten, sondern, wie es Ministerpräsident Haseloff in der Sitzung des Bundesrates ausdrückte, weil eine Anrufung des Vermittlungsausschusses angesichts der vermeintlichen Einstufung als Einspruchsgesetz lediglich eine Verzögerung aber keine Verbesserung oder Verhinderung des Gesetzes bewirken könne. Drittens mögen angesichts der Tatsache, dass die föderative Ordnung der Weimarer Reichsverfassung keine Zustimmungsgesetze kannte, bloß technische Versehen hinsichtlich der Einordnung eines Gesetzes 1958 noch durchaus nachvollziehbar gewesen sein, 2021 sind sie indes nur sehr schwer vollstellbar.

Über diese tatbestandlichen Fragen hinaus sieht sich inzwischen aber auch die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen Umdeutung unüberwindlichen Bedenken ausgesetzt. Im Ergebnis ist der überwiegenden Ansicht in der freilich recht spärlichen Literatur zu dieser Frage zuzustimmen, dass das seit 1966 in der Geschäftsordnung des Bundesrates in § 30 Abs. 1 GOBR normierte „Eindeutigkeitsgebot“ von vorneherein jeden Versuch der Umdeutung von Bundesratsbeschlüssen ausschließt. Nach diesem sind die Abstimmungsfragen im Bundesrat stets so zu fassen, „dass sich aus der Abstimmung zweifelsfrei ergibt, ob der Bundesrat mit der Mehrheit seiner Stimmen beschlossen hat, […] einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz zuzustimmen (Artikel 78 des Grundgesetzes), wegen eines vom Bundestag beschlossenen Gesetzes die Einberufung des Vermittlungsausschusses zu verlangen (Artikel 77 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes), gegen ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz Einspruch einzulegen oder ihn zurückzunehmen (Artikel 77 Absatz 3 Satz 1 und Artikel 78 des Grundgesetzes).“

Angesichts der normhierarchischen Prämisse, nach der aus Geschäftsordnungsrecht nicht ohne weiteres Maßstäbe zur Beurteilung verfassungsrechtlicher Fragen gewonnen werden können, gilt es eine Begründung für dieses Ergebnis nachzutragen. Diese ist darin zu suchen, dass jede Form der Umdeutung von jeher als subjektives Element einen hypothetischen Umdeutungswillen voraussetzt, also den mutmaßlichen Willen des Erklärenden, die umgedeutete Erklärung möge gelten, wenn sich die ursprüngliche als nichtig erweist. § 30 Abs. 1 GOBR lässt just dieses subjektive Element entfallen, ist er doch nicht anders als einen im Wege der Satzungsautonomie generell-abstrakt vorab gefassten Ausschluss des Umdeutungswillens zu verstehen.

Es bleibt somit bei der fehlenden Zustimmung des Bundesrats zum zustimmungsbedürftigen § 28b IfSG, der folglich nicht gemäß Art. 78 GG zustande gekommen ist. Es handelt sich – nochmals in den Worten Ministerpräsidenten Haseloffs um nicht weniger als einen „Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“.


22 Comments

  1. Wilko Zicht Mon 26 Apr 2021 at 18:48 - Reply

    Was die Schnelltests als geldwerte Sachleistung angeht, scheint mir doch ein Denkfehler vorzuliegen. Der § 28b legt den Ländern keine Pflicht auf, den Schüler*innen Schnelltests zu finanzieren, sondern verbietet ihnen einen Präsenzunterricht. Gleichzeitig ermöglicht die Regelung den Ländern, von diesem Verbot abzuweichen, sofern sie Schnelltests anbieten und durchführen. Diese Abweichungsmöglichkeit ist keine Pflicht im Sinne von Art. 14a Abs. 4 GG, so dass sie auch keine Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes auslöst.

    In Bezug auf den zweiten Argumentationsstrang bleibt unklar, welche „Vorschriften insbesondere des fünften Abschnitts des IfSG“ denn (nach geltender Verfassungsrechtslage) zustimmungsbedürftig sein sollen. Denn nur wenn eben solche zustimmungsbedürftigen Vorschriften (und nicht irgendwelche anderen Vorschriften des Gesetzes) durch den § 28b eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite erhalten, macht dies den § 28b zustimmungsbedürftig. Der Autor benennt keine solche Vorschrift, und mir ist beim Querlesen des 5. Abschnitts auch keine ins Auge gefallen.

    • Wilko Zicht Wed 28 Apr 2021 at 16:08 - Reply

      Tippfehler: Ich meinte natürlich nicht Art. 14a GG, sondern Art. 104a GG.

    • Erkus Bündlin Thu 29 Apr 2021 at 23:18 - Reply

      @ Wilko Zicht
      Der Autor hat die wesentliche Änderung doch klar herausgestellt: Die Umsetzung des IfSG war bisher Ländersache (wobei der Gesundheitsminister ebenfalls bestimmte Anordnungen treffen kann), daher auch die kleinen aber bedeutsamen Wörter “können” + “insbesondere” im 28a Absatz 1 Satz 1 IfSG, welche den Landesfürsten sowie Gesundheitsämtern sämtliche Optionen offen lässt. Genau dieser föderale Ansatz sollte mit 28b korrigiert werden, um geplante und bereits begonnene Öffnungsmodelprojekte zu unterbinden. Der Hinweis auf Absatz 5 diente dem Autor lediglich zur Herausstellung dieser Bevormundung. Ein weiteres Problem, welches der Autor noch nicht erwähnte, ist der Automatismus durch die Koppelung an den “Inzidenzwert”, welcher von dem Umfang und Art der Testungen abhängt und damit beeinflusst werden kann. Zudem lässt der Inzidenzwert alleine keinen Aussage über die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems zu, dies ist von weiteren Faktoren abhängig z. Bsp. regional unterschiedlicher Auf- oder Abbau von Intensivbetten, Altersstruktur und Vorerkrankungen der Bevölkerung, Gefährlichkeit der jeweiligen Mutante, Durchimpfung und Grad der Herdenimmunität, Mobilität und Compliance, Verteilung der Bevölkerung innerhalb eines Kreises (Stadt-Land-Gefälle) und und und

    • Holger Grefrath Fri 30 Apr 2021 at 17:48 - Reply

      Sehr geehrter Herr Zicht,
      zu dem vermeintlichen „Denkfehler“ möchte ich ausführlich in meiner Erwiderung auf den Kommentar von Frau Prof. Leisner-Egensperger Stellung nehmen.

      Zum Ihrem zweiten Einwand: Bis auf die Verordnungsermächtigung des § 32 IfSG sind alle bisherigen Vorschriften des fünften Abschnitts des IfSG zustimmungsbedürftig. Im Einzelnen:

      Die §§ 25, 26, 27, 29, 28, 28a, 29 und 30 IfSG enthalten nach Art. 84 Abs. 1 Satz 6 GG zustimmungsbedürftige Verfahrensregelungen ohne Abweichungsmöglichkeit der Länder.

      Die §§ 28, 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG als Grundlage der Schließung von Schulen und Kindergärten lösen den Entschädigungsanspruch nach § 56 Abs. 1a IfSG aus, für den § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IfSG die Länder als Zahlungsverpflichtete bestimmt. Sie sind daher nach Art. 104a Abs. 4 GG zustimmungsbedürftig.

      Die §§ 30 und 31 IfSG lösen schließlich den Entschädigungsanspruch nach § 56 Abs. 1 IfSG aus, für den wiederum § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 IfSG die Länder als Zahlungsverpflichtete bestimmt. Auch diese sind daher nach Art. 104a Abs. 4 GG zustimmungsbedürftig.

      Zur Frage, inwieweit § 28b IfSG eine föderative „Systemverschiebung“ gerade dieser Normen nach sich zieht, verweise ich auf die Ausführungen in meinem ursprünglichen Beitrag.

      • Wilko Zicht Sun 2 May 2021 at 18:00 - Reply

        Sehr geehrter Herr Grefrath,

        dank des Hinweises auf die Entschädigungsregelung in § 56 Abs. 1a bin ich nun auch der Auffassung, dass das Gesetz zustimmungspflichtig war und damit nicht verfassungsgemäß zustande gekommen ist. Ohne diese Entschädigungspflicht (die Sie in dem Beitrag ja gar nicht erwähnen), bliebe es allerdings bei meinem Einwand.

        Was das Auslösen der Zustimmungsbedürftigkeit durch eine föderative Systemverschiebung angeht, haben Sie mich noch nicht überzeugt. Dass die §§ 25 ff. IfSG „zustimmungsbedürftige Verfahrensregelungen ohne Abweichungsmöglichkeit der Länder“ enthalten sollen, kann ich nicht nachvollziehen. Erforderlich wäre dazu, dass das Gesetz eine Abweichungsmöglichkeit ausdrücklich ausschließt, anderenfalls gilt diese qua Grundgesetz (BVerfG, 1 BvR 1015/15, Rd. 60 f.).

        Die §§ 30 und 31 IfSG mögen zwar (i. V. m. §§ 56, 66 IfSG) für sich genommen zustimmungsbedürftig sein, erhalten durch den neuen § 29b aber keine, schon gar keine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite, so dass sich auch insofern keine Zustimmungsbedürftigkeit herleiten lässt.

  2. Anna Leisner-Egensperger Tue 27 Apr 2021 at 10:10 - Reply

    Rechtspolitisch ist die Bundesnotbremse fraglos als “Tiefpunkt der föderalen Kultur” zu werten. Doch hat der kooperative Föderalismus seine Bewährungsprobe als effektives Instrument zur Bewältigung einer Pandemie eben auch nur teilweise bestanden – woran die Ministerpräsidenten übrigens ebensowenig unschuldig waren wie an der juristischen Panne der Osterruhe, ungeachtet ihrer jüngst gezeigten Einsicht im Bundesrat. Ob sich das grundsätzliche Akzeptanzproblem des Flickenteppichs durch professionelle und sachverständig vorbereitete Organisation der Ministerpräsidentenkonferenzen und eine medienwirksame Transparenz- und Kommunikationsoffensive zu den Vorteilen einer föderalistischen Pandemiebewältigung hätte vermeiden oder zumindest verringern lassen, wird die politikwissenschaftliche Aufarbeitung lehren. Unter finanzverfassungsrechtlichem Blickwinkel lässt sich eine Zustimmungsbedürftigkeit der Bundesnotbremse jedenfalls nicht annehmen. Zwar ist die Testung als geldwerte Sachleistung i.S.d. Art. 104a Abs. 4 GG einordnen. Doch normiert § 28b Abs. 3 S. 1 Hlbstz 2 IfSG – anders als noch der Gesetzentwurf zu dieser Vorschrift – gerade keine Pflicht der Länder, Schultestungen durchzuführen. Es wird lediglich die Teilnahme am Präsenzunterricht auf regelmäßig getestete Personen beschränkt. Damit liegt aber ein kostenbelastendes Bundesgesetz, vor dem die Länder zu schützen wären, selbst bei länderfreundlich extensiver Auslegung des Schutzzwecks des Art. 104a Abs. 4 nicht vor. Denn die Länder bleiben weiterhin frei darin, auch bei Inzidenzen unter 165 nur einen Distanzunterricht vorzusehen – sei es, dass sie im Rahmen ihrer Finanzautonomie entsprechende Testkapazitäten einsparen wollen, oder dass sie ihrer Schutzpflicht für die Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in höherem Maße nachkommen wollen als dies die Bundesnotbremse vorsieht – wie dies gegenwärtig beispielsweise für viele Jahrgänge in Bayern passiert.

    • Andreas Klein Wed 28 Apr 2021 at 08:26 - Reply

      Was ist mit dem Entschädigungsanspruch nach 56 IfSG? Das müssen die Länder doch zahlen, wenn die Schule schließt und die Eltern der Schulkinder nicht arbeiten können?

    • Holger Grefrath Fri 30 Apr 2021 at 11:05 - Reply

      Sehr geehrte Frau Professor Leisner-Egensperger,
      herzlichen Dank für Ihren konstruktiven Einwand! Hinsichtlich der Frage, ob § 28b Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz zustimmungsbedürftig ist, kommt es entscheidend auf die Interpretation des Begriffs der „Pflicht“ in Art. 104a Abs. 4 GG an. Zu beachten ist zunächst der – in der Kommentarliteratur bisweilen ignorierte – Formulierungsunterschied zwischen der bis 2006 als Art. 104a Abs. 3 Satz 3 GG geltenden Fassung der Zustimmungsregelung und dem „neuen“ Art. 104a Abs. 4 GG. Während die alte Formulierung an den Grundtatbestand der gesetzlichen „Gewährung“ einer Geldleistungspflicht nach Art. 104a Abs. 3 Satz 1 GG anknüpfte, spricht Art. 104a Abs. 4 GG nunmehr von „Bundesgesetzen, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen“. Bei dieser deutlichen sprachlichen Lockerung des Grads der Kausalität zwischen Bundesgesetz und finanzieller Belastung der Länder handelt es sich nicht etwa um ein Redaktionsversehen, sondern um eine bewusste Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers angesichts der neuen Zustimmungsbedürftigkeit im Falle geldwerter Sachleistungen: „Bei gesetzlicher Verpflichtung zur Gewährung von ‚geldwerten Sachleistungen‘ haben die Länder zwar einen gewissen, aber letztlich doch nur beschränkten Einfluss auf den Umfang der anfallenden Zweckausgaben.“ (BT-Drs. 16/813, S. 18). Damit ist schon entstehungsgeschichtlich naheliegend, den Begriff der Pflicht i.S.d. Art 104a Abs. 4 GG nicht bloß im strengen Sinne als Kehrseite eines Anspruchs auf die in Rede stehende geldwerte Sachleistung zu verstehen.
      In teleologischer Betrachtungsweise ist jedoch entscheidend, dass die Bundesländer durch Art. 104a Abs. 4 GG umfassend vor finanzieller Fremdbestimmung durch den Bund geschützt werden sollen. Ganz bewusst sieht die Vorschrift daher anders als noch Art. 104a Abs. 3 Satz 3 GG a.F. keine Bagatellgrenze vor. Diese – durch die Gesetzesmaterialien umfassend dokumentierte – Intention könnte doch nur allzu einfach unterlaufen werden, wenn die Zustimmungsbedürftigkeit schon immer dann entfiele, wenn die Sach- oder Geldleistung als mildere Alternative zu einer aus der Perspektive der Länder politisch unerwünschten Handlungsoption formuliert werden könnte. Genau dies ist im Falle der Wahl zwischen vollständigem Verbot des Präsenzunterrichts ab eines Inzidenzwerts von 100 oder der Testung von Schülern jedenfalls von Standpunkt der weit überwiegenden Mehrheit der Länder, die nicht müde werden, ihren politischen Willen zur Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts „so lange es irgendwie geht“ zu artikulieren, der Fall. In der politischen Diskussion der letzten Wochen und Monate war die möglichst weitgehende Offenhaltung der Schulen stets eine der von Länderseite formulierten Hauptforderungen. Ein Verzicht auf den zweiten Halbsatz des § 28b Abs. 3 Satz 1 IfSG hätte den Ländern dagegen einen echten Handlungsspielraum eröffnet und ihnen die Konkretisierung der „angemessenen Schutz- und Hygienekonzepte“ überlassen.
      Im konkreten Fall des § 28b Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG kommt erschwerend hinzu, dass auch die alternative Handlungsmöglichkeit der Länder, nämlich den Präsenzunterricht vollständig einzustellen, ihrerseits die Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 104a Abs. 4 GG auslöst. Die Einstellung des Präsenzunterrichts begründet nämlich Zahlungspflichten nach § 56 Abs. 1a IfSG, für die § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 IfSG die Länder als Zahlungsverpflichtete bestimmt. Dass § 56 Abs. 1a IfSG bislang lediglich von der Schließung durch die „zuständigen Behörden“ spricht, dürfte insoweit unschädlich sein, ggf. ist die Norm analog anzuwenden.
      Somit kommt es im Falle von § 28b Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG zu einer Art unechten Wahlfeststellung zwischen zwei Sachverhalten, die beide die Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 104a Abs. 4 GG begründeten, lägen sie isoliert vor.

  3. Sylvia Kaufhold Tue 27 Apr 2021 at 12:55 - Reply

    Die Verfassungsbeschwerde der FDP greift das Erfordernis der Zustimmungsbedürftigkeit explizit auf (S. 26 ff): https://www.fdpbt.de/sites/default/files/2021-04/Verfassungsbeschwerde4.BevSchG-final_Presseversion.pdf

  4. Carsten Achilles Wed 28 Apr 2021 at 07:18 - Reply

    Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz https://www.2s-ip.com/news/bverfg-upc-verfassungswidrig/ am 20.03.2020 gekippt. Dabei geht es um Patente, aber das ist nicht wichtig. Begründung des Gerichtes:

    Das BVerfG hat sich dabei weniger inhaltlich mit dem UPC befasst, sondern mit den für das Zustimmungsgesetz erforderlichen Mehrheiten im Parlament. Nach Auffassung des Gerichts greift das neue Europäische Patentgericht in die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger ein, weshalb zu seiner Inkraftsetzung eine verfassungsändernde Mehrheit mit den entsprechenden formellen Regularien erforderlich ist, nach Art. 79 GG also eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder in Bundestag und Bundesrat mit entsprechenden Hinweisen im Gesetz. Daran hat es bei der Zustimmung gefehlt.

    Meine Frage: Darf ein Gesetz, dass derart in die Grundrechte eingreift wie das Infektionsschutzgesetz OHNE 2/3 – Mehrheit im Bundestag beschlossen werden ?

    • Dominic Bair Fri 30 Apr 2021 at 18:14 - Reply

      Bei dem von Ihnen zitierten Fall geht es um die Zuständigkeit zu einem internationalen Vertrag, der Kompetenzen auf ein Internationales Organ im Rahmen einer quasi-EU-Zusammenarbeit (es machen nicht alle Mitglieder mit, deshalb ein eigenes Abkommen) überträgt. Dabei handelt es sich um eine de facto Verfassungsänderung. Deshalb gelten für dessen Ratifizierung die selben Mehrheitserfordernisse wie für Verfassungsänderungen.

      Das IfSG ist jedoch ein normales Gesetz was in Rahmen des regulären Gesetzgebungsverfahrens (Art.76ff.) beschlossen werden kann.

      • Dominic Bair Fri 30 Apr 2021 at 18:18 - Reply

        Verzeihung, es soll natürlich, ,,Zustimmung zu einem internationalen Vertrag”, nicht, ,,Zuständigkeit”, heißen

  5. Anna Leisner-Egensperger Thu 29 Apr 2021 at 18:18 - Reply

    (zu Andreas Klein) Der richtige argumentative Ansatz zur Annahme einer Zustimmungsbedürftigkeit liegt in der Tat in § 56 Abs. 1a IfSG (vgl. die zitierte Vb der FDP, S. 28). Bei diesem Punkt – übrigens auch zu den fehlenden Ausnahmen für Geimpfte – können wir gespannt auf die Entscheidung aus Karlsruhe sein.

  6. Stefan Pagel Fri 30 Apr 2021 at 09:06 - Reply

    Ich vermisse in der Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Änderung des IfSG – gerade im Hinblick auf den hier beleuchteten § 28b Abs. 3 IfSG -, dass dem Bund keine Kompetenzen zu Regelungen zum Schulunterricht in den Art. 72 ff. GG zugewiesen sind.

    • Wilko Zicht Sun 2 May 2021 at 18:10 - Reply

      Im Vordergrund steht hier klar der Infektionsschutz, für den der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz hat. So lange er keine insoweit unnötigen schulpolitischen Vorgaben macht, ist das unproblematisch.

    • Carolin Mon 3 May 2021 at 07:45 - Reply

      Und letztendlich würde eine klagende Ersatzschule nach Art. 7 IV GG das Gesetz gänzlich zu Fall bringen, weil mit der Anwesenheit einer solchen gar keiner gerechnet hat.

  7. Thorsten Engel Fri 30 Apr 2021 at 11:37 - Reply

    Eine laienhafte Frage: Der Blogbeitrag ist vom 26.4.2021, die Zustimmung des Bundesrates erfolgte am 22.4.2021. Ist damit die obige Argumentation hinfällig (die empfundene Zerstörung der Rechtssubstanz/Werte durch die Ignoranz gegenüber diesen einmal ausser Acht gelassen)?

    • Dominic Bair Fri 30 Apr 2021 at 18:01 - Reply

      Nein. Der Bundesrat hat darauf verzichtet, ,,Einspruch”, gegen das Gesetz einzulegen. Dieser kann vom Bundestag mit absoluter Mehrheit -oder wenn er mit 2/3 der Stimmen im Bundesrat eingelegt wurde, 2/3 der Mitglieder- überstimmt werden. (Vorher hätte aber noch der Vermittlungsausschuss eingeschaltet werden müssen.)

      Um genau diese Einstufung Zustimmungsgesetz/Einspruchsgesetz geht es hier.

      • Thorsten Engel Sat 1 May 2021 at 08:04 - Reply

        Hallo Herr Blair,
        danke für die Erklärung. D.h., aufgrund der inhaltlichen Gründe die Herr Gefrath ausführt, hätte ein “Einspruch” stattfinden müssen, der aber kein “Widerspruch” wäre, sondern eben eine Bewertung/Debatte bedeutet hätte, ist das so richtig? Und weiter, welche juristische/staatliche Instanz wäre hier zuständig, bzw. wie könnte eine Korrektur stattfinden? (Ich bin wie gesagt juristischer Laie, ich finde die hier dargestellte Beobachtung einfach nur so unglaublich dass ich sie verstehen möchte)

        • Frank M. Müller Wed 26 May 2021 at 16:54 - Reply

          Sehr geehrter Herr Gefrath,
          könnten Sie bitte es einem Laien erklären, ob nun die Bundesnotbremse gilt oder nicht bzw. ich diese Verordnung anfechten kann, danke.

          Mit freundlichen Grüßen
          F.M. Müller

      • Carolin Mon 3 May 2021 at 07:50 - Reply

        Hat der Bundesrat denn überhaupt darüber abgestimmt? Das ist die Frage, die ich mir stelle.
        Laut Artikel im Handelsblatt https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/pandemiebekaempfung-bundespraesident-unterzeichnet-infektionsschutzgesetz-haseloff-tiefpunkt-in-der-foederalen-kultur-/27120400.html? wurde lediglich darüber abgestimmt, ob man einen Vermittlungsausschuss einschalten möchte. Das ist keine Abstimmung über ein Gesetz – weder über ein Zustimmungs- noch über ein Einspruchsgesetz.

        • Wilko Zicht Tue 4 May 2021 at 17:33 - Reply

          Doch, das ist die übliche Abstimmungsfrage bei einem Einspruchsgesetz. Denn der Einspruch darf erst nach Abschluss eines Vermittlungsverfahrens ausgesprochen werden.

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