30 December 2021

Die Corona-Triage und das Verbot der Diskriminierung wegen der Behinderung als Schutzpflicht

1. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Art. 3 III 2 GG gesetzliche Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen vor Diskriminierung bei einer Corona-Triage verlangt. Es ist eine grundlegende Entscheidung, die wesentliche Verfassungsgrundsätze des Antidiskriminierungsrechts konsolidiert und die Beachtung der völkerrechtlichen Vorgaben für die Grundrechtsauslegung betont (zu diesen vgl. Rn. 100-107 und 130; s.a. Rn. 3, 62, 90). Sie bekräftigt das Verbot auch von mittelbaren Diskriminierungen. Vor allem aber stellt sie klar, dass Art. 3 III 2 GG, wie alle Grundrechte, auch objektive Wertentscheidung und Schutzauftrag ist ein Schutzauftrag, der sich zu einer gesetzgeberischen Schutzpflicht verdichten kann, wenn bestimmte Konstellationen vorliegen, zu denen (1.) die gezielte, als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung von Personen, (2.) Gefahren für hochrangige Grundrechtsgüter wie das Leben und (3.) Situationen struktureller Ungleichheit gehören (vgl. Leitsatz 2 und Rn. 97).

2. Weil das hinreichende Risiko einer „tödlichen Diskriminierung“ (Janisch) wegen der Behinderung besteht, bei dessen Verwirklichung die hochrangigen Grundrechtsgüter Gesundheit und Leben gefährdet wären, besteht hier eine solche Schutzpflicht (Rn. 109 f.). Aus diesem Grund war die Verfassungsbeschwerde von acht der neun Beschwerdeführenden erfolgreich (zu den Darlegungslasten: Rn. 68-80; zur Unzulässigkeit der neunten Beschwerde: Rn. 20, 81).

Die gesetzgebende Gewalt muss nun „unverzüglich“ geeignete Vorkehrungen treffen, um zu verhindern, dass Menschen bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen in der Coronavirus-Pandemie wegen einer Behinderung benachteiligt werden (Tenor zu 2. und Rn. 130; arabische Ziffern in Klammern im Folgenden: Rn. der Entscheidung).

Es „fehlen hinreichend wirksame, auch nach Art. 25 BRK geforderte Vorgaben zum Diskriminierungsschutz“ spezifisch für die „Situation der pandemiebedingten Triage“ (122). Es muss „sichergestellt“ sein, dass in einer solchen „extremen Entscheidungssituation“ für die Ärzt:innen „allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“ (vgl. 123, s. auch 118).

Nur verstanden als „Aussicht, die akute Krankheit zu überleben“, ist die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung ein „als solches zulässiges Auswahlkriterium“ (116). Nicht zulässig wäre es hingegen, wenn „auf die längerfristig erwartbare Überlebensdauer“ und damit letztlich auf die „Maximierung von Lebenszeit“ abgestellt würde (117 [mit 123], 119).

Das Gericht stellt damit zu Recht klar, dass das aus der Menschenwürde folgende Verbot der Abwägung von Leben gegen Leben (128) bei der Erfüllung von Schutzpflichten zwar weniger weit reicht als bei dem Abwehrrecht gegen aktive hoheitliche Tötungen, aber auch insoweit dem Ziel einer Lebenszeit-Maximierung entgegensteht (s. auch meine entsprechende Einschätzung hier und hier; dort auch näher zur Abgrenzung zum Luftsicherheitsgesetz-Urteil, das durch die jetzige Entscheidung nicht relativiert wird): Die Staatsgewalt darf zwar nicht aktiv Unschuldige gezielt (oder hochwahrscheinlich, s. hier, S. 80 ff.) töten, um dadurch die größere Zahl an Leben zu retten. Wo es nicht um aktive Tötungshandlungen geht, sondern um das Unterlassen der Lebensrettung, darf sie jedoch, wo nicht alle gerettet werden können, darauf hinwirken, möglichst viele zu retten, indem sie eine Triage nach der kurzfristigen konkreten Überlebenswahrscheinlichkeit zulässt.((Vgl. die Maßstäbe für öffentliche Krankenhäuser offenlassend, weil sich aus der unmittelbaren Grundrechtsbindung dort „im Ergebnis keine weiterreichenden Folgen ergäben“: Rn. 129.)) Auch bei der Lebensrettung darf sie nicht die Maximierung der geretteten Lebensjahre als Kriterium vorgeben (vgl. auch Lübbe).

3. Es liegt zumindest nahe, dass das Triage-Gesetz auch diese Einengung der zulässigen Kriterien einer Triage aufnehmen muss.

Das Gericht betont zwar, dass es „[i]nnerhalb dieses Rahmens“ in dem weiten gesetzgeberischen Spielraum liege, ob Kriterien für die Verteilungsentscheidung geregelt werden (128). Möglich seien auch Verfahrensvorgaben wie das Mehraugenprinzip oder Dokumentationspflichten (für beides: Dederer), Regelungen „zur Unterstützung vor Ort“ oder Vorgaben für die Ausbildung und Weiterbildung des Pflegepersonals (128). Dabei sind Eilbedarf und Kapazitätsgrenzen sowie die Schutzpflichten für Leib und Leben anderer Patient:innen zu berücksichtigen (127).

Die Entscheidung legt jedoch gleichwohl nahe, dass zu den Rahmenvorgaben aus Art. 3 III 2 GG zumindest auch eine gesetzliche Klarstellung gehört, dass allein (nochmals: 123) die klinische Erfolgsaussicht im Sinne der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit maßgeblich sein darf und dass Gebrechlichkeit und Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) allenfalls als Indizien und nur insoweit berücksichtigt werden dürfen, als sie diese Überlebenswahrscheinlichkeit konkret beeinflussen.

Denn die Entscheidung beurteilt die DIVI-Empfehlungen ja gerade auch deshalb als unzureichend und als ein mögliches „Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen“ (118), weil sie unverbindlich sind (114 f.). Nur für Begleiterkrankungen stellen die Empfehlungen klar, dass am Ende allein die konkrete und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit entscheidend sein darf, nicht hingegen für das Merkmal der Gebrechlichkeit (zentral: 118; s.a. 119 f.). Und die Entscheidung verweist ausdrücklich auch auf die Stellungnahme der DIVI im Verfahren, wonach die „bestehende Rechtsunsicherheit, welche Kriterien“ bei der Verteilung maßgeblich sein sein sollen, „unerträglich“ sei (120).

4. Die Entscheidung stützt sich für diese Kernaussagen maßgeblich auf die Stellungnahmen von Verbänden (55, 57, 61, 63), die das Risiko bewusster oder unbewusster Vorurteile und damit von Fehlprognosen unter Zeitdruck betonten (s.a. 51, 52): Behinderung wird danach häufig fälschlich mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder mit der pauschalen Annahme geringerer Genesungsfähigkeit (57) oder höherer Gebrechlichkeit (61) verbunden.

Schon 2020 seien Menschen mit Behinderung trotz schwerer COVID-Infektionen nicht aufgenommen worden und es habe eine „Triage vor der Triage“ stattgefunden (53).

Dass „die stereotype Wahrnehmung von Behinderungen zu vorschnellen Schlüssen […] verleiten kann“, war für das Gericht entsprechend nicht nur mit Blick auf die Unzulässigkeit der längerfristigen Lebensdauer als Auswahlkriterium ein tragendes Argument (117), sondern auch für die Risiken einer Fehlanwendung des zulässigen Kriteriums der akuten Überlebenswahrscheinlichkeit.

So verwies das Gericht mit Blick auf die von der DIVI in Bezug genommene Gebrechlichkeitsskala (Frailty Scale) darauf, dass dort Behinderungen nicht berücksichtigt werden und diese Skala für andere Zwecke entwickelt wurde (118). Eine „skalengeleitete Berücksichtigung von Gebrechlichkeit“ sei zwar nicht als solche unzulässig und könne eilige Entscheidungen erleichtern und konsistenter machen, gehe aber auch mit dem Risiko von Benachteiligungen einher, etwa weil vorschnell von Behinderung auf Gebrechlichkeit geschlossen werden kann oder „Vorstellungen von einer schlechteren Lebensqualität behinderter und assistenzbedürftiger Menschen“ zum Tragen kommen können (118, unter Verweis auf QALYS, „quality adjusted life years scale“).

5. Die antidiskriminierungsrechtliche Bedeutung der Entscheidung reicht über die Problematik der Triage selbst hinaus. Sie systematisiert die vier Wirkungen des Diskriminierungsverbots aus Art. 3 III 2 GG (92, 94): Es schützt (1.) „abwehrrechtlich gegen staatliche Benachteiligung“, enthält (2.) „einen Förderauftrag“ als „Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe“, ist (3.) „als objektive Wertentscheidung in allen Rechtsgebieten zu beachten“ und normiert schließlich (4.) einen „Schutzauftrag für den Gesetzgeber, der sich „in bestimmten Konstellationen“ zur Schutzpflicht verdichtet und „zum Handeln verpflichtet.

Für das subjektive Abwehrrecht bekräftigt die Entscheidung, dass es „das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung“ einschließt (93).((Vgl. zuvor schon BVerfGE 151, 1 (Rn. 55) – Wahlrecht Betreute (2019); s. zu Art. 3 III GG insgesamt aber auch bereits BVerfGE 121, 241 (254 f.) – Versorgungsabschlag Teilzeitbeamte (2008) („Gruppe […], deren Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 GG strikt verboten ist (mittelbare Diskriminierung)“; Hervorh. hinzugef.))

Vor allem aber buchstabiert das Gericht aus, was selbstverständlich sein sollte, nämlich dass (natürlich) auch für das Verbot der Diskriminierung wegen der Behinderung gelten muss, was für alle Grundrechte gilt: dass sie sich als objektive Wertentscheidungen in allen Rechtsgebieten, einschließlich des Privatrechts, auswirken und bei der Interpretation auslegungsbedürftiger Normen zur Geltung zu bringen sind (95; s.a. 67 zum Schutz vor Diskriminierungen durch Private). Das Gericht knüpft dabei an Kammerentscheidungen, letztlich aber an das Lüth-Urteil selbst an, dessen bahnbrechende Aussagen sich schließlich von Anfang an auf alle Grundrechte bezogen, nicht etwa nur auf die Freiheitsrechte (vgl. BVerfGE 7, 198 [205]Lüth [1958]).

Das Gleiche gilt für die Wirkung der Grundrechte als Schutzpflichten oder, wie das Gericht jetzt differenziert, als Schutzaufträge, die sich zu konkreten Schutzpflichten verdichten können (96 f.). Auch von dieser Wirkung aller Grundrechte können nicht ausgerechnet die grundrechtlichen Diskriminierungsverbote ausgenommen werden.((Vgl. zur Ableitung von Schutzpflichten aus allen Grundrechten nur BVerfGE 117, 202 (227) – Vaterschaftsfeststellung (2007) („Die Grundrechte […] stellen Wertentscheidungen der Verfassung dar, aus denen sich Schutzpflichten […] ergeben.“); 125, 39 (78) – Sonn- und Feiertagsschutz (2009) („Aus Grundrechten ist vielmehr auch eine Schutzpflicht des Staates für das geschützte Rechtsgut abzuleiten […]“); BVerfG, Beschl. v. 27.4.2021, – Tierarzneimittelzulassung (Rn.  64: „die Grundrechte“ verpflichten dazu, „dafür zu sorgen, dass sie – unabhängig von individueller Betroffenheit – in der Wirklichkeit wirtschaftlichen und sozialen Lebens nicht leerlaufen“, und sind „insoweit Grundlage […] staatlicher Schutzpflichten“; s. dort auch die Nw. zur EMRK und zur Charta: Rn. 65 f.); Hervorh. hinzugef.))

Der Schutzauftrag ist ein Auftrag, „Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen einer Behinderung zu schützen“ (89). Behinderungen sind „längerfristige Einschränkungen von Gewicht“ (90); eine Benachteiligung liegt vor, wenn „Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden, die anderen offenstehen, soweit dies nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme hinlänglich kompensiert wird“ (91, st Rspr). Zu den spezifischen „Konstellationen ausgeprägter Hilfsbedürftigkeit“, in denen dieser Schutzauftrag sich zur Schutzpflicht verdichten kann, zählen insbesondere auch „Situationen struktureller Ungleichheit“ (97 und Leitsatz 2).

6. Mit der Triage-Entscheidung liegt nach den beiden Beschlüssen zur Bundesnotbremse nun bereits eine dritte Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen der Corona-Pandemie vor. Alle drei sind, wie – unabhängig von der Pandemie – der Klimabeschluss, vergleichsweise rasch ergangen.

Ein zusätzlicher Zeitdruck könnte sich hier womöglich aus dem aktuell wieder angestiegenen Risiko einer Triage ergeben haben, auf das die Entscheidung ausdrücklich hinweist (78). Dies mag mitverantwortlich dafür sein, dass die Begründung des jetzigen Beschlusses so ungewöhnlich knapp gehalten ist, dass man sich teils schon an den Begründungsstil des Gerichtshofs der Europäischen Union erinnert sehen kann. Wünschenswert wäre eine eingehendere Begründung sicherlich jedenfalls für die zentralen Aussagen der Entscheidung zur akuten Überlebenswahrscheinlichkeit als dem (einzig) zulässigen Kriterium der Triage (scharf kritisch zur Begründungsarmut der Entscheidung insoweit, auch mit Blick auf die Frage, ob dieses Kriterium seinerseits mittelbare Diskriminierungswirkungen entfalten kann, Huster ; s.a. Lehner [„Gefahr einer verdeckten Diskriminierung“]) sowie zur Unzulässigkeit der Lebenszeit-Maximierung als Kriterium gewesen.

Der besondere Zeitdruck mag aber eine verständliche Erklärung dafür sein, dass andere wichtige, aber nicht entscheidungserhebliche Fragen unerörtert bleiben, zu denen es in gewöhnlichen Zeiten womöglich zumindest ein obiter dictum gegeben hätte. So wird die Reichweite der Wesentlichkeitstheorie und des allgemeinen grundrechtlichen Parlamentsvorbehalts für die im ärztlichen Alltag so häufigen Entscheidungen über Leben und Tod ebenso wenig angesprochen wie etwaige grundrechtliche Vorgaben für die strafrechtliche Würdigung oder die Frage, ob ein Nachrang für Ungeimpfte bei der Triage zulässig sein könnte (vgl. zu überzeugenden Bedenken dagegen aus rechtsethischer Sicht Lübbe).

7. Fazit: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner im Ergebnis überzeugenden, wenngleich in ihrer Begründung ausbaufähigen Entscheidung zum Schutz behinderter Menschen in einer pandemiebedingten Triage seine Rechtsprechung zu den grundrechtlichen Diskriminierungsverboten konsequent weiterentwickelt und konsolidiert. Alle Grundrechte sind danach nicht nur als Abwehrrechte zu verstehen, sondern auch als objektive Wertentscheidungen und Schutzpflichten – als positive und materiale Rechte auf gleiche Freiheit und Würde.


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