Eine Gebühr für Stammgäste?
Zur Einführung einer besonderen Verfahrensgebühr für Vielkläger:innen im Sozialgerichtsverfahren
Am Freitag hat der Bundesrat einen Gesetzesentwurf Hessens abgelehnt, der den Zugang zu sozialgerichtlichen Verfahren in bestimmten Fällen erschweren sollte. Der gescheiterte Gesetzesentwurf ist der vorläufige Höhepunkt einer Diskussion, die schon seit längerem und immer wieder im Sozialrecht geführt wird und auch jetzt noch nicht vom Tisch sein dürfte. Dabei geht es um das Spannungsverhältnis von niedrigschwelligem Rechtsschutz und der Abwehr vermeintlich missbräuchlicher Inanspruchnahme der Sozialgerichte durch sogenannte Vielkläger:innen. Bevor allerdings der Zugang zu den Sozialgerichten erschwert wird, sollten belastbare Zahlen zum „Problem“ Vielkläger:innen ermittelt werden, die dann Grundlage der weiteren Diskussion bilden. Einstweilen bietet das Prozessrecht bereits jetzt Reaktionsmöglichkeiten, um den Arbeitsaufwand zu verringern.
Stammgäste am Sozialgericht
Die meisten Klagen vor den Sozialgerichten sind – anders als in anderen Gerichtszweigen – gem. § 183 SGG für Versicherte und Empfänger:innen von Sozialleistungen kostenfrei. Dieses „soziale Gerichtskostenrecht“ soll die Durchsetzung der materiellen Rechte erleichtern (BVerfGE 76, 130 (140)) und einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialgericht ermöglichen, der auch wirtschaftlich schwächeren Kläger:innen Rechtsschutz für ihre grundlegenden sozialen Rechte gewährt. So wird die möglichst weitgehende Verwirklichung der sozialen Rechte sichergestellt, § 2 Abs. 2 SGB I.
Diese Kostenfreiheit kann in manchen Fällen zu einer großen Anzahl Klagen von nur wenigen Einzelpersonen führen, die die Gerichte mit „oftmals völlig aussichtslose[n] Anliegen“ beschäftigen (BR-Drs. 495/20, S. 1). Die eigene Erfahrung zeigt: Schon nach wenigen Monaten in einer Behörde (oder an einem Gericht) kennt man diejenigen Stammgäste, die in manchen Fällen gegen jeden Bescheid und zum Teil sogar gegen reine Informationsschreiben vorgehen. Beeindruckend ist etwa ein Kläger, der innerhalb weniger Wochen mehr als 2.500 Rechtsmittel eingelegt hat (LSG Baden-Württemberg, 10.8.2015, L 12 AS 2359/15 WA). Klar ist, dass solche Verfahren erhebliche Ressourcen der Justiz binden, wovor diese geschützt werden soll (BR-Drs. 495/20, S. 2).
Der Gesetzesentwurf des Landes Hessen
Der Gesetzesentwurf sah als Lösung die Einführung einer besonderen Verfahrensgebühr vor, für die auch keine Prozesskostenhilfe gewährt werden sollte (§ 73a Abs. 3 SGG-E). § 183 SGG sollte dahin geändert werden, dass ab dem zehnten Verfahren in den letzten zehn Jahren in einem Land eine Verfahrensgebühr in Höhe von 30 EUR anfallen sollte. Fällig wäre sie für jeden Instanzenzug. Bis zur Zahlung würde das Gericht in dem Verfahren nicht tätig werden. Bei Nichtzahlung innerhalb von drei Monaten sollte die Rücknahme der Klage oder des Antrags fingiert werden.
Das Sozialgericht sollte die Feststellung der Gebührenschuld überprüfen können. Zudem hätte das Gericht in besonderen Fällen auch von der Festsetzung der Gebührenschuld absehen können, wenn dies zur Gewährung von Rechtsschutz geboten wäre.
Kritik am Gesetzesentwurf
Kritik kann man zunächst am hessischen Gesetzesentwurf üben. Grundsätzlich dürfen zwar Gebühren für Verfahren an Gerichten erhoben werden, ihre Ausgestaltung muss aber unter anderem der Bedeutung des Justizgewährleistungsanspruchs im Rechtsstaat Rechnung tragen (BVerfGE 85, 337 (346)).
Das rein formale Kriterium (neun Verfahren in zehn Jahren) lässt sich zwar leicht berechnen. Eine solche Zahl ist bei Streitigkeiten mit der Krankenversicherung über eine regelmäßig wiederkehrende Behandlung aber schnell erreicht. Auch bei Leistungsempfänger:innen über lange Zeit genügt pro Jahr eine Klage gegen einen Leistungsbescheid oder einen Sanktionsbescheid. Weitere (berechtigte) Anträge bei einem anderen Leistungsträger sind dann noch nicht mitgezählt. Im ursprünglichen Gesetzesentwurf wurden die Verfahren zudem unabhängig vom Ausgang mitgezählt, also selbst dann, wenn der oder die Kläger:in (teilweise) erfolgreich war und somit ein berechtigtes Rechtsschutzinteresse hatte. Hier wäre dem Justizgewährleistungsanspruch wohl nicht mehr ausreichend Rechnung getragen.
(Vermutlich) daher empfahl der Rechtsausschuss des Bundesrates, nur noch vollständig erfolglose Verfahren zu zählen. Weiter entschärft wurde der Entwurf durch die Empfehlung, einen Missbrauch nur noch dann anzunehmen, wenn ein:e Kläger:in zehn Verfahren „seit Anfang des vorletzten Kalenderjahres am angerufenen Gericht“ angestrengt habe (BR-Drs. 495/1/20, S. 6). Dies erleichtert einerseits die Zählung (nur noch die Verfahren am Gericht, nicht mehr im gesamten Bundesland). Andererseits ermöglicht es mehr „Freiverfahren“ und gleicht damit wohl aus, dass für die besondere Verfahrensgebühr keine Prozesskostenhilfe gewährt werden sollte. Im Hinblick auf das Anliegen ist das zwar folgerichtig, mit Blick auf die Waffengleichheit aber kritisch zu beurteilen (zum Gebot der Prozesskostenhilfe BVerfGE 81, 347 (357 f.)). Es droht nämlich die Gefahr, dass auch Kläger:innen mit einem berechtigten Interesse von der Rechtsverfolgung abgehalten würden.
Es stellt sich auch die Frage, wie groß die Entlastung der Gerichte tatsächlich wäre. Dem Rechtsstaatsprinzip entsprechend sah der Gesetzesentwurf eine gerichtliche Überprüfung der Gebührenfestsetzung vor. Bei der dem Entwurf zugrundeliegenden Vorstellung eines sogenannten Vielklägers oder einer Vielklägerin kann aber sehr wahrscheinlich davon ausgegangen werden, dass eine Überprüfung auch verlangt würde. Das Gericht wäre also auch dann mit der Sache befasst und müsste den zugrundeliegenden Sachverhalt zumindest summarisch überprüfen (zur dann folgenden richterlichen Voreingenommenheit im Hauptsacheverfahren Märkli, in Mülder/Drechsler u. A., Richterliche Abhängigkeit, 2018, 174 (181 ff.)). Denn nur so könnte festgestellt werden, ob dies zur Gewährung von Rechtsschutz geboten wäre.
Wenig Daten
Kritisch kann auch die Datengrundlage betrachtet werden. Zwar werden im Gesetzesentwurf Daten genannt (BR-Drs. 495/20, S. 1 f.). So seien zwischen dem 1.1.2010 und dem 31.12.2019 beim Hessischen Landessozialgericht insgesamt 29.718 eingegangen, wovon 5.843 Verfahren von nur 140 Kläger:innen geführt wurden. Weiter heißt es: „Im gleichen Zeitraum […] sind beim Hessischen Landessozialgericht 29.487 Verfahren […] erledigt worden. Dabei wurden 4.083 der 19.683 vollständig erfolglosen Verfahren von nur 112 kostenprivilegierten Klägern […] angestrengt.“ Herausgegriffen wird zudem ein besonders beeindruckender Extremfall eines Klägers, der allein im Jahr 2019 250 zweitinstanzliche Verfahren vor dem Hessischen Landessozialgericht führte (BR-Drs. 495/20, S. 2).
Die Zahlen sind aber unvollständig: Weder sind Zahlen für die hessischen Sozialgerichte noch für die (Landes-)Sozialgerichte der anderen Bundesländer((Auszugsweise allerdings für Bayern bei Kainz, NZS 2021, 119, sowie für Baden-Württemberg und Berlin bei Bockholdt, NZS 2020, 169 (169, 176).)) oder das Bundessozialgericht bekannt (BT-Drs. 19/24031, S. 2, 4 f.) noch die Zusammenhänge zwischen den im Gesetzesentwurf genannten Zahlen. Im Jahr 2009 kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass die Kostenfreiheit als Ursache für den Klageanstieg überschätzt werde (Braun/Buhr/Höland/Welti, Gebührenrecht im sozialgerichtlichen Verfahren, 2009). Hier müssten eigentlich zunächst die Daten ermittelt und ausgewertet sowie Personalaufwand und verursachte Kosten geschätzt werden, um das Problem der Vielkläger:innen vollständig und aktuell zu erfassen (so auch Schlegel, LTO v. 17.11.2020).
Was bedeutet eigentlich Rechtsmissbrauch?
Kritik kann man aber auch an der zugrundeliegenden Annahme des Rechtsmissbrauchs üben. Das Sozialverfahrensrecht bietet durch verschiedene Regelungen erhebliche Erleichterungen bei der Rechtsverfolgung. Hierzu gehört die grundsätzliche Kostenfreiheit des Sozialgerichtsverfahrens ebenso wie geringe Begründungsanforderungen von Widersprüchen und Klagen. Zudem bietet eine weitere Besonderheit des Sozialverfahrensrechts Erleichterung, erhöht aber zugleich auch die Klagemöglichkeiten: Gem. § 44 SGB X können auch bestandskräftige Verwaltungsakte im Nachhinein nochmals überprüft werden. So können verspätete Widersprüche in einen solchen Überprüfungsantrag umgedeutet werden. Und selbst dann, wenn die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes schon gerichtlich bestätigt wurde, kann danach noch ein Überprüfungsantrag gestellt werden. Dies kann in extremen Einzelfällen zu einer „Endlos-Überprüfungs-Schleife“ führen: Gegen einen Verwaltungsakt wird Widerspruch und dann Klage erhoben, sodann ein Überprüfungsantrag gestellt, gegen dessen Bescheid dann wiederum Widerspruch und Klage erhoben werden und so weiter. Das Recht bietet diese Möglichkeit. Dass diese dann auch genutzt wird, darin kann grundsätzlich aber kein Missbrauch liegen (ausführlich: Manssen, Der Rechtsstaat und sein Missbrauch, 2020, S. 18).
Stattdessen: Missbrauchsgebühr…
Statt den Zugang zu den Sozialgerichten durch eine besondere Verfahrensgebühr zu erschweren, könnte auch über andere Lösungen nachgedacht werden. Hierzu zählen etwa die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr gem. § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG. Diese an § 34 Abs. 2 BVerfGG angelehnte Vorschrift ermöglicht es, einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten aufzuerlegen, die dadurch verursacht werden, dass der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen worden ist. Zwar kann dieses wegen der hohen Anforderungen ein stumpferes Schwert darstellen (Schlegel, LTO v. 17.11.2020), es behindert aber auch nicht in grundrechtssensiblen Bereichen von vornherein die Rechtsverfolgung. Auch könnte in diesem Bereich über einen Vorschuss auf die Missbrauchsgebühr nachgedacht werden (Schlegel, LTO v. 17.11.2020; etwa Art. 27 Abs. 1 S. 2, 3 BayVfGHG, zur Verfassungsmäßigkeit BayVerfGH v. 9.5.1994, Vf. 9-VII-91). Dies hätte den Vorteil, dass die Rechtssache zuvor von einer Richterin geprüft würde.
…oder niedrigere Begründungsanforderungen
Eine weitere Möglichkeit könnte die Absenkung von Begründungsanforderungen sein. So könnte bei Vielkläger:innen, die gegen einen schon bestandskräftigen Verwaltungsakt vorgehen, eine umfangreiche Prüfung und Begründung nur dann erfolgen, wenn der oder die Kläger:in tatsächlich Neues vorträgt. Wegen der oben genannten Erleichterungen kann eine Klage allein mit der Bezeichnung als solche eingereicht werden. Trägt die Klägerin in dem Verfahren keine neuen Tatsachen oder Änderungen der Rechtsprechung vor (man denke etwa an das Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts), so sind keine hohen Anforderungen an den Amtsermittlungsgrundsatz zu stellen. Entsprechend „dünn“ kann dann die Prüfung des oder der Richter:in sein (vgl. Mülder, in: Bretthauer/Henrich u. A., Festschrift 60 Jahre Assistententagung, 2020, 507 (524 m. w. N.)). Auch der Amtsermittlungsgrundsatz verlangt keine Ermittlungen ins Blaue hinein. Schließlich kann gem. §§ 136 Abs. 2 und 3, 153 Abs. 2 SGG mit umfangreichen Verweisen auf die Prozessakte oder den Widerspruchsverwaltungsakt gearbeitet werden (vgl. z.B. LSG Hamburg, 6.11.2019, Az. L 2 U 28/19 m. Anm. Kainz, NZS 2021, 119).
Letzte Runde?
Der Bundesratsbeschluss vom Freitag war sicherlich noch nicht die letzte Runde in dieser Diskussion. Das Ergebnis sollte am Ende aber nicht sein, den Zugang zu Gericht durch Gerichtsgebühren in besonderen Fällen zu erschweren und dabei als „Kollateralschaden“ auch die Personen von Klagen abzuhalten, die ein berechtigtes Rechtsschutzinteresse haben.