Es gibt keinen Besitzstandsschutz im Wahlrecht
Prof. Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D., hat 2020 eine Arbeitsgruppe zur Parität im Wahlrecht eingerichtet. Die Arbeitsgruppe bringt ehemalige Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und Professorinnen zusammen und arbeitet auf, welche verfassungsrechtlichen Grundlagen für Gesetzgebung zur paritätischen Aufstellung von Frauen und Männern für Parlamentswahlen bestehen. Mitglieder der Gruppe sind: Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, Dr. Christine Hohmann-Dennhardt, Richterin des BVerfG a.D., Dr. Renate Jaeger, Richterin des BVerfG a.D., Richterin des EGMR a.D., Prof. Dr. Silke Laskowski, Jun.-Prof. Dr. Jelena v. Achenbach und Prof. Dr. Friederike Wapler.
Aktuell wird unter dem Stichwort „Parité“ über Klauseln im Wahlrecht debattiert, mit denen die Chancengleichheit für Frauen bei der Wahl zu den Parlamenten verbessert und auf eine gleichmäßige Verteilung politischer Mandate auf Frauen und Männer hingewirkt werden soll. In Brandenburg und Thüringen haben die Landesgesetzgeber Regelungen in ihre Wahlgesetze aufgenommen, mit denen die Parteien verpflichtet werden, auf ihren Kandidatenlisten Frauen und Männer jeweils im Wechsel zu nominieren („Reißverschlussprinzip“). Das Thüringer Gesetz wurde kürzlich von dem Thüringer Verfassungsgerichtshof für unvereinbar mit der dortigen Landesverfassung erklärt. Eine Entscheidung zu dem Gesetz in Brandenburg wird im Oktober erwartet.
Die Verfasserinnen dieser Stellungnahme melden sich in dieser Debatte zu Wort, um auf einen wichtigen Grundsatz hinzuweisen, der in einer demokratischen Ordnung so selbstverständlich wie notwendig sein sollte: den politischen Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers, der sich auch auf die Ausgestaltung des Wahlrechts erstreckt. Der Gesetzgeber darf durch Reformen im Wahlrecht auch angestammte Positionen von Abgeordneten und Parteien verkürzen und sogar aufheben. Es gibt keinen Schutz eines „Besitzstands“ im Wahlrecht – so sind etwa der Zuschnitt und die Anzahl der Direktwahlkreise ebenso änderbar wie die Prinzipien der Listenwahl (starre v. offene Listen). Der Gesetzgeber muss bei der Ausgestaltung des Wahlrechts grundlegende und folgenreiche Entscheidungen treffen. Das Verfassungsrecht rahmt diese Entscheidungen. Aber es bestimmt sie nicht im Einzelnen.
Es ist daher eine politische Entscheidung, geschlechterparitätische Regelungen im Wahlrecht vorzusehen und sie auszugestalten. Dies kann und muss in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten diskutiert werden. Verfassungsrechtlich sind solche Gesetze keinesfalls generell unzulässig. Im Gegenteil ist der verfassungsrechtliche Auftrag an den Staat, auf die tatsächliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen hinzuwirken, gewichtiger Grund für aktives gesetzgeberisches Handeln zur Überwindung geschlechtsspezifischer Ungleichheitsverhältnisse. Er kann Paritätsgesetze verfassungsrechtlich rechtfertigen.
1 Fakten
Im Deutschen Bundestag sind gegenwärtig 30,9 Prozent der Abgeordneten Frauen. Ihr Anteil ist im Vergleich zur vorangegangenen Legislaturperiode (36,5 Prozent) spürbar zurückgegangen und liegt deutlich unter dem Bevölkerungsanteil der Frauen von knapp 51 Prozent. In den Parlamenten der Bundesländer liegt der Frauenanteil zwischen 21,8 Prozent in Sachsen-Anhalt und 43,9 Prozent in Hamburg. Auf der kommunalen Ebene sind Frauen in der Tendenz noch weniger vertreten.
Empirisch gibt es keinen Beleg für die häufig vertretene These, Frauen interessierten sich einfach weniger für Politik und politisches Engagement. Wohl aber ist eine Reihe von Faktoren bekannt, die Frauen auf dem Weg zu einem politischen Mandat oder in ein politisches Amt andere Hürden in den Weg legen als Männern: Auf der praktischen Ebene haben Frauen öfter als Männer mit einem Anwesenheits- und Terminmanagement zu kämpfen, das mit familiären Verpflichtungen nur schwer zu vereinbaren ist. Hinzu kommen wirkmächtige Vorurteile gegen Frauen im Politikbetrieb, die sich in vielfältiger Weise vom einfachen „Weghören“ über das Absprechen sachlicher oder strategischer Kompetenz bis hin zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen manifestieren. Versuche, die gegenwärtige Mandatsverteilung auf Männer und Frauen mit dem Desinteresse der weiblichen Hälfte der Bevölkerung zu erklären, verschließen die Augen vor dieser Erfahrungswelt.
2 Demokratische Repräsentation
Geschlechterparitätische Regelungen im Wahlrecht verstoßen nicht zwangsläufig gegen das Demokratieprinzip. In der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes und der Verfassungen der Bundesländer sind die frei gewählten Abgeordnete „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Diese Formulierung des Grundgesetzes verweist auf das freie Mandat, das Abgeordnete nicht an den Willen derjenigen bindet, die sie aufgestellt und gewählt haben. Sie verbietet aber keineswegs, im Wahlrecht die reale Verschiedenheit der Lebenswelten, Interessen, Überzeugungen und Teilhabemöglichkeiten der Menschen zur Kenntnis zu nehmen. Im Gegenteil gehört es zum Grundgedanken parlamentarischer Repräsentation, das Volk nicht als eine Einheit mit gleichlaufenden Interessen zu denken, die theoretisch von jeder Person in gleicher Weise repräsentiert werden könnte. Die gesellschaftliche und politische Vielfalt und der Pluralismus, die die Grundrechte freisetzen und schützen, sind die Grundlage der demokratischen Willensbildung. Die Zusammensetzung der Parlamente gibt nicht einfach nur „parteipolitische Präferenzen“ wieder, wie es in der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs heißt. Die Parteien sind lediglich Mittler der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte und der widerstreitenden Belange, und sie verkörpern beides sowohl durch ihr Programm als auch durch ihr Personal.
Demokratische Repräsentation setzt Chancengleichheit voraus: Jeder Mensch soll die gleichen Chancen haben, seine Interessen in den politischen Prozess einzuspeisen. Dies gilt nicht nur für die Wahlentscheidung selbst, sondern auch für den Zugang zu einer Kandidatur. Wo diese Chancengleichheit nicht besteht, weil ihr tief verwurzelte Machtstrukturen, Vorurteile und Arbeitsroutinen entgegenstehen, ist es dem Gesetzgeber erlaubt, aktiv gegenzusteuern. Das Wahlrecht ist in diesem Prozess eines von vielen zulässigen Mitteln.
Die Paritätsgesetze, die derzeit diskutiert werden, zielen in diesem Sinne auf Chancengleichheit ab. Sie sollen gleiche und faire „Wettbewerbsbedingungen“ und einen offenen, unverzerrten Wettstreit aller relevanten Präferenzen und Perspektiven, Interessen und Belange in der parlamentarischen Mehrheitsbildung herstellen. Nicht aber führen sie dazu, dass Frauen (nur) Frauen wählen dürfen oder (nur) Frauen die Belange von Frauen als „Gruppe“ repräsentieren dürfen. Vorbehalte gegen geschlechterparitätische Wahlrechtsregelungen, die eine vermeintliche geschlechtsbezogene Gruppenrepräsentation oder gar die Rückkehr zu einem ständischen Wahlrecht beschwören, beruhen auf einer fundamentalen Verkennung des Zwecks, der Struktur und der Funktionsweise der Regelungen.
3 Wahlrechtsgrundsätze
Die Paritätsgesetze, die in Brandenburg und Thüringen geschaffen wurden, und auch andere verbindliche Regelungen, die politisch diskutiert werden, berühren den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG) und die Parteienfreiheit (Art. 21 Abs. 1 GG). Diese verfassungsrechtlichen Grundsätze sind aber keine absoluten Rechte, wie die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Der Gesetzgeber darf und muss diese Rechte mit weiteren verfassungsrechtlich legitimierten Zielen abwägen und in Einklang bringen. Er darf die Wahlrechtsgrundsätze und die Parteienautonomie dabei auch einschränken. Voraussetzung ist lediglich, dass er einen verfassungsrechtlich ebenbürtigen Zweck in verhältnismäßiger Weise verfolgt.
4. Auftrag zur Herstellung von Gleichberechtigung in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG rechtfertigt Beschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze
Ein solcher den Wahlrechtsgrundsätzen und den Rechten der Parteien verfassungsrechtlich ebenbürtiger Rechtfertigungsgrund ist im Hinblick auf das Ziel der Geschlechterparität im Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG zu finden, der einen verbindlichen Förderauftrag des Staates zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen und Männern formuliert.
Für die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes hat das BVerfG bereits entschieden, dass es sich um einen durch die Verfassung legitimierten, gewichtigen Grund handelt, der Eingriffe in den Wahlrechtsgrundsatz der Wahlgleichheit sowie in die Chancengleichheit der Parteien rechtfertigen kann (BVerfGE 95, 408 (418); 120 82 (106 f.); 131, 316 (335)). Der Gesetzgeber „hat auch zu berücksichtigen, dass er die Funktion der Wahl als Vorgang der Integration politischer Kräfte sicherstellen und zu verhindern suchen muss, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben“ (BVerfGE 131, 316 (335); vgl. BVerfGE 6, 84 (92); 51, 222 (236); 95, 408 (419)).
Ebenso wie die Integrationsfunktion der Wahl hat aber auch der in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG geregelte Auftrag an den Staat, auf die tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter hinzuwirken, Verfassungsrang und vermag daher Schmälerungen der Wahlrechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie der Parteienautonomie (Art. 21 GG) zu rechtfertigen. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG ist keine rein programmatische Erklärung, sondern enthält einen verbindlichen Auftrag zur Herstellung von Gleichberechtigung, der sich an den Staat richtet. Dieser Auftrag gilt für den Bereich des Staates ebenso für die Gesellschaft, also auch für die Parteien und das Parlament. Er wird weder durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG noch durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verdrängt, sondern ist diesen Normen gleichgeordnet (Zur Anwendbarkeit von speziellen Gleichheitsgrundsätzen im Wahlrecht BVerfGE 151, 1, juris Rn 50 ff). Der Auftrag ist auf die Herstellung tatsächlicher Gleichberechtigung gerichtet, zielt also nicht auf rein formale Gleichheit vor dem Gesetz, sondern auf die tatsächlichen Lebensbedingungen von Frauen und Männern ab. Damit betont das Grundgesetz den politischen Gestaltungsspielraum, aktive Maßnahmen zugunsten der tatsächlichen Gleichberechtigung zu ergreifen.
Für die Wahlgesetze der Bundesländer gilt hier im Ergebnis nichts anderes als für das Wahlrecht zum Bundestag. Art. 3 Abs. 2 GG ist auch für die Bundesländer verbindlich. Ein Verweis auf landesverfassungsrechtliche Besonderheiten, wie von der Mehrheitsmeinung in der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vertreten, kann die Verfassungswidrigkeit der landesrechtlichen Regelung schon deshalb nicht begründen.
5 Verhältnismäßigkeit
Geschlechterparitätische Regelungen können aus den genannten Gründen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, um für Männer und Frauen gleiche und faire Wettbewerbsbedingungen in der politischen Auseinandersetzung zu schaffen. Sie sind verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung dieses Ziels geeignet sind, wenn mildere Mittel nicht denselben Erfolg versprechen und wenn sie im Rahmen einer Abwägung aller betroffenen verfassungsrechtlichen Positionen angemessen erscheinen. Dies kann nur anhand der jeweiligen konkreten Regelung beurteilt werden. Die Verhältnismäßigkeit beurteilt sich dabei allein innerhalb des geltenden Wahlrechtssystems (BVerfGE 95, 335, juris Rn 55; 47, 253, juris Rn 65). Deswegen kann der Verweis auf die (ohnehin weniger effektive) Option von offenen Listen nicht greifen.
Zu beachten ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Dritten Geschlecht.
Für die Verhältnismäßigkeit und insgesamt für die Verfassungsmäßigkeit der derzeit diskutierten Regelungen sprechen darüber hinaus die folgenden Argumente:
(1) Die Pflicht zur Aufstellung gleich vieler Frauen und Männer auf den Kandidatenlisten der Parteien begründet nicht selbst eine Ungleichheit aufgrund des Geschlechts. Sie behandelt Männer und Frauen strikt und formal gleich. Auch wenn zwischen Männern und Frauen unterschieden wird, ist die Rechtsfolge für beide Geschlechter dieselbe. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch, auf allen Listenplätzen kandidieren zu können, besteht von vornherein nicht (Das Bundesverfassungsgericht hat allein für die Direktwahl einen Anspruch der passiv Wahlberechtigten auf Zugang zur Kandidatur anerkannt, BVerfGE 41, 399, 417. Von dieser unterscheidet sich die Listenwahl aber strukturell). Soweit sich in der Anwendung von Paritätsregelungen tatsächlich unterschiedliche Auswirkungen für Männer und Frauen ergeben, ist dies durch das verfassungsrechtliche Gleichberechtigungsgebot gerechtfertigt.
(2) Mit Blick auf die Chancengleichheit von Männern und Frauen beim Zugang zur Kandidatur kommt es auf den Anteil der Frauen an den Parteimitgliedern verfassungsrechtlich nicht an. Denn Parlamente vertreten das Volk – nicht die Parteien und ihre Mitglieder. Deswegen darf der Gesetzgeber die Parteien auch verpflichten, je zur Hälfte Männer und Frauen aufzustellen. Er bezieht damit die Chancengleichheit auf das Volk, auf die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger und nimmt dazu die Parteien in ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft in Anspruch.
(3) Die Regelungen, die bei der Aufstellung der Kandidaten ansetzen, betreffen das Vorfeld der Wahl, sie beschränken nicht die Freiheit der Wahl. Die Wählerinnen und Wähler sind stets darauf beschränkt, ihre Wahl zwischen den Kandidierenden zu treffen, die im Einklang mit den wahlgesetzlichen Regelungen aufgestellt worden sind.
6 Fazit
Die Gesetzgeber des Bundes und der Länder sind berechtigt, geschlechtsbezogene Wahlrechtsregelungen zu schaffen, die Chancengleichheit für Frauen bei Wahlen herstellen. Die Verfassungsmäßigkeit solcher Gesetze lässt sich nur anhand der konkreten Regelungen bestimmen. Sie sind ebenso wenig generell unzulässig wie andere gesetzliche Regelungen, die Wahlrechtsgrundsätze oder die Parteienautonomie einschränken.
Wie soll ein Paritätsgesetz Frauen dabei helfen “Anwesenheits- und Terminmanagement” mit “familiären Verpflichtungen” zu vereinbaren?
Die Vielzahl der Verfasser vermag die bekannte Schwäche der Argumente nicht aufzuwiegen.
Bei der “Ausgestaltung des Wahlrechts” hat der Gesetzgeber selbstverständlich erheblichen Spielraum, das Wahlverfahren (im Rahmen demokratischer Prinzipien) festzulegen. Eine Vorfestlegung der Zusammensetzung des Parlamentes, sei es auch anhand bestimmter Gruppen, gehört aber nicht dazu.
Genau weil die verschiedenen Einzelinteressen nicht unbedingt “von jeder Person in gleicher Weise repräsentiert werden” können, muss die Auswahl der Repräsentanten sich als Ergebnis der freien Entscheidung der Wahlberechtigten aus der Wahlhandlung ergeben.
Die Parteien wiederum dürfen ggf. “sowohl durch ihr Programm als auch durch ihr Personal” bestimmte Wählergruppen stärker ansprechen als andere. Auch mit der Absicht, Chancengleichheit zu fördern, darf den einzelnen Parteien von außen daher nicht vorgeschrieben werden, im Hinblick auf den “Zugang zu einer Kandidatur” Regeln zugunsten oder zulasten bestimmter Bevölkerungsgruppen zu folgen, sondern die Kandidatenaufstellung muss nur dem Prinzip der innerparteilichen Demokratie genügen.
Selbst wenn der “Förderauftrag des Staates zugunsten der Gleichberechtigung” oder die “Funktion der Wahl als Vorgang der Integration politischer Kräfte” Eingriffe in die Wahlgleichheit oder die Parteienfreiheit rechtfertigen, gilt das nicht für die Wahlfreiheit als Kern der Demokratie. Eine Vorfestlegung der Zusammensetzung des Parlamentes (durch das Parlament als einfachen Gesetzgeber) schränkt aber die Wahlfreiheit aller insofern ein.
Dem Gesetzgeber steht es natürlich frei, durch eine Abweichung von starren Listen den Wahlberechtigten mehr Einfluss auf die Wahl ihrer Repräsentanten zu geben. (Vielleicht wäre im Hinblick auf Direktmandate eine Verpflichtung der Parteien auf die Aufstellung männlicher und weiblicher Kandidaten in jedem Wahlkreis zu rechtfertigen. Zwischen allen Kandidaten müssen die Wahlberechtigten aber immer frei auswählen können.)
zu 1) “Sie behandelt Männer und Frauen strikt und formal gleich.”
In anderem Zusammenhang ist dieses Prinzip als “separate but equal” bekanntgeworden. Mit Chancengleichheit ist es in der Praxis natürlich ziemlich inkompatibel. (Das wird z.B. auch im Hinblick auf sanitäre Anlagen gelegentlich nicht zu ganz Unrecht von weiblicher Seite beklagt.)
Zu 2) habe ich mich weiter oben schon geäußert.
zu 3) Solange nur starre Listen existieren, muss die Listenaufstellung der Parteienfreiheit überlassen bleiben, damit als Mindestmaß eine Wahlfreiheit zwischen den Personalangeboten verschiedener Parteien existieren kann.
Eine tatsächliche Gleichberechtigung kann immer nur Chancengleichheit darstellen, keine Verpflichtung zur Gleichstellung aller Lebensbedingungen. (Ansonsten müsste der Staat auch in weitaus stärkerem Maße auf die Angleichung der Lebenserwartungen hinarbeiten …)
Die Verpflichtung zur Aufstellung bestimmter Kandidaten, um überhaupt kandidieren zu dürfen, ist grad der Kern der Problematik. Die Wähler haben ohnehin keine freie Auswahl, sondern nur das, was sie nach den jeweiligen Regeln vorgesetzt kriegen. Das war schon immer so. Mehrheitswahl funktioniert überhaupt bloß wegen dem Prinzip, und bei Landeslisten o.Ä. ist es auch nicht anders. Die Verpflichtung ist auch einfach blöd, weil man die Parteien leicht ohne Zwang dazu motivieren könnte. Beim Bundestag stellen ja auch fast alle so viele ausreichend lange Landeslisten wie möglich auf, und selbst bei den Wahlkreisen ist es nicht so viel anders, obwohl da der Vorteil praktisch null ist.
[…] „Aktuell wird unter dem Stichwort „Parité“ über Klauseln im Wahlrecht debattiert, mit denen die Chancengleichheit für Frauen bei der Wahl zu den Parlamenten verbessert und auf eine gleichmäßige Verteilung politischer Mandate auf Frauen und Männer hingewirkt werden soll. (…). Es ist daher eine politische Entscheidung, geschlechterparitätische Regelungen im Wahlrecht vorzusehen und sie auszugestalten. Dies kann und muss in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten diskutiert werden…“ Die Stellungnahme lesen Sie hier ↗verfassungsblog.de. […]
> Empirisch gibt es keinen Beleg für die häufig vertretene These, Frauen interessierten sich einfach weniger für Politik und politisches Engagement.
Diese Aussage ist stark verkürzt. Männer und Frauen interessieren sich nämlich für verschiedene Aspekte von Politik. Etwa in Bezug auf Außenpolitik gibt es sehr wohl empirische Evidenz, dass sich Frauen dafür weniger Interessieren als Männer. Anders sieht es bei lokalen Themen aus.
Hier etwa ein aktueller peer reviewed Artikel: https://academic.oup.com/sp/article/26/3/348/5224982
> When asked specifically about different political arenas, the gap between men and women (also known as the gender gap) disappeared. Women declared similar levels of interest in local politics to men, while a gap appeared when they were asked about arenas that might be considered more distant, namely, national and international politics.
Über die Gründe für die unterschiedlichen Interessenlagen kann man diskutieren. Man kann aber nicht abstreiten, dass sie existieren. Ein Zusammenhang mit der geschlechtsmäßigen Zusammensetzung des Bundestages liegt auf der Hand.
Bei der großen Anzahl von Autorinnen hätte es doch möglich sein müssen, sich etwas mehr Zeit für Recherche zu nehmen, bzw. diese wichtige Thematik besser darzustellen. Auf der anderen Seite ist die Qualität der Argumente insgesamt schwach, insofern passt das zusammen.
Sich schon auf diese Debatte einzulassen, zeugt von mangelndem Verständnis des Begriffs “politischen Interesses”. Die hinter der Kategorie “Außenpolitik” stehende Gesamtwertung einer an klassischen Ressorts orientierten Klassifizierung mag doch nicht mal im Ansatz zu verfangen. Es gibt keine langfristigen empirischen Zahlen hierzu. Nur um die Willkür aufzuzeigen: ein großer Teil der aktiven Antikriegsbewegung (=Außenpolitik) war von Frauen der Bundesrepublik dominiert. (vgl.
Die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung
Nyssen, Elke.Feministische Studien; Weinheim, Germany Bd. 3, Ausg. 2). Ich finde es schon mehr als mutig, dass in rechtstechnische Abwägungen solche herbeifabulierten Märchen einfließen. Ãœberdies: wer innerhalb dieser Debatte die Frau als schlichtes Gemüt des Haushalts und der Kinder ansieht, soll dies zu erkennen geben und sich nicht hinter verschleiernden Worthülsen verstecken – das würde ein faires Debattieren ermöglichen.
Zudem: immer wieder liest man davon, dass Anknüpfungspunkt der Feststellung einer faktischen Benachteiligung die Parteien selbst seien. Abgesehen von den Bedenken, die die Autorinnen abzeichneten, trifft dieses Argument selbst dann nicht zu, wenn Parteien tauglicher Anknüpfungspunkt der Benachteiligungsprüfung wären. Die Zahlen haben nämlich einen klaren Aussagewert. Sie zeigen mit aller Wucht auf, dass es das Paritätsgesetz benötigt. Es ist die rein tatsächlich von Männern für Männern gemachte Struktur der Parteien samt ihrer täglichen Binnenprozesse, die es faktisch unmöglich macht, innerhalb der vorgegebenen ökonomischen Stellung eine das persönliche Mandat anstrebende Parteipolitik zu betreiben. Dass dieser Gedankengang eventuell ein Herausschlüpfen aus einer männlichen Biografie erfordert, liegt auf der Hand und bedarf einer gewissen Eigenleistung. Dass die von Männern systemisch beherrschte Macht über Parteien nicht nur eine Folge des Desinteresses von Frauen darstellt, zeigt auch ein Studieren der Entstehungsgeschichte der PDS und der WASG. Obwohl die PDS fast ausschließlich geschlechterparitätisch im Bundestag und in den Landtagen vertreten war, bestand der entscheidende Führungszirkel der Partei zumindest bis zur Fusion fast ausschließlich aus Männern, was sich mittlerweile sternklar verändert hat. Dieser Befund beruht aber nicht auf parteipolitischer Inaktivität der Frauen in der Gründungsphase, was Aktionen, Initiativen und die Anzahl der frauenpolitischen Zusammenschlüsse zeigen, sondern viel mehr an einer existenten Vormacht der männlichen Parteimitglieder, die Frauen systematisch “klein” hielten. Waren zu Beginn zwei Männer aus Ost und West an der Spitze der Partei, sind es heute – wenn auch nur designiert – zwei Frauen aus Ost und West. Wenn nun aber selbst innerhalb der PDS, die “Frauenrechte” an allen prominenten Stellen ihrer Politik stationierte, solche gewaltvollen Disparitäten vorherrschten, fällt die Aussage “Frauen interessieren sich nicht für Politik und sind konsequenterweise selbst schuld” immer schwerer.