24 November 2020

EU-Finanzsanktionen für Rechtsstaatsverstöße

Keine unmittelbaren Folgen für Deutschland zu erwarten

Seit Jahren fordern Politiker und Wissenschaftler einen Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit bei der Verwendung von EU-Mitteln. Ein Handeln der EU ist dringend, da sich die Lage der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere in Polen und Ungarn weiter verschlechtert und die laufenden Verfahren nach Art. 7 EUV keine Wirkung zeigen. Ein Sanktionsmechanismus sollte deshalb notfalls auch gegen den Widerstand der beiden Länder mit Mehrheitsbeschluss verabschiedet werden.

In Deutschland wird ein solcher Sanktionsmechanismus nicht zur Anwendung kommen. Befürchtungen wegen möglicher Rückwirkungen des im Mai gefällten PSPP-Urteils des Bundesverfassungsgerichts auf die finanziellen Interessen der EU, die zu Sanktionen führen könnten, sind unbegründet. Eine Voraussetzung für die Anwendung des neuen Sanktionsmechanismus wäre eine systematische Verletzung des Rechtsstaatsprinzips – welche das PSPP-Urteil nicht darstellt und auch sonst in Deutschland nicht ersichtlich ist.

Schutz der Rechtsstaatlichkeit als Ziel – Schutz des Unionshaushalts als Mittel

Während die EU-Kommission schon 2018 einen Entwurf vorgelegt und das Parlament 2019 einen Entschluss verabschiedet hatten, zeigte die Mehrheit der Mitgliedstaaten erst im Juli 2020 im Rahmen der Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen und den Wiederaufbaufonds wirklich Interesse an einem finanziellen Sanktionsmechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Nach der grundsätzlichen Einigung der Staats- und Regierungschefs im Juli nahm der Rat einen Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft im September 2020 mit Mehrheit an. Darauf aufbauend einigten sich Parlament und Rat im November 2020 auf einen neuen Kompromissvorschlag.

Obwohl die endgültige Verabschiedung des Sanktionsmechanismus noch aussteht, verrät ein Blick in den Kompromissvorschlag und die europäischen Verträge, dass ein solcher Mechanismus die Rechtsstaatlichkeit nur mittelbar schützen kann. Ein auf der Grundlage von Art. 322 Abs. 1 lit. a) AEUV erlassener Sanktionsmechanismus ist nämlich Teil des europäischen Haushaltsrechts und kann daher unmittelbar allein dem Schutz der finanziellen Interessen der EU dienen. Allgemeine Vorgaben zur Rechtsstaatlichkeit ohne Bezug zur Umsetzung oder Kontrolle der Umsetzung des EU-Haushalts können auf dieser Grundlage daher nicht gefasst werden.

In Art. 2 lit. a) des Kompromissvorschlags wird Rechtstaatlichkeit mit Verweis auf Art. 2 EUV zwar allgemein definiert und werden in Art. 2a allgemein definierte Regelbeispiele für Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit, etwa die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz, festgelegt. Allerdings – und hier liegt die entscheidende Verknüpfung zum Haushaltsrecht – können Sanktionen nur dann ergriffen werden, wenn Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit zugleich die wirtschaftliche Haushaltsführung des EU-Haushalts oder den Schutz der finanziellen Interessen der EU „in ausreichend direkter Weise“ beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen (Art. 3 Abs. 1). Dies ist nach den Regelbeispielen in Art. 3 Abs. 2 etwa gegeben, wenn Funktionsfähigkeit und Kontrolle der mit der Umsetzung des EU-Haushalts betrauten mitgliedstaatlichen Behörden beeinträchtigt ist. Auch die effektive justizielle Kontrolle fällt ausdrücklich hierunter. Diese Klarstellung des notwendigen Bezugs zum EU-Haushalt sichert den Vorschlag unionsverfassungsrechtlich ab.

Auch trotz dieser Fokussierung auf den Schutz des EU-Haushalts kann der Sanktionsmechanismus eine gewisse Breitenwirkung entfalten: Mit der Umsetzung des EU-Haushalts und ihrer Kontrolle sind in der Praxis nämlich sehr viele mitgliedstaatlichen Behörden in irgendeiner Weise betraut. Sie alle unterlägen dann bei Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem EU-Haushalt den neuen Vorgaben aus dem Sanktionsmechanismus. Zwar forderten einige Mitgliedstaaten und das EU-Parlament einen noch weitergehenden Sanktionsmechanismus; schon der Widerstand aus Ungarn und Polen gegen den vorliegenden Kompromiss zeigt aber, dass auch dieser Kompromissvorschlag etwas erreichen könnte.

Obwohl der neue Mechanismus verhindern könnte, dass ein Mitgliedstaat von den Hilfen der EU zu wirtschaftlichen Erholung profitiert, der sich bei ihrer administrativen Umsetzung rechtsstaatswidriger Institutionen bedient, ist der Entwurf vor allem mit Blick auf Verfahren und Kontrolle noch verbesserungswürdig: Frühere Überlegungen zur Schaffung einer Kopenhagen-Kommission zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten haben Rat und Parlament nicht aufgegriffen. Die Überwachung im Rahmen dieses Sanktionsmechanismus soll allein der Kommission obliegen, wobei diese sich aber wiederum auf Berichte anderer Agenturen und Organisationen stützen soll (Art. 5 Abs. 2 des Kompromissvorschlags). Diese Kontrollaufgabe der Kommission ist mit Blick auf ihre Stellung im Institutionengefüge sowie ihre entsprechenden Aufgaben in anderen Sanktionsmechanismen konsequent. Darüber hinaus sollte aber auch die aufgrund der Gründung der Europäischen Staatsanwaltschaft ohnehin anstehende Reform von OLAF für diesen Sanktionsmechanismus genutzt werden: OLAF sollte sich – in Abgrenzung zur Europäischen Staatsanwaltschaft – in Zukunft stärker auf strukturelle Risiken für den Unionshaushalt durch mangelnde Verwaltungseffizienz und Rechtsstaatlichkeit konzentrieren und hierfür in einer Europäischen Agentur für Verwaltungseffizienz und Rechtsstaatlichkeit aufgehen.

Ein Knackpunkt in den Verhandlungen war das Verfahren: Kommission und Parlament plädierten für das Verfahren der umgekehrten qualifizierten Mehrheit. Danach würde ein Sanktionsbeschluss der Kommission nach gewissem Zeitablauf automatisch gelten, es sei denn Rat (und Parlament) lehnten diesen Beschluss mit (qualifizierter) Mehrheit ab. Dieses etwa aus dem Defizitverfahren bekannte Verfahren begegnet jedoch mit Blick auf den Wortlaut des Art. 16 Abs. 3 EUV und das institutionelle Gleichgewicht Bedenken. Deshalb ist es rechtssicherer, dass Art. 5 Abs. 7 des Kompromissvorschlags nun einen positiven Sanktionsbeschluss des Rats mit qualifizierter Mehrheit erfordert. Das Parlament soll hingegen, obwohl es zusammen mit dem Rat Haushaltsgesetzgeber ist, nur Informationsrechte haben (Art. 7).

In dem Sanktionsbeschluss sind „Maßnahmen zum Schutz des EU-Haushalts“ möglich (Art. 4). Diese finanziellen Sanktionen, etwa Aussetzungen von Zahlungen, können sich auf in direkter oder indirekter und mit den Mitgliedstaaten in geteilter Mittelverwaltung durchgeführte Programme beziehen. Ziel der Maßnahmen sollen allerdings allein die Mitgliedstaaten und nicht die Endempfänger sein: Denn nur sie tragen die Verantwortung für die Verstöße gegen die rechtsstaatlichen Grundsätze. Deshalb sind die Mitgliedstaaten auch trotz solchen finanziellen Sanktionen der EU zur Auszahlung an die Endempfänger verpflichtet (Art. 4 Abs. 2). Zwar soll die Kommission dies unter anderem durch entsprechende Informationen sicherstellen; es wird sich aber noch zeigen müssen, ob dies in der Praxis auch so einfach möglich sein wird.

Die Bedeutung des neuen Mechanismus für Deutschland

Der Sanktionsmechanismus kann für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen zur Anwendung kommen, in denen der Rechtsstaat in Gefahr ist. Die Mär, dass die Visegrád-Staaten so für ihre Migrationspolitik abgestraft werden sollen, entbehrt jeder Grundlage. Unter den für Deutschland als problematisch diskutierten Situationen ist gegenwärtig keine, die zur Anwendung des Mechanismus führen wird: Der EuGH hat seine Kritik am Weisungsrecht der Justizministerien gegenüber den Staatsanwaltschaften gerade nicht in die Rechtsprechungslinie zur Rechtsstaatskontrolle über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV gestellt, sondern subsumiert unter den Unabhängigkeitsbegriff des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl. Aus dem fruchtlosen Streit zur Selbstverwaltung in der deutschen Justiz hat sich der EuGH herausgehalten und eine Vorlage, die die Unabhängigkeit der Gerichte in Deutschland hinterfragt hat, mit überzeugenden Argumenten zurückgewiesen; eine weitere Vorlage wird sich mit einfachen prozessualen Möglichkeiten erledigen lassen (s. Art. 99 VerfOEuGH). Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland systematisch gefährdet sei, wie dies die im Entwurfsstadium befindliche Verordnung für Sanktionen erfordert.

Irritierend ist daher ein Tweet des CDU-Bundestagsabgeordneten und Hamburger Wirtschaftsrechtlers Heribert Hirte (nominell stellvertretender Vorsitzender, faktisch nach Abwahl des AfD-Vorgängers wegen unsäglicher Entgleisungen aber Vorsitzender des Rechtsausschusses). Hirte erwägt dort die Möglichkeit von Sanktionen gegen Deutschland nach der neuen Verordnung wegen möglicher Rückwirkungen des im Mai gefällten PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf die finanziellen Interessen der EU. Zwar stieß das Urteil, das ein Urteil des EuGH als ultra vires zurückwies, auf Zuspruch bei der polnischen Regierung. Diese Argumentation verkennt aber den Unterschied zwischen den systematischen Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips, wie ihn die neue Verordnung finanziell sanktionieren soll, und der PSPP-Konstellation. Die ultra vires-Kontrolle des BVerfG ist bekanntermaßen von prozessualen (Vorlage nach Art. 267 AEUV) und materiellen (besonders schwere und offenkundiger Rechtsanwendungsfehler bei gleichzeitiger Fehlertoleranz) Voraussetzungen abhängig und versteht sich nicht als generelles Ausscheren aus dem Vorrang des Europarechts. Sie zielt gerade auf eine stärkere gerichtliche Kontrolle der Exekutive – der EZB durch den EuGH und der deutschen Staatsorgane durch das BVerfG, nicht auf eine Schwächung dieser Kontrolle.

Hirtes Konzentration auf das zweite Element der Voraussetzungen für den neuen Sanktionsmechanismus, die möglichen Rückwirkungen auf die finanziellen Interessen der EU, fehlt die Prüfung des ersten, nämlich des Bestehens strukturell-systematischer Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip.

Notfalls mit Mehrheitsbeschluss für die Sanktionsverordnung

Der derzeit in Rat und Parlament zur Abstimmung stehende Vorschlag ist, trotz einiger Schwächen, eine gute Grundlage, um die Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten mittelbar über die finanziellen Interessen der EU stärker zu schützen. Dieser neue Sanktionsmechanismus kann aber nur ein Baustein zum umfassenden Schutz der Rechtsstaatlichkeit sein: Neben diesem und anderen repressiven Mitteln sollte die EU auch präventive Mittel, etwa entsprechende zivilgesellschaftliche und Bildungsprogramme stärker unterstützen.

Polen und Ungarn lehnen den Sanktionsmechanismus vehement ab, so sprach Polens Justizminister etwa von „institutionalisierter Sklaverei“. Dieses Getöse – von Argumentation kann man hier kaum sprechen – ist ebenso entlarvend wie die Blockadehaltung bezogen auf den Mehrjährigen Finanzrahmen und den Wiederaufbaufonds. Zu Recht bestehen die übrigen Mitgliedstaaten ihrerseits und insbesondere das EU-Parlament auf der Einführung eines solchen Sanktionsmechanismus.

Der Sanktionsmechanismus könnte auch gegen Polen und Ungarn (oder gar alle Visegrád-Staaten) durchgesetzt werden. Als Finanzvorschrift auf der Grundlage von Art. 322 Abs. 1 lit. a) AEUV kann er mit qualifiziertem Mehrheitsbeschluss im Rat und Mehrheitsbeschluss im Parlament erlassen werden. Natürlich ist es ein gravierendes politisches Problem, wenn die Regierungen zweier Mitgliedstaaten ein allseits politisch gewolltes Projekt wie das Finanzpaket inklusive Wiederaufbaufonds aufhalten (ob dieses insgesamt unionsrechtskonform ist, soll ebensowenig Gegenstand dieses Blogbeitrags sein wie die Argumente gegen eine Verstärkte Zusammenarbeit). Angesichts der Tatsache, dass beide Staaten auf Mittelzuflüsse der EU angewiesen sind, dürfte der Widerstand aber kein dauerhafter bleiben. Vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für die EU insgesamt und des Schutzes des EU-Haushalts sollte daher ein Mehrheitsbeschluss der Sanktionsverordnung durchaus in Betracht gezogen werden.


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