27 April 2021

Infektionsschutzmaßnahmen in der Schnittmenge von Verwaltungsanordnung und Gesetzesbefehl

Die Austauschbarkeit der Handlungsformen im Rahmen der Corona-Bekämpfung

Mit dem am vergangenen Wochenende in Kraft getretenen, landläufig als „Bundesnotbremse“ bezeichneten § 28b IfSG wurden eine Reihe von Maßnahmen im Infektionsschutzgesetz verankert, die ipso iure bei Erreichen einer regionalen Sieben-Tage-Inzidenz von 100 bzw. 165 gelten. Diese umfassen u.a. Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Betriebsschließungen. Während die Pandemiebekämpfung bisher auf von Landkreisen (anfangs auch von Landesministerien) angeordneten Allgemeinverfügungen und auf von Landesregierungen erlassenen Rechtsverordnungen beruhte, ordnet der Bundesgesetzgeber nunmehr selbst durch Parlamentsgesetz konkrete Corona-Bekämpfungsmaßnahmen an. Hiergegen gibt es ein verbreitetes Unbehagen. So wird die Neuregelung teilweise als Übergriff des Bundesgesetzgebers in Verwaltungsbefugnisse interpretiert, die beim Infektionsschutz bei den Ländern liegen (Art. 83 GG). Kingreen konstatiert eine Verschiebung der horizontalen Gewaltenbalance zwischen Legislative und Exekutive und stellt einen „fragwürdigen Formenmissbrauch“ fest, „wenn ihrer Natur nach exekutive Maßnahmen der Gefahrenabwehr als Maßnahmegesetz erlassen werden“.

Austauschbarkeit der Handlungsformen

Dem rechtswissenschaftlichen Beobachter bietet sich bei infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen mittlerweile das Bild einer völligen Austauschbarkeit der Handlungsformen Verwaltungsakt (Allgemeinverfügung), Rechtsverordnung und Parlamentsgesetz. Anordnungen, die als (konkret-generelle) Einzelfallregelungen beurteilt werden, wenn sie in einer Allgemeinverfügung stehen, finden sich inhaltlich identisch in Rechtsverordnungen und nunmehr auch im IfSG.

Bei Verwaltungsakten ist der Einzelfallcharakter einer Regelung konstitutive Voraussetzung (vgl. § 35 Satz 1 VwVfG). Mit Blick auf die zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten ergriffenen Maßnahmen bietet zunächst die Bezugnahme auf eine Sache einen in der Praxis anerkannten Anknüpfungspunkt für einen Einzelfall. § 35 Satz 2 Var. 3 VwVfG zieht Regelungen, die die Benutzung einer Sache durch die Allgemeinheit betreffen, in die Handlungsform des Verwaltungsakts. So lassen sich die Schließung von Einrichtungen, Besuchsverbote in Krankenhäusern oder die Pflicht zum Tragen einer Schutzmaske in Geschäften als derartige Benutzungsregelungen verstehen, da diese Ge- und Verbote sich auf die Nutzung eines der Allgemeinheit zugänglichen Grundstücks oder einer derartigen Einrichtung beziehen. Dass es dabei nicht um die Benutzung „einer“ Sache geht, wie von § 35 Satz 2 Var. 3 VwVfG eigentlich verlangt, sondern viele Sachen von der Regelung erfasst werden, wird kurzerhand dadurch überwunden, dass hier angeblich nicht eine Allgemeinverfügung vorliegt, sondern ein Bündel von (tausendfachen) Allgemeinverfügungen. Bei den in § 35 Satz 2 Var. 1 VwVfG genannten personenbezogenen Allgemeinverfügungen wird ein Einzelfallbezug dadurch hergestellt, dass ein einzelnes reales Vorkommnis, die Corona-Pandemie, den Anlass zur Regelungssetzung gibt; es ginge doch um die Beseitigung einer konkreten, zeitlich begrenzten Gefahr.

Diese Praxis (vgl. BVerwGE 12, 87; BVerwGE 163, 308 Rn. 19; VGH München, NJW 2020, 1240 Rn. 7; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG § 35 Rn. 315) der verwaltungsrechtlichen Einsortierung vieler Allgemeinverfügungen als Einzelfallregelungen ist fragwürdig. Vieles muss man hier wohl eher als (ggf. einfachgesetzlich zugebilligte) Einzelfallfiktionen ansehen, wenn Allgemeinverfügungen „gebündelt“ werden oder eine unbestimmte Vielzahl von Personen und Sachverhalten betreffende Regelungen einzig über den Anlass (konkrete Seuchengefahr) zu konkret-generellen Einzelfallregelungen mutieren (vgl. Kluckert, in: ders., Das neue Infektionsschutzrecht, 2. Aufl. 2021, § 2 Rn. 191 ff.).

§ 28b IfSG als unzulässiges Maßnahmegesetz?

Überträgt man jedoch die Argumentationsmuster, deren sich Gerichte bedienen, um Allgemeinverfügungen einen Einzelfallcharakter zu verpassen, kann man sich in der Tat fragen, ob § 28b IfSG ein unzulässiges „Maßnahmegesetz“ darstellt. Der Begriff des Maßnahmegesetzes ist allerdings keiner, der unmittelbar mit verfassungsrechtlichen Folgen verbunden ist, sondern ein rechtswissenschaftlicher Systematisierungsbegriff, dem Gesetze untergeordnet werden, die einen mehr oder weniger starken Einzelfallbezug aufweisen. Sobald man das Maßnahmegesetz mit einer aus einzelnen Verfassungsaussagen (insb. Gewaltenteilung) abgeleiteten Rechtsfolge verbinden will (z.B. unzulässiger Übergriff in den Kompetenzbereich des Exekutive), hebt der Begriff die Frage auf die verfassungsrechtliche Ebene, wo im Grenzbereich zwischen konkret-individueller und abstrakt-genereller Regelung eigentlich der der Gesetzgebung entzogene Einzelfall beginnt. Die auf verwaltungsrechtlicher Ebene gefundene Konkretisierung gemäß § 35 Satz 2 VwVfG, welche den Einzelfall zu Gunsten der Handlungsform Verwaltungsakt ausdehnt, ist allerdings nicht dafür maßgeblich, wo auf verfassungsrechtlicher Ebene die Handlungsform des Gesetzes endet.

Übernähme man die oben beschriebene verwaltungsrechtliche Betrachtungsweise auch bei § 28b IfSG (Bündel von Einzelfallregelungen, Pandemie als singulärer Regelungsanlass) so ist darauf nicht der Einwand des Formenmissbrauchs abzuleiten. Nach dem formellen Gesetzesbegriff des Grundgesetzes brauchen Parlamentsgesetze und Rechtsverordnungen keine abstrakt-generellen Regelungen (Rechtsnormen) zu enthalten. (Parlaments-)Gesetz ist jede vom Parlament als Gesetz beschlossene und als Gesetz verkündete Willensäußerung. Im Übrigen müsste der Einwand des Formenmissbrauchs dann auch Folgen für die Corona-Verordnungen der Landesregierungen haben. Ihre Kompetenzgrundlage finden diese Verordnungen nicht in der Verwaltungskompetenz der Länder, sondern in der delegierten (Art. 80 Abs. 1 GG) Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Grundsätzlich muss daher das, was in einer Rechtsverordnung des Delegierten (Landesregierung) stehen kann, auch einer Regelung durch den Deleganten (Bundestag) zugänglich sein.

Der Schutz des Bürgers und der Exekutive vor Einzelfallgesetzgebung erfolgt aber über Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG, der beschränkt auf Grundrechtseingriffe das Verbot des Einzelfallgesetzes enthält. Diese grundrechtliche Schranken-Schranke will verhindern, dass der Gesetzgeber sich aus der Allgemeinheit einzelne Personen herausgreift. Dem Gesetzgeber ist daher nur der Erlass konkret-individueller belastender Regelungen untersagt. Auf verfassungsrechtlicher Ebene verhält es sich daher beim Gesetz umgekehrt zur verwaltungsrechtlichen Zuordnung von Mischfällen zum Verwaltungsakt. Der über einen singulären Regelungsanlass begründete Einzelfall, der bei Verwaltungsakten zur Qualifizierung als konkret-generelle Regelung führt, aktiviert die Schranken-Schranke des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG nicht. Da § 28b IfSG keine geradezu namentlich feststehenden Einzeladressaten in den Blick nimmt, sondern allgemeine Verhaltensmaßgaben für die pandemische Lage aufstellt, führt die Vorschrift keinen Einzelfall im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG einer gesetzlichen Regelung zu.

Der Gewaltenteilungsgrundsatz verlangt demgegenüber nicht mehr. Dort, wo die grundrechtliche Schranken-Schranke insbesondere mangels Grundrechtseingriffs oder wegen einer Ausnahme vom Verbot des Einzelfallgesetzes (vgl. Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG zur Legalenteignung) nicht greift, kann selbständig relevant werden, ob der Einzelfallcharakter eines Gesetzes die horizontale Gewaltenteilung unterspült. So lag der Fall bei der für zulässig erachteten Legalplanung einer Eisenbahnstrecke mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung (BVerfGE 95, 1 ff.) und bei der als unzulässig verworfenen Verleihung des Körperschaftsstatus für eine Religionsgemeinschaft durch Gesetz (BVerfGE 139, 321 ff.). Da der Grundsatz der Gewaltenteilung nur vor einem Übergriff in den Kernbereich einer anderen Gewalt schützt, decken sich die aus ihm abgeleiteten Anforderungen weitgehend mit den Wertungen des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG, der eng interpretiert wird und im Wesentlichen nur Einzelpersonenregelungen („herausgreifen“) dem Gesetzgeber entzieht. Dass im Übrigen Maßnahmen des Infektionsschutzes nicht mit der für einen gesetzgeberischen Übergriff erforderlichen Eindeutigkeit allein der zweiten Gewalt (Exekutive) zugeordnet werden können, lässt sich dem Gesetzgebungskompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG entnehmen, in dem als einzigem sogar ausdrücklich das Wort „Maßnahmen“ erscheint.

Dies bestätigt im Übrigen die Diskussion um den Parlamentsvorbehalt. Die Rechtswissenschaft war sich in den vergangenen Monaten ziemlich einig, dass die Generalklausel (§ 28 Abs. 1 IfSG) angesichts der Bedeutung vieler Lockdown-Maßnahmen für die Grundrechtsverwirklichung keine dem Parlamentsvorbehalt genügende Grundlage darstellt. Dieser Einwand konnte durch § 28a IfSG nicht ausgeräumt werden (vgl. Kluckert, DVBl. 2021, 94, 101 f.). Zwar hätte das im Bundesrecht bestehende Defizit parlamentarischer Anleitung über Art. 80 Abs. 4 GG auch durch die Landtage kompensiert werden können (vgl. Kluckert, in: ders., Das neue Infektionsschutzrecht, 2. Aufl. 2021, § 2 Rn. 111a ff.). Naturgemäß hat dies aber zuvörderst durch den Adressaten der Gesetzgebungskompetenz, den Bundesgesetzgeber, zu erfolgen (vgl. aber zu möglichen grundrechtlichen Schranken im Fazit).

Schließlich ist es auch mit Blick auf die vertikale Gewaltenteilung im Bundesstaat ein normaler Vorgang, dass bei Auseinanderfallen von Gesetzgebungskompetenz (Bund) und Verwaltungskompetenz (Länder) ein „self-executing“ ausgestaltetes Bundesgesetz den Gesetzesvollzug der Länder (Art. 83 GG) auf eine bloße Normbefolgungskontrolle und -durchsetzung reduziert. In der Erhöhung der sachlich-inhaltlichen demokratischen Legitimation durch den Bundesgesetzgeber im Wege der Erhöhung der parlamentarischen Regelungsdichte liegt kein unzulässiger Übergriff in Verwaltungskompetenzen der Länder.

Reduzierung des Rechtsschutzes auf eine Verfassungsbeschwerde

Zudem wird in den unmittelbar für den Bürger verbindlichen Verhaltensmaßgaben des § 28b IfSG eine unzulässige Verkürzung des effektiven Rechtsschutzes erblickt. Prima facie finden sich dafür Judikate. So wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vertreten, eine Administrativenteignung sei der Legalenteignung vorzuziehen, weil sie den effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) schmälere, indem sie den betroffenen Grundstückseigentümern den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz entziehe (BVerfGE 95, 1, 22). In seinem Beschluss zur Legalverleihung des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften formuliert das Gericht: „Durch die Wahl des Gesetzes statt einer Verwaltungsentscheidung als Handlungsform für die Regelung eines Einzelfalls wird die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle erheblich eingeschränkt. Gegenüber Eingriffen, die unmittelbar durch den Erlass eines Gesetzes oder sein Unterlassen bewirkt werden, ist die Verfassungsbeschwerde der einzige mögliche Rechtsbehelf, während gegen Maßnahmen oder die Untätigkeit der Verwaltung sonst der jeweilige fachgerichtliche Rechtsweg eröffnet ist. Von der Verfassungsgerichtsbarkeit kann jedoch eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle mit Blick auf (Einzelpersonen-)Gesetze schon deshalb nicht gewährleistet werden, weil deren Prüfungsmaßstab auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt ist“ (BVerfGE 139, 321 Rn. 130). Es darf jedoch Folgendes nicht übersehen oder überlesen werden: Den Vorrang von Administrativentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der gesetzgeberischen Regelung von Einzelfällen postuliert, womit also auch hier wiederum der (enge) verfassungsrechtlich relevante Einzelfall, der nicht mit § 35 Satz 2 VwVfG identisch ist, den Dreh- und Angelpunkt bildet. Dieser kraft Verfassungsrechts (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG und Gewaltenteilungsgrundsatz) vorrangig der Exekutive zur Regelung überantwortete Einzelfall bleibt jedoch auf Einzelpersonenregelungen beschränkt.

Verallgemeinern lässt sich dieser Vorrang keinesfalls. Die Verallgemeinerung mündete nämlich in der Forderung, dass der Gesetzgeber die von ihm gewünschten Regeln des Zusammenlebens nur über die Verwaltung gegenüber dem Bürger verbindlich machen kann. Ein rechtsschutzbedingter allgemeiner Vorrang der Administrativentscheidung wäre das Ende jeder parlamentsgesetzlichen Norm, die „self-executing“ ist. Ebenso wären auch parlamentsgesetzliche Normen kaum noch zu rechtfertigen, die zwar noch eines behördlichen Vollzugsakts bedürfen, aber der Verwaltung bei der Rechtsanwendung weder einen Beurteilungsspielraum noch Ermessen einräumen. Zwar wäre hier noch der Rechtsweg zu Fachgerichten eröffnet; das Gesetz könnten die Fachgerichte aber selbst nicht zu Fall bringen, sondern sie müssten es dem Bundesverfassungsgericht vorlegen (Art. 100 Abs. 1 GG). Die Möglichkeit und Notwendigkeit (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG), die Fachgerichte anzurufen, dient bei derartigen Normen weniger dem effektiven Rechtsschutz des Bürgers, sondern eher dem Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor einer Beschwerdeflut. Jedenfalls ist dem Gesetzgeber die Kompetenz, die beiden vorstehend genannten Normkategorien (self-executing sowie vollzugsbedürftige Normen ohne Handlungsspielraum) zu erlassen, verfassungsrechtlich verbürgt. Die Gesetzgebung wäre funktionsgestört, wenn sie den Bürger nicht mehr unmittelbar erreichen könnte. Zudem verlangen einzelne Verfassungsprinzipien (insbesondere das Demokratieprinzip und die aus ihm und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Wesentlichkeitslehre) sogar vom Gesetzgeber, die Entscheidung über grundlegende Fragen selbst zu treffen und sie keinem anderen Normgeber zu überlassen.

Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen § 28b IfSG?

Im Übrigen können Parlamentsgesetze auch vor Verwaltungsgerichten angegriffen werden. Die allgemeine Feststellungsklage (§ 43 VwGO) öffnet hierfür eine Tür. Sie übernimmt bei Parlamentsgesetzen ebenso eine Rechtsschutzfunktion wie bei Corona-Verordnungen in denjenigen Bundesländern, wo der Weg über das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren (§ 47 VwGO) versperrt ist. Streitgegenstand ist hier dann aber nicht (abstrakt) die Gültigkeit der Norm, sondern (konkret) z.B. die Berechtigung des Klägers, nach 22 Uhr noch das Haus zu verlassen. Diese Berechtigung stellt ein feststellungsfähiges Verwaltungsrechtsverhältnis dar. Bei Self-executing-Normen kann fraglich sein, ob sich das Rechtsverhältnis zwischen Bürger und Behörde bereits hinreichend konkretisiert hat bzw. streitig ist. Eine eindeutige Konkretisierung dürfte im Falle des § 28b IfSG schnell durch Äußerungen von Amtswaltern (Androhungen von Bußgeld) und behördliche Überwachungsmaßnahmen vor Ort erfolgen.

Probleme ergeben sich daraus, dass das Fachgericht – anders als bei Verordnungen – nicht selbst den inzident zu prüfenden § 28b IfSG verwerfen darf. Um schnellen Rechtsschutz zu erlangen, müsste daher Art. 100 Abs. 1 GG über Art. 19 Abs. 4 GG im einstweiligen Rechtsschutz relativiert werden. Eine solche Relativierung ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt (vgl. BVerfGE 86, 382, 389; BVerfG [K], NVwZ 2006, 79, 80; Beschl. v. 15.12.2011 – 2 BvR 2362/11, Rn. 4 f.). Dies gilt allerdings – soweit ersichtlich – noch nicht, wenn eine vorläufige Regelung die endgültige Entscheidung vorwegnimmt (vgl. BVerfGE 86, 382, 389), was bei § 28b IfSG zu besorgen wäre, da die Vorschrift bis zum 30.6.2021 befristet ist und bis dahin voraussichtlich keine Hauptsacheentscheidung ergehen wird. In Vorwegnahmefällen soll eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ausnahmsweise bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zulässig und geboten sein, und zwar selbst dann, wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache des konkreten Normenkontrollverfahrens zu spät käme (vgl. BVerfGE 63, 131, 140 ff.). Zwar könnte im konkreten Normenkontrollverfahren eine einstweilige Anordnung (§ 32 BVerfGG) des Bundesverfassungsgerichts ergehen, allerdings nur von Amts wegen und nicht auf Antrag des Beteiligten im fachgerichtlichen Verfahren (vgl. Sieckmann/Kessal-Wulf, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 100 Rn. 9). Jedoch könnte eine Vorwegnahme der Hauptsache im verwaltungsgerichtlichen Feststellungsverfahren durch eine intelligente Tenorierung verhindert werden (z.B. „Der Antragsteller ist einstweilen berechtigt, zwischen 22 und 5 Uhr die folgenden Orte aufzusuchen: …“). Damit wäre vom Verwaltungsgericht noch nicht über die Aussetzung der gesamten Ausgangssperre entschieden, sondern nur ein Minus einstweilen geregelt.

Fazit

Verfassungsrechtlich liegt mit § 28b IfSG kein unzulässiger Übergriff des Bundesgesetzgebers in reservierte Exekutiv- oder Länderkompetenzen vor. Der zweifelhafte Ansatz, den für eine Allgemeinverfügung erforderlichen Einzelfall auszudehnen (vgl. auch Lehner, Verfassungsblog v. 27.3.2020), führt nicht dazu, dass es sich bei der „Bundesnotbremse“ um ein Einzelfallgesetz im verfassungsrechtlichen Sinne handelt.

Höchst fraglich ist dagegen, ob die mit § 28b IfSG verbundenen Grundrechtseingriffe einer (in diesem Beitrag ausgeklammerten) Überprüfung standhalten: Schwere Grundrechtseingriffe ohne messbaren Nutzeffekt, wie namentlich die Ausgangssperre, lassen sich kaum rechtfertigen (vgl. dazu auch das Gutachten von Mangold). Hinzu kommt, dass der Erlass bundeseinheitlicher Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgebots nicht immer möglich ist (vgl. Kluckert, in: ders., Das neue Infektionsschutzrecht, 2. Aufl. 2021, § 2 Rn. 111b f.). So kommt es beim Infektionsschutz auf passgenaue, situations- und ortsbezogene Reaktionen an. Ob dem das wenig komplexe Tatbestandsmerkmal der 100er-Inzidenz gerecht wird, erscheint zweifelhaft. Auch der Wesentlichkeitsvorbehalt kann nicht vom Bundesgesetzgeber etwas verlangen, woran ihn Verhältnismäßigkeitsgebot und allgemeiner Gleichheitssatz hindern. Problematisch ist mit Blick auf die Schranken des Grundrechts der Freiheit der Person, inwiefern speziell Eingriffe in dieses Grundrecht durch ein Gesetz (und nicht aufgrund eines Gesetzes) erfolgen dürfen (vgl. dazu Wißgott, Verfassungsblog v. 24.4.2021).


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