05 May 2018

Libanon im Wahlfieber

„Das Volk ist die Quelle von Macht und Souveränität“, heißt es in der Präambel der libanesischen Verfassung. Ein Satz, der in diesen Zeiten bei so manchem Libanesen lediglich ein müdes Lächeln auslösen dürfte. Gleich zweimal hat sich das Parlament die Amtszeit selbst verlängert; ursprünglich hätte diese im Jahr 2013 enden sollen. „Die Sicherheitslage sei zu prekär, um Wahlen abhalten zu können“ – so die offizielle Begründung in den Jahren 2013 und 2014. Erst als der libanesische Verfassungsrat und Präsident Michel Aoun den Druck erhöhten, bewegten sich die Abgeordneten. Letzterer hatte angekündigt, eher ein politisches Vakuum in Kauf zu nehmen, als eine erneute Verlängerung der parlamentarischen Amtszeit zu akzeptieren.  Prompt wurde ein neues Wahlgesetz verabschiedet und Wahlen für den 6. Mai diesen Jahres angesetzt.

Katastrophale Wirtschaftslage, Korruption und eine marode Infrastruktur

Die hiesige Krise ist nur ein weiteres Symptom eines kränkelnden Staates. Vor dem Bürgerkrieg 1975 zählte der Libanon zu den wichtigsten Finanzzentren des Nahen Ostens. Über die „Schweiz des Orients“ wickelten die Golfmonarchien ihre Ölgeschäfte ab, aber auch das Kapital aus wirtschaftsschwächeren Staaten wie Syrien und Ägypten wurde von der Bankenmetropole Beirut angelockt. Das Land war nicht zuletzt aufgrund seiner traditionell liberalen Wirtschaftsordnung und Lage eine Drehscheibe für Handel und Dienstleistungen.

Zu alter Stärke hat der Libanon bis heute nicht zurückgefunden. Die Schuldensituation ist  „kritisch bis sehr kritisch“, eine Verbesserung ist nicht in Sicht. Der Wiederaufbau nach dem Ende des Bürgerkrieges 1990 kostete viel Geld. Die Wasser- und Stromversorgung ist schlecht. Wegen des Konflikts im Nachbarland Syrien leidet der Tourismus, das Land ächzt unter der Flüchtlingslast. 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge hat der Libanon aufgenommen; diese machen damit mittlerweile ein Viertel der Bevölkerung aus.  Zu diesen Problemen gesellen sich Korruption und Vetternwirtschaft. Besonders deutlich zeigte sich dies in der immer noch ungelösten Müllkrise. Die Abfallentsorgung ist privatisiert, lag seit 1994 fest in der Hand des Entsorgungsunternehmens Sukleen. Unter der Leitung von Maysarah Sukkar, einem Freund der Familie von Ministerpräsident Hariri, errichtete die Firma ein Monopol im Abfallsektor und heimste Unsummen an Gewinnen ein. Stolze 170 Millionen Dollar (ca. 150 Dollar pro Tonne Müll) erhielt Sukleen jährlich – und damit das Dreifache dessen, was im internationalen Vergleich üblicherweise für die Müllentsorgung anfällt. Entsorgt wurde der Müll jedoch nicht, vielmehr einfach nur abgeladen.  Als die größte Mülldeponie des Landes schließlich nach Protesten der Anwohner wegen Überfüllung geschlossen werden musste, wurde der Abfall mangels Alternative gar nicht mehr abtransportiert. Der Vertrag mit Sukleen wurde nicht verlängert, auf einen Ersatz konnte man sich nicht einigen. Denn sechs Firmen mit ebenso guten Beziehungen zu der politischen Elite im Staat forderten eine weitaus höhere Gebühr. Beirut versank im Müllchaos.

Der Geburtsfehler des Libanons

Mag man der Müllkrise etwas Positives abgewinnen, so ist es die Reaktion der libanesischen Bevölkerung. Konfessionsübergreifend und vereint ging diese auf die Straße, um gegen die Zustände im Land zu protestieren. Für den Libanon ist dies etwas Besonderes, denn das Volk ist entlang konfessioneller Linien tief gespalten. Religion ist das Hauptidentifikationsmerkmal der Menschen, 18 Religionsgruppen sind offiziell anerkannt. Oft ist von einer Mosaikgesellschaft die Rede, eben weil sich der Libanon aus einer Vielzahl von religiösen Subgemeinschaften zusammensetzt und der Gedanke nationaler Einheit sich bisher nur schwerlich durchgesetzt hat.

Ein Problem, welches dem Land von der ehemaligen Mandatsmacht Frankreich förmlich in die Wiege gelegt wurde. Nach dem Prinzip divide et impera trennte man den Libanon 1920 von Syrien. Intendiert war die Schaffung eines christlichen Mehrheitsstaates, der auf Dauer die Interessen Frankreichs in der Region sichern sollte.  Problematisch war, dass man das ehemals autonome Gebiet „Mont-Liban“, welches christlich-maronitisch dominiert war, als zu klein erachtete. Daher schloss man die umliegenden Gebiete und hiermit die dort lebenden drusischen, sunnitischen und schiitischen Bevölkerungsgruppen an. Der so geschaffene „Grand-Liban“ hatte dadurch nur noch eine geringe christliche Mehrheit.  Hinzu kam, dass Drusen, Sunniten und Schiiten, aber auch Christen anderen Konfessionen, eine Trennung von Syrien ablehnten. Der Libanon war somit von Beginn an ein künstlicher Staat, in dem die Menschen nicht nur über keinerlei gemeinsame religiöse und nationale Identität verfügten, sondern auch politisch unterschiedlich orientiert waren: zum einen in Richtung Westen, zum anderen in Richtung Syrien und der anderen arabischen Nachbarn. Als der Libanon 1943 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, sollte ein Kompromiss zwischen den Führern der maronitischen und sunnitischen Gemeinschaft dieses Problem lösen. Man akzeptierte, dass der Libanon ein unabhängiger Staat ist, bestätigte jedoch gleichzeitig sowohl dessen arabischen Charakter als auch die besondere Beziehung zum Westen, wenn man auch explizit auf Protektion durch diesen verzichtete. Des weiteren errichtete man ein konfessionelles Proporzsystem. Öffentliche Ämter wurden auf die Religionsgruppen aufgeteilt, der Staatspräsident musste fortan maronitischer Christ, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit sein. Diese als „Nationalpakt“ bekannte informelle Übereinkunft bildet bis heute die Grundlage des politischen Systems.

Geheilt wurde der „Geburtsfehler“ des Libanons hierdurch nicht. Bereits im Jahre 1958 zeigte sich die Fragilität des Nationalpakts in aller Deutlichkeit. Muslime und Drusen drängten auf den Anschluss an die panarabische Bewegung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nassers, während die Maroniten an der Unabhängigkeit des Landes und der Kooperation mit dem Westen festhalten wollten. Es kam zu monatelangen Kämpfen, Libanons pro-westlich ausgerichteter Präsident Camille Chamoun bat die USA um Hilfe, Eisenhower intervenierte. In der Folge trat der während des Konflikts neutral gebliebenen Armeechef Fouad Chehab  Chamouns Nachfolge an, wodurch die Krise entschärft werden konnte – vorübergehend.

Der lange Schatten des Bürgerkriegs

Mit der Ankunft der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) flammten die Spannungen im Libanon wieder auf. Seit dem Ende der 1960er Jahre errichtete die Gruppierung dort eine Operationsbasis im Kampf gegen Israel und etablierte einen „Staat im Staate“, ohne das libanesische Autoritäten dem etwas entgegensetzen konnten. Das politische Gleichgewicht wurde hierdurch erneut ins Wanken gebracht. Die maronitischen Christen nahmen die palästinensische Präsenz als existenzielle Bedrohung war, während Muslime und Drusen die palästinensische Sache unterstützten. Beide Seiten begannen sich zu bewaffnen; nach einer Reihe wechselseitiger Übergriffe, ausgeübt von maronitischen Milizen und PLO-Aktivisten, eskalierte die Situation schließlich im Jahre 1975. Der Libanon versank im Bürgerkrieg. Gekennzeichnet von einer extremen ausländischen Einmischung – die Einmärsche Syriens und Israels verdeutlichen dies beispielhaft – und stetigen Front- und Allianzwechseln entwickelte sich der Konflikt sehr bald zum Kampf jedes gegen jeden, der erst 15 Jahre und schätzungsweise 150.000 Tote später durch das Abkommen von Taif beendet werden konnte.

Der Bürgerkrieg hat sich in das kollektive Gedächtnis der Libanesen eingebrannt und ohnehin schon bestehende Gräben in der Gesellschaft vertieft. Eine Aufklärung der Geschehnisse hat nicht stattgefunden. Ein Prozess der Aussöhnung und Entschuldigung wurde nicht in Gang gesetzt; Betroffene wurden nicht gebührend entschädigt. Jede Religionsgemeinschaft hat ihre eigene Wahrheit. Das vom libanesischen Parlament im Jahre 1991 erlassene Amnestiegesetz gewährte eine flächendeckende Straffreiheit für vor dem 28. März 1991 begangenen Verbrechen. Ehemalige Kriegsherren wurden für ihre Taten nicht bestraft, sondern besetzen heute wichtige Positionen in Politik und Verwaltung. Man hüllt sich in Schweigen bezüglich des Schicksals der immer noch zahlreich Vermissten; und auch nachhaltige politische Reformen zur Stabilisierung des Landes sind ausgeblieben. Der Libanon ist ein Beispiel dafür, dass Tabuisierung und Verdrängung nicht nur der falsche Umgang mit der eigenen Vergangenheit sind, sondern das die Auswirkungen dessen fatal sein können.

Zwischen Riad und Teheran

Auch heute ist der Libanon aufgrund seiner Fragmentierung und geographischen Lage nicht frei von ausländischen Einflüssen. Für den Iran ist der Libanon aufgrund der intendierten Schaffung eines schiitischen Halbmonds – ein durchgängiger Landkorridor vom Persischen Golf bis zum Mittelmeer – von fundamentaler Bedeutung. Für die sunnitisch-konservativen Golfmonarchien ist genau dies eine Schreckensvision, die es zu verhindern gilt. Die Politik im Libanon blieb hiervon nicht unberührt. Das Hegemonialstreben der Regionalmächte hat zu einer Blockbildung geführt, welche die Parteienlandschaft des Landes kennzeichnet: Auf der einen Seite steht die proiranische und prosyrische Allianz des 8. Märzes, auf der anderen die prosaudische und prowestliche Allianz des 14. Märzes. Erstere wird von der libanesischen Hisbollah, letztere von Saad Hariris Zukunftsbewegung dominiert. Im syrischen Bürgerkrieg unterstützen beide Lager unterschiedliche Parteien. Die Hisbollah kämpft an der Seite des syrischen Regimes, Hariris Zukunftsbewegung unterstützt die syrische Opposition.

Zugleich verstrickten sich beide Seiten auch im Inland in eine Reihe handfester politischer Auseinandersetzungen. So blockierten sich die Koalitionen im Parlament lange Zeit bei der Wahl des Staatspräsidenten; mehr als zwei Jahre war der Libanon in der Konsequenz ohne funktionsfähige Regierung. Erst im Jahre 2016 einigte man sich: Michael Aoun, der Präsidentschaftskandidat der 8. März Allianz, wurde zum Staatsoberhaupt gewählt, Saad Hariri zum Ministerpräsidenten ernannt. Ein politischer Deal par excellence, der jedoch bereits ein knappes Jahr später wieder zu zerbrechen drohte. Live aus Riad erklärte Hariri über das saudische Staatsfernsehen seinen Rücktritt – mutmaßlich erzwungen vom saudischen Königshaus, welches den Regierungschef eines souveränen Landes allen Anschein nach unter Hausarrest stellte. Grund hierfür war wahrscheinlich, dass Libanons Ministerpräsident der Hisbollah zu wenig entgegensetzte. Hariri tolerierte beispielsweise den Kampf der Organisation gegen dschihadistische Gruppierungen an der Grenze des Landes gemeinsam mit der libanesischen Armee. Zwar gelang vor allem dank französischer Diplomatie dessen Rückkehr in den Libanon, wo er seinen Rücktritt gleich widerrief. Dies alles verdeutlicht jedoch eines – der Libanon hat ein Souveränitätsproblem.

Das neue Wahlgesetz – mehr Schein als Sein

Losgelöst von diesem politischen und historischen Kontext lassen sich die Wahlen am 6. Mai nicht betrachten. Es ist wichtig sich zu vergegenwärtigen, wie fragil die Lage in dem kleinen Land ist, welche Folgen Machtverschiebungen haben können und wie wichtig die Machtverhältnisse dort auch für die regionalen Akteure sind.

Nicht zuletzt deswegen ist das neue Wahlgesetz offenbar so ausgestaltet worden, dass es grundlegende Veränderungen aller Wahrscheinlichkeit nicht geben wird. In der Vergangenheit wurden die Wahlen auf Basis des vor dem Bürgerkrieg geltenden Wahlrechts von 1960 abgehalten, welches durch das Doha-Abkommen 2008 reformiert wurde. 128 Parlamentssitze wurden je zur Hälfte auf Christen und Muslime aufgeteilt. Für jeden Wahlkreis legte man fest, welche Anzahl an Sitzen auf die jeweilige Konfession entfallen. Gewählt wurde dann für Wahllisten, welche die Parteien im Vorfeld der Wahl bildeten und die nach dem System der konfessionellen Parität des jeweiligen Wahlbezirks ausgestaltet werden mussten. Kandidaten verschiedener Konfessionen waren somit verpflichtet gemeinsame Listen zu bilden, um antreten zu dürfen. Basierend auf dem Mehrheitswahlsystem gewann die Wahlliste und somit das Wahlbündnis, welches die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte. Zahlreiche Stimmen gingen so verloren, viele beklagten ein Repräsentationsdefizit.

Durch das neue Wahlgesetz wird dieses konfessionelle System nicht durchbrochen und auch das Wahlverfahren wird im Wesentlichen beibehalten. Eine bedeutende Änderung bildet allerdings die Ablösung des Mehrheitswahlsystems durch das Verhältniswahlsystem. Dies ermöglicht auf den ersten Blick eine bessere Repräsentation, da die Sitze nun anteilig, je nach Anzahl der Wählerstimmen, auf die Wahllisten entfallen. Zwei Aspekte nehmen dem Ganzen jedoch gleich wieder den Wind aus den Segeln: Zum einen wird eine Prozenthürde eingeführt, die je nach Größe des Wahlkreises variiert, jedoch zumindest zehn Prozent der abgegebenen Stimmen beträgt. Zum anderen wird es fortan auch eine Präferenzwahl geben. Mit der Zweitstimme kann man künftig einen präferierten Kandidaten auf der Liste wählen, für welche man sich zuvor mit seiner Erststimme entschieden hat. Hiermit wird festgelegt, welche Listenkandidaten die Sitze im Parlament erhalten. Die Gefahr, die hiermit einhergeht, liegt auf der Hand: Die Wahllisten werden mit schwachen Kandidaten bespickt und um einen großen Namen herum aufgebaut. Unbekannte Gesichter und kleinere Parteien werden es nach alledem schwer haben, einen Sitz im Parlament zu ergattern. Als revolutionär lässt sich das neue Wahlgesetz daher wohl nicht bezeichnen – eher wird die Vormachtstellung der politischen Elite aufrechterhalten.

Der Weg in eine bessere Zukunft

Eine bessere Zukunft hat der Libanon nur dann, wenn die innere Zerrissenheit überwunden wird. Hierzu bedarf es einer Abkehr vom Konfessionalismus. Denn dieser spaltet die Menschen und macht das Land umso anfälliger für externe Einflüsse. Nationale Einheit kann nur dann geschaffen werden, wenn die Religionszugehörigkeit im politischen Leben an Relevanz verliert und man damit beginnt sich primär als das zu sehen, was man auch ist: Libanese.  Die Aussöhnung der Gesellschaft ist hierfür zwingende Voraussetzung. Der Bürgerkrieg darf kein Tabuthema mehr sein, sondern muss aufgearbeitet werden. Mit der gegenwärtigen politischen Generation wird dieser lange und harte Weg schwerlich zu beschreiten sein. Sie profitiert vom aktuellen System und wird dies auch künftig, wenn sie nicht von neuen politischen Akteuren abgelöst wird, welche unterstützt von der Bevölkerung bereit sind, etwas zu verändern, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen.


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