20 September 2021

Machtlos an der Regierung

Die Grünen und die Migrations- und Menschenrechtspolitik in Österreich

Für die parlamentarische Entwicklung der österreichischen Grünen waren zwei Kernthemen ausschlaggebend: Klimaschutz und Menschenrechte für alle. Seit sie in einer Koalition mit der neuen ÖVP von Sebastian Kurz mitregieren, vermissen politische Beobachter*innen und Teile der grünen Basis das Engagement für eine menschenrechtskonforme Fluchtpolitik. Die mit-regierenden Grünen haben ihre einst profilierte Menschenrechtspolitik aufgegeben – wenn auch aus Koalitionsräson. Office over policy: das Ziel, in der Regierung zu bleiben, drängt die materiellen Politikziele in den Hintergrund.

Die ÖVP agiert, kommuniziert und entscheidet. Die Grünen reagieren höchstens und beteuern im Hintergrund das Schlimmste zu verhindern. Sie bleiben Zuschauer bei der Normalisierung einer Migrationspolitik, die ihre Bindung an Menschenrechte flexibel interpretiert. So lehnen die ÖVP-Regierungsmitglieder strikt jegliche Aufnahme von Geflüchteten aus den griechischen Inseln ab; so führt der ÖVP-Innenminister menschenrechtlich bedenkliche Abschiebungen von Kindern durch, ist bereits, die Genfer Flüchtlingskonvention zum umgehen und spricht noch von Abschiebungen nach Afghanistan, als die Taliban bereits die Macht übernommen haben und andere Länder ihre Staatsbürger*innen und Ortskräfte evakuieren. Schließlich sitzen die Grünen auf der Zuschauertribüne, wenn der ÖVP-Kanzler die Nähe mit den Visegrád-Staaten pflegt, die sich gegen die Aufnahme von Geflüchteten aussprechen, und gleichzeitig auf der EU-Ebene aus der gemeinsamen, menschenrechtskonformen Asylpolitik ausschert.

Diese Macht- und Einflusslosigkeit der Grünen hat aber nicht nur realpolitische Gründe, sondern auch institutionelle bzw. rechtliche. Sie ist das Ergebnis des faktischen Verfassungsumbaus, der in der Ära Kurz in Österreich stattgefunden hat.

Zum Kontext

Die neue, von Sebastian Kurz umgebaute ÖVP beendete 2017 vorzeitig die Große Koalition mit der SPÖ und bildete eine Regierung mit der rechtspopulistischen FPÖ. Das Ibiza-Video führte im Mai 2018 zum Kollaps der ÖVP-FPÖ Regierung. Nach den abermals vorgezogenen Wahlen 2019 verhandelte die ÖVP eine Regierung mit den Grünen, trotz tiefer inhaltlicher und ideologischer Unterschiede, die 2017 bei der vorgezogenen Nationalratswahl an der Vierprozenthürde gescheitert und aus dem Parlament geflogen waren.

Die Ursache dafür, dass die Grünen in der laufenden Regierungsarbeit derart an die Wand gespielt werden, liegt bereits in der Regierungsbildung: zum einen im inhaltlich detailreich ausverhandelten Regierungsprogramm, das das Migrationskapitel mit der Überschrift „einen konsequenten Kurs im Bereich von Migration und Integration“ zusammenfasst (gemeint ist der ÖVP-FPÖ-Kurs); zum anderen in der Ressortaufteilung – die ÖVP leitet alle für Migration und Menschenrechte relevanten Ressorts.

Bevor wir diese Aspekte ausführen, werfen wir einen Blick auf die rechtlichen Grundlagen der Regierungsführung.

Faktische Richtlinienkompetenz

In Österreich besitzt die Bundeskanzler*in, anders als in Deutschland, keine Richtlinienkompetenz. Der Kanzler ist in der Regierung Primus inter Pares, Erster unter Gleichen. Es gilt das Prinzip der Ressortverantwortlichkeit über die Themen- und Personalhoheit, und gleichzeitig agiert aber die Regierung als Kollegialorgan. Aus letzterem wurde seit 1945 ein (nicht verfassungsrechtlich verankertes) Konsensgebot abgeleitet: Gesetzesvorlagen der Regierung werden einstimmig im Ministerrat verabschiedet und in den Nationalrat eingebracht. Der Ressortverantwortlichkeit der einzelnen Ministerin steht das Prinzip der Einstimmigkeit bei Gesetzesvorlagen gegenüber. Diese beiden Prinzipien stellten sicher, dass Koalitionsregierungen in prinzipiellen/gesetzlichen Angelegenheiten Übereinstimmung suchen müssen, ansonsten eine gesetzliche Maßnahme nicht zustande kommt.

Mit der Koalitionsregierung zwischen der türkisen ÖVP und FPÖ (12/2017 bis 5/2019) und dann mit der ÖVP-Grünen Koalitionsregierung ab 2019 geht eine grundlegende Neuordnung der Organisation der Geschäfte der Regierung ebenso wie eine Bündelung der Ministeriumskompetenzen einher. Dies ist Teil des „Projekts“ von Sebastian Kurz. Die Tendenz geht in Richtung Richtlinienkompetenz für den Bundeskanzler, jedoch ohne dafür die verfassungsrechtliche Grundlage herzustellen. Die Stärkung der Stellung des Bundeskanzlers basiert auf zwei Aspekten: erstens der Anhäufung von Agenden im Bundeskanzleramt in einem nie da gewesenen Ausmaß, und zweitens auf dem Ausbau der zentralisierten Informationsaufgaben. Dies erfolgte auf einer einfachgesetzlichen Grundlage, dem Bundesministeriumsgesetz, das die organisatorische Einteilung und die materielle Aufgabenverteilung in der Regierung regelt.

Gestärkte Informationsrechte

Die Koordinationskompetenzen und Informationsrechte des Bundeskanzlers sind – im Vergleich zu den Regierungen der Großen Koalition – deutlich gewachsen. Eine Abweichung von der langjährigen Realverfassung stellt die Bestimmung im Bundesministeriumsgesetz 2018 und 2020 über den Ausbau der Informationstätigkeit der Regierungsgeschäfte gegenüber der Öffentlichkeit im Bundeskanzleramt dar.

„Dazu gehören insbesondere auch: Angelegenheiten der Information der Regierung; Information der Öffentlichkeit über die Arbeit der Regierung. Angelegenheiten des Sprechers der Bundesregierung mit der Aufgabe, die Bürgerinnen und Bürger sowie die Medien über die Arbeit der Bundesregierung durch Darlegung und Erläuterung ihrer Tätigkeit, Vorhaben und Ziele zu informieren. Dazu gehören insbesondere auch die Durchführung von Pressekonferenzen, Interviews und Hintergrundgespräche zu politischen Themen, die Herausgabe von gemeinsamen Pressemitteilungen, die Erteilung von Auskünften auf Medienanfragen und Koordination der Pressesprecher der Bundesministerien sowie die Steuerung und Koordination der Aufgabenstellungen des Bundespressedienstes.“

Durch die Zentralisierung der Informationstätigkeit im Bundeskanzleramt gewinnt diese „Message Control“ hinaus: Das Bundeskanzleramt kontrolliert, wie die Regierung mit der Öffentlichkeit kommuniziert. Dazu kommt, für österreichische Verhältnisse, ein massiver Ausbau der Werbebudgets und der Anzahl der Mitarbeiter*innen im Medien- und Kommunikationsbereich des Bundeskanzleramts. Dieser Stab an Kommunikationsleuten arbeitet für die ÖVP. Die Grünen partizipieren daran kaum.

Politik wird innerhalb der Koalitionsregierung nicht in verhandlungsdemokratischer Willensbildung und Akkordierung in grundlegenden Angelegenheiten zwischen den beiden Parteien gestaltet. Nach außen gilt die Abarbeitung der Agenden des Regierungsprogrammes – also der bereits außer Diskussion gestellten Gesetze (z.B. Zentralisierung der Asylbetreuung in einem Bundesbetreuungsgesetz; Einrichtung einer Dokumentationsstelle für politischen Islam ebenso wie ein Kopftuchverbot für Schülerinnen bis 14 Jahre). Nach innen gilt das Prinzip der gegenseitigen Nicht-Einmischung. Ein Prinzip, das der ÖVP, die alle migrationsrelevanten Ministerien leitet, ermöglicht, alleine die Linie vorzugeben.

Regierungsprogramm und Ressortaufteilung

Das Regierungsprogramm 2020 – 2024 ebenso wie die Ressortverteilung spiegeln die Machtungleichheit auf der Grundlage des Wahlergebnisses wider. Das ist wenig überraschend. Überraschend ist aber, dass in der Folge die Grünen selbst ein Narrativ der numerischen Machtasymmetrie entwickelten, um so die Ausgrenzung aus der Migrationspolitik gegenüber ihren Wähler*innen zu rechtfertigen.

Das Regierungsprogramm ist abstrakt und konkret gleichermaßen formuliert und gilt der ÖVP als eine Art Bibel. Alle im Laufe der Regierungsarbeit aufgetretenen strittigen Punkte im Migrations- und Menschenrechtsbereich sind im Regierungsprogramm in gewisser Weise gedeckt. Darüber hinaus haben die beiden Parteien für den Fall einer Migrationskrise einen koalitionsfreien Raum vereinbart. Die ÖVP hat sich das Recht gesichert, im Falle akuten Handlungsbedarfes sich für gesetzliche Maßnahmen andere parlamentarische Mehrheiten, d.h. konkret eine Mehrheit mit der FPÖ, zu suchen.

In der ÖVP-FPÖ Regierung  waren acht Ministerien von der ÖVP und sechs – darunter alle migrationsrelevanten Ministerien wie Innen- und Außenministerium, Integrationsagenden, Verteidigungs- und Sozialministerium; einzige Ausnahme war das Bildungsministerium – von der FPÖ.

Die quantitative und qualitative Allokation in der ÖVP-Grünen-Regierung ist ganz anders.  Elf ÖVP Minister*innen stehen vier Grünen gegenüber. Die ÖVP besitzt das Bundeskanzleramt mit der Koordination der EU-Angelegenheiten, das Innen-, das Außen-, das Verteidigungsministerium (relevant wegen Assistenzeinsatz des Bundesheeres im Grenzraum), das Bildungs-, Wirtschafts- und Arbeitsministerium. Mit anderen Worten: die gesamte Migrations- und Menschenrechtsagenda liegt in Ressorts der ÖVP. Es sind die ÖVP-geführten Ministerien, die Verordnungen z.B. für die Aufnahme von Geflüchteten oder für die Rückkehrpolitik erlassen und für die Implementierung zuständig sind. Es sind die ÖVP-geführten Ministerien, die auf der EU-Ebene die Migrations- und Fluchtpolitik mitverhandeln bzw. den restriktiven Kurs der osteuropäischen Länder verfolgen.

„Konsequenter Kurs“ der ÖVP

Die Kanzlerpartei ÖVP orientiert sich seit dem Kollaps der FPÖ konsequent an den Stimmungen und Themen des rechtspopulistischen bzw. rechtsradikalen Lagers. Die ÖVP kopiert die ehemalige FPÖ, sie normalisiert deren Inhalte und Stile. Sie orientiert sich am früheren Slogan der CSU, wonach es rechts von ihr keinen Platz für eine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe – nur dass die FPÖ stimmenmäßig bereits wieder bei 20 Prozent liegt. Das Land driftet so immer weiter nach rechts, ohne dass die mitregierenden Grünen diese Entwicklungen stoppten bzw. sich an der Bildung einer liberalen, menschenrechtskonformen öffentlichen Meinung beteiligten würden.

Konsequenzen für die Grünen

Die inhaltlichen Konsequenzen für die Grünen sind massiv: Von zwei sie profilierenden Kernthemen – Migration und Ökologisierung – verlieren sie eines. Die Grünen müssen auf eines ihrer Hauptthemen aber nicht nur verzichten, sondern sie werden zur Mehrheitsbeschafferin für das Gegenteil dessen, wofür sie vormals gestanden sind. So befinden sich wegen der Regierungsbeteiligung auf einem monothematischen Pfad und werden in die Rolle einer Single-Issue-Partei gedrängt.

Diese Situation, in der die Grünen in Österreich sich befinden, sagt einiges über die politische Landschaft und die Themenlage in Österreich aus – eine Landschaft, die seit den 1990er Jahren vom Rechtspopulismus inhaltlich wie stilistisch gezeichnet ist. Dies unterscheidet Deutschland von Österreich. Folglich eignen sich die österreichischen Grünen für die deutschen Grünen weder als Regierungsvorbild noch als Gespenst. Allerdings zeigt das österreichische Beispiel, wie nachhaltig asymmetrisches Machtbewusstsein und -ressourcen die konkrete Regierungsarbeit dominieren können.


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