16 July 2018

Muss der österreichische Bundespräsident CETA ratifizieren?

„Sie werden sich wundern, was alles gehen wird.“ Dieses – oftmals falsch widergegebene – Zitat aus der „Elefantenrunde“ im österreichischen Präsidentschaftswahlkampf 2016, das sogleich zum geflügelten Wort wurde, stammt nicht vom amtierenden Bundespräsidenten und ehemaligen Grünen-Politiker Alexander Van der Bellen, sondern seinem damaligen FPÖ-Gegenkandidaten Norbert Hofer. Umso überraschender erscheint es, dass nun Van der Bellen unter Beifall sowohl der FPÖ als auch der Sozialdemokraten und der derzeit nicht im Parlament vertretenen Grünen seine verfassungsmäßige Kompetenz aktiver wahrnimmt als seine bisherigen Amtsvorgänger: Er weigert sich vorerst, das parlamentarisch bereits genehmigte Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) zu ratifizieren. Als Begründung nennt er die ausstehende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hinsichtlich Unionskonformität der darin vorgesehenen „Schiedsgerichte“.

Die Vorgehensweise wird dabei insbesondere auf ein internes Gutachten des ehemaligen Präsidenten des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, gestützt. Rechtfertigend wendet der Bundespräsident auch ein, dass vor dem Hintergrund deutscher und niederländischer Staatenpraxis, die ebenso auf die Erwartung der Entscheidung des EuGH abzielt, das Inkrafttreten durch Österreich letztlich nicht verzögert werde.

Adamovich, der bereits den Vorgänger Van der Bellens im Amt, Heinz Fischer, in verfassungsrechtlichen Fragen beriet, kommt in seinem auf vier Seiten kurz gehaltenen Gutachten zum Schluss, „dass keine verfassungsrechtlichen Einwände gegen die Absicht des Bundespräsidenten bestehen, die Ratifikation von CETA bis zum Vorliegen des vom Königreich Belgien beantragten Gutachtens des Gerichtshofs der Europäischen Union aufzuschieben“. Auch der mittlerweile emeritierte Professor für Verfassungsrecht Theo Öhlinger, hält in einer ersten Stellungnahme das Vorgehen ausnahmsweise für berechtigt, zumal „infrage steht, ob dieser Vertrag überhaupt so gültig zustande kommen kann“.

Diese Frage stellt sich allerdings nicht nach der geltenden Rechtslage; derzeit stünden einer Ratifikation weder aus verfassungsrechtlicher, unionsrechtlicher noch völkerrechtlicher Sicht Hindernisse entgegen. Am 13. Oktober 2017 richtete Belgien entsprechend Artikel 218 Abs 11 AEUV folgenden Antrag auf Erstellung eines Gutachtens an den EuGH:

Ist das am 30. Oktober 2016 in Brüssel unterzeichnete umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits in seinem Kapitel Acht („Investitionen“) Abschnitt F („Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Investoren und Staaten“) mit den Verträgen – einschließlich der Grundrechte – vereinbar?

Mit Artikel 218 Abs 11 AEUV ist den Mitgliedstaaten ein Instrument in die Hand gegeben, durch das sie Gutachten des Gerichtshofs über die Vereinbarkeit einer geplanten Übereinkunft mit den Unionsverträgen einholen können. Käme der EuGH zum Schluss, dass diese nicht vereinbar sind, „kann die geplante Übereinkunft nur in Kraft treten, wenn sie oder die Verträge geändert werden“.

Daraus allerdings abzuleiten, die Ratifikation im Sinne von Artikel 65 Abs 1 B-VG (oder, je nach Interpretation, die Beurkundung eines Bundesgesetzes durch den Bundespräsidenten gemäß Artikel 47 Abs 1 B-VG, siehe sogleich) in Erwartung des Ausgangs aufzuschieben, ist fragwürdig. Auch dass im Falle eines „negativen“ Gutachtens „alle entsprechenden Ratifizierungsschritte der Mitgliedstaaten nichtig sind und das Abkommen neu verhandelt werden muss“, mag zwar aus unionsrechtlicher Sicht so sein, betrifft allerdings weder die völkerrechtliche Geltungsebene noch die zunächst getätigten innerstaatlichen Umsetzungsakte.

Insbesondere die rechtfertigende Bezugnahme der Präsidentschaftskanzlei auf den Wortlaut des Ministerratsvortrags des Bundesministeriums für Europa, Integration, Äußeres (BMEIA) vom 14. Mai 2018, wonach „[d]er Abschluss des Abkommens seitens der Europäischen Union […] nach Ergehen eines positiven Gutachtens oder, im Falle der Feststellung von Unvereinbarkeiten mit dem Unionsrecht, nach allfälligen Nachverhandlungen erfolgen [wird]“, erscheint nicht überzeugend, bezieht sich doch die Aussage konkret auf die Europäische Union, die als Internationale Organisation selbst Vertragspartei wird. Zudem richtete sich der mit Ministerratsbeschluss vom 16. Mai 2018 angenommene Vorschlag genau genommen auf die Bevollmächtigung für die notwendige Notifikation im Sinne von Artikel 30.7 Abs 2 CETA, nicht auf die Notifikation, also die Ratifikation im Sinne von Artikel 65 Abs 1 B-VG, selbst. Es handelt sich also zunächst nicht um eine Verzögerung der Ratifikation, sondern dem Grunde nach um eine Verzögerung der erbetenen Bevollmächtigung (zum Vergleich die unterschiedliche Formulierung im Adamovich-Gutachten gegenüber dem Wortlaut des Ministerratsvortrags des BMEIA), was im Ergebnis allerdings keinen Unterschied in der rechtlichen Beurteilung der gegenständlichen Handlung machen dürfte.

Was die Ratifikation betrifft, so bedarf es zwar nach Artikel 67 Abs 1 B-VG des Vorschlags der Bundesregierung, doch steht es dem Bundespräsidenten offen, solche Vorschläge „aus sachlichen Gründen nach Ermessen abzulehnen“ (Frank in Kneihs/Lienbacher, 8). Theo Öhlinger beschränkt dies wiederum auf „gute Gründe“ (siehe Öhlinger in Festschrift für Gerhart Holzinger, 609 mit weiteren Nachweisen). Bernhard Raschauer meint, „[d]er [Bundespräsident] muss […] in der Lage sein, in vertretbarer Weise zB die Unvereinbarkeit mit der Verfassung oder mit internationalen Verpflichtungen oder die Gefahr eines erheblichen „Schadens für die Allgemeinheit (vgl Art 18 Abs 3 B-VG) darzutun“ (Raschauer in Korinek/Holoubek, 17 Rz 34, Fn 64).

Nun scheint Adamovich in seinem Gutachten nicht zwischen der rechtlichen Qualität von Staatsverträgen einerseits und dem Akt der Ratifikation andererseits zu unterscheiden, wenn er davon spricht dass es sich „bei Staatsverträgen um Verwaltungsakte und um keine Akte der formellen Gesetzgebung“ handelt. Während der Bundespräsident nach Artikel 19 B-VG freilich ein oberstes Organ der Vollziehung darstellt und seine Handlungen als Verwaltungsakte zu qualifizieren sind, werden rechtliche Instrumente wie etwa Staatsverträge im Sinne des Artikel 50 Abs 1 B-VG auch nicht aus innerstaatlicher österreichischer Sicht durch die Berührung mit einem Verwaltungsakt wie durch ein Wunder selbst zu Verwaltungsakten. Vielmehr wird der völkerrechtliche Vertrag innerstaatlich entweder durch Adoption oder Transformation Teil der Gesetzgebung. Während der Bundespräsident also auf völkerrechtlicher Ebene als Staatsoberhaupt den Bindungswillen der Republik Österreich ausdrückt, was innerstaatlich als Verwaltungsakt charakterisiert werden mag, erlangt der Staatsvertrag selbst erst mit Kundmachung im Bundesgesetzblatt innerstaatlich eine rechtliche Qualität.

Die Kategorisierung als Verwaltungsakt spielt allerdings dahingehend eine Rolle, als diesbezüglich gemeinhin ein wesentlich größerer Handlungsfreiraum als in Bezug auf die Beurkundung von Gesetzen gesehen wird. Die Frage, ob der Bundespräsident eine Beurkundung verweigern kann, ist schließlich – einer auch über Österreich hinaus nicht unbekannten Debatte nach – strittig. Öhlinger identifiziert hierzu drei Ansätze: 1. Der Bundespräsident muss die formelle Verfassungsmäßigkeit prüfen; 2. der Bundespräsident darf „bei offenkundigen und schwerwiegenden Verfassungsverletzungen“ die Beurkundung verweigern, „insbesondere wenn diese das Funktionieren des parlamentarischen Systems gefährdet“; 3. der Bundespräsident kann die Verfassungsmäßigkeit uneingeschränkt aus formeller und materieller Sicht prüfen.

Während ein materielles Prüfrecht nach der erstmaligen Verweigerung einer Beurkundung durch Heinz Fischer 2008 heute wohl die herrschende Meinung widerspiegeln dürfte (kritisch aber Mayer/Muzak, 235), muss es sich für die materielle Ablehnung wohl um eine „evidente Verfassungswidrigkeit erheblichen Gewichts“ handeln, wobei „bloße Bedenken“ nicht ausreichen dürften (Korinek in Korinek/Holoubek, 10, Rz 13). Dieses Erfordernis einer „gewissenhafte[n] Prüfung und wohlbegründete[n] Entscheidung“ (ebd, 11 Rz 13) und die Kontrolle des Bundespräsidenten nach Artikel 142 B-VG (ebd, 15 Rz 19) sind möglicherweise auch der Grund für die Wortwahl Van der Bellens in Bezug auf die gegenständliche Handlung, dass er sich „diese Entscheidung nicht leichtgemacht“ habe.

Fraglich ist weiter die Rolle der zeitlichen Ebene. Bereits Kelsen verneinte in seinem Kommentar zum B-VG, dass der Bundespräsident in Bezug auf die Beurkundung an „einen bestimmten Termin“ gebunden wäre. Während eine „Blockade von Gesetzesbeschlüssen“ durch Verschleppung der Beurkundung freilich rechtsmissbräuchlich wäre (Korinek in Korinek/Holoubek, 12-13 Rz 16; Raschauer in Korinek/Holoubek, 9 Rz 15 und 20 Rz 42), stellt sich hier die Frage, ob die Entscheidung von einem externen Ereignis abhängig gemacht werden darf. Während der EuGH sich wohl in absehbarer Zeit zum Antrag Belgiens äußern wird, hätte eine ähnliche Konstellation mit vor anderen internationalen Gerichten und Tribunalen anhängigen Rechtsfragen möglicherweise einen jahrelangen Aufschub zur Folge.

Vor dem Hintergrund des Charakters der Ratifikation als Handlung mit quasi-legislativem Effekt (vergleich dazu dahingehend für die völkerrechtliche Ebene auch Artikel 11 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge) sieht Öhlinger eine analoge Anwendung der Lehre zur Beurkundung (siehe Öhlinger in Festschrift für Gerhart Holzinger, 616). In Bezug auf Staatsverträge versteht er hier „darüber hinaus ein solches Recht zur Ablehnung auch aus „ähnlich gewichtigen außenpolitischen Gründen […], etwa wenn sich seit der parlamentarischen Genehmigung jene außenpolitische Situation, aus der heraus der Vertrag entstanden ist, in relevanter Weise verändert hat“ (ebd). Dass dies gegenständlich der Fall wäre, ist nicht ersichtlich. Darüber hinaus führt Öhlinger als Beispiel an, „wenn der oder die Vertragspartner die Ratifikation nicht vornehmen“ (ebd). Der eigentliche Vertragspartner dieses gemischten Abkommens ist allerdings Kanada, das sich zwar zuletzt ob der innereuropäischen Debatte enttäuscht zeigte, doch unbeirrt weitere Schritte zur Umsetzung getroffen hat. Dennoch subsumiert Adamovich die ausstehende Entscheidung des EuGH sowie implizit auch die Debatte um die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit unter den Begriff des „gewichtigen außenpolitischen Grunds“.

Gerade das Vorliegen eines solchen Grunds darf eben bezweifelt werden. Würde man die Lehre zur Beurkundung heranziehen, so müsste sich überhaupt erst eine „evidente Verfassungswidrigkeit erheblichen Gewichts“ aufdrängen (Korinek in Korinek/Holoubek, 10, Rz 13). Eine Ratifikation hätte aber vor objektivem Inkrafttreten von CETA weder positive noch negative Auswirkungen für Österreich. Vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Notifikationen Dänemarks, Estlands, Kroatiens, Lettlands, Litauens, Maltas, Portugals, Schwedens und Spaniens, würde eine solche auch kaum ein innereuropäisches Alleinstellungsmerkmal Österreichs darstellen. Der sachliche Grund könnte lediglich pragmatisch und effizienzgerichtet sein, was allerdings vor dem Hintergrund des betriebenen Aufwands, die Verfassungsmäßigkeit der getroffenen Maßnahme zu eruieren, zweifelhaft sein dürfte.

Vielmehr ist die Debatte bereits seit längerem von künstlichen Konfrontationen und einer populistischen medialen Instrumentalisierung der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit als Grundübel geprägt. Bereits im Präsidentschaftswahlkampf hatte Van der Bellen am 18. Oktober 2016 medienwirksam auf Facebook angekündigt: „Wäre CETA heute auf meinem Schreibtisch, würd ich das Abkommen nicht unterzeichnen“. Dies hatte der ehemalige Bundeskanzler und nun oppositionelle SPÖ-Politiker Christian Kern auch wenige Wochen vor der nunmehrigen Ankündigung des Bundespräsidenten in Erinnerung gerufen. Zuletzt folgte eine an Van der Bellen gerichtete Videobotschaft des stellvertretenden Grünen-Bundessprechers Werner Kogler. Dass der Akt der Ratifikation eines multilateralen völkerrechtlichen Vertrags nun mit dem Argument hinausgezögert wird, die Frage der Investitionsschiedsgerichte müsse geklärt werden, lässt vermuten, dass die Konformität mit Unionsrecht nicht alleine im Vordergrund steht.

Vor dem Hintergrund von Artikel 18 B-VG ist ein von ungewisser, zukünftiger Rechtslage motiviertes Ermessen eines obersten Verwaltungsorgans rechtsstaatlich zumindest fragwürdig. Möglicherweise liegt dahinter die Kalkulation, dass die EU auf Grundlage einer Achmea-ähnlichen Entscheidung Kapitel 8 des Abkommens neu verhandeln wird müssen, woraufhin sich die Verzögerung der Ratifikation als weise und wohlbedachte Entscheidung innenpolitisch erfolgreich verwerten lässt.

Ein Amtsverständnis als selbsternannter Hüter des acquis communautaire mag den EuGH vielleicht freuen, ist aber systemisch weder notwendig noch hilfreich für die zugrundeliegende Debatte. In einer ohnehin schon nicht von Sachargumenten getragenen Diskussion zur Sinnhaftigkeit der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit, wäre es wünschenswert, im Sinne der Rechtssicherheit und des Wirtschaftsstandorts Europa und Österreich zumindest innerhalb eines Mitgliedstaats eine geschlossene Staatenpraxis zu formulieren. Über die Debatte hinausgehende Implikationen einer aktiveren und streitbareren Ausübung der Ratifikationskompetenz sind jedenfalls absehbar. Man wird allerdings abwarten müssen, was noch alles gehen wird.


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