21 September 2020

Rechtsbindung durch Staatshaftung

Zur Entschädigung für rechtswidrige Polizeieinsätze

Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat auch in Deutschland das Thema der rechtswidrigen polizeilichen Maßnahmen auf die Tagesordnung gebracht. Im Fokus der Kritik stehen dabei unaufgeklärte Todesfälle in Polizeigewahrsam, unverhältnismäßige Gewaltanwendungen wie zuletzt in Hamburg, Düsseldorf oder Frankfurt, das sogenannte Racial Profiling bei Personenkontrollen sowie unberechtigte polizeiliche Datenabfragen, die wahrscheinlich auch für die Drohmails des „NSU 2.0“ genutzt wurden. Auch Demonstrierende und Fußballfans berichten regelmäßig von rechtswidrigen Zwangsmaßnahmen. Beispielhaft genannt seien die gut dokumentierte massive Gewalt während des G20-Gipfels 2017 in Hamburg, die Verletzung eines Frankfurter Fußballfans beim Spiel gegen Schachtar Donezk im Februar 2019 sowie die gefährliche Einkesselung einer Versammlung in Ingelheim vor wenigen Wochen. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. In den sozialen Medien werden Vorfälle unter dem Hashtag #Polizeiproblem gesammelt.

Während die Forschung zum Ausmaß rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckt, gilt als gesichert, dass die Aufarbeitung durch die Strafjustiz strukturelle Defizite aufweist: Es ist (mangels flächendeckender Kennzeichnungspflicht) schwierig, Täter*innen zu identifizieren, innerhalb der Polizei herrscht ein ausgeprägter Korpsgeist und die Polizei steht der Staatsanwaltschaft institutionell nah. All das trägt dazu bei, dass es in den seltensten Fällen zu Verurteilungen kommt. Abgesehen davon geht es im Strafverfahren primär darum, die individuelle Schuld der verdächtigen Person festzustellen. Dadurch geraten die strukturellen Ursachen rechtswidrigen Polizeihandelns, wie mangelnde Fehlerkultur, unzureichende politische Bildung und Menschenrechtsbildung sowie die Duldung und Leugnung rechtsextremer Einstellungen innerhalb der Polizei, wie sie zuletzt in Nordrhein-Westfalen zutage getreten ist, leicht aus dem Blick. Der verwaltungsgerichtliche (Eil-)Rechtsschutz kommt derweil in vielen Fällen zu spät. Klagen enden, wenn sie überhaupt erhoben werden, mit bloßen Feststellungsurteilen, die in der Regel ohne spürbare Konsequenzen bleiben. Grund genug, den Blick auf das Staatshaftungsrecht zu wenden, das einen wichtigen, zusätzlichen Beitrag dazu leisten kann, die Polizei rechtsstaatlich einzuhegen. Das zeigt ein aktuelles Urteil aus Köln zur Entschädigung für polizeiliche Freiheitsentziehung.

Landgericht Köln: Keine Entschädigung für Freiheitsentziehung

Im Januar 2017 fand eine Versammlung der inzwischen aufgelösten rechtsextremen Kleinstpartei „Pro NRW“ statt. Nachdem das „Bündnis Köln Nord gegen Rechts“ zu Protesten aufgerufen hatte, sammelten sich am Tag des Geschehens zahlreiche Gegendemonstrant*innen um den Pastor-Könn-Platz in der Kölner Altstadt, der als Kundgebungsort der Rechten vorgesehen war. Die Polizei kesselte ca. 230 Personen ein und hielt sie bis zu vier Stunden bei Temperaturen um den Gefrierpunkt fest, um ihre Personalien festzustellen, während der Aufzug von „Pro NRW“ eine leicht abweichende Route nahm. Die Strafverfahren gegen die Gegendemonstrant*innen wurden später wegen Geringfügigkeit gemäß § 153 StPO eingestellt.

Laut dem Kölner Verwaltungsgericht, das den Verwaltungsrechtswegs recht großzügig als eröffnet ansah, handelte es sich bei der polizeilichen Maßnahme um ein Festhalten zum Zwecke der Identitätsfeststellung auf Grundlage des § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO. Dessen tatbestandliche Voraussetzungen seien jedoch nicht erfüllt gewesen, da bereits ein Anfangsverdacht für eine Straftat fehlte. Zur Begründung führte das Gericht unter anderem aus, dass von den Gegendemonstrant*innen keinerlei Gewalt ausging und die Versammlung von „Pro NRW“ mit leicht geänderter Route stattfinden konnte.

Nach der erfolgreichen Feststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht traten 57 Betroffene ihre Entschädigungsansprüche ab, die anschließend gebündelt vor dem Landgericht geltend gemacht wurden. Mit Urteil vom 9. Juni 2020 wies das Landgericht Köln die Klage ab: Den Gegendemonstrant*innen stünde kein Amtshaftungsanspruch nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG zu. Das Landgericht begründete seine Entscheidung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der nur dann eine Entschädigung für eine Persönlichkeitsrechtsverletzung gezahlt werden müsse, wenn diese schwerwiegend sei und nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden könne. Das sei nicht der Fall, da die Polizeibeamt*innen allenfalls fahrlässig gehandelt hätten und die Betroffenen „nur“ ca. vier Stunden festgehalten worden seien. Die Forderung lasse sich auch nicht auf das nordrhein-westfälische Polizeirecht stützen, da gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 OBG NRW Entschädigung nur für Vermögensschäden gewährt werde.

Dogmatische Fehler

Schon auf der Ebene des einfachen Rechts unterlaufen dem Landgericht verschiedene Fehler. So ist das verletzte Rechtsgut nicht (oder zumindest nicht primär) das Persönlichkeitsrecht, sondern die Freiheit der Person. Für eine Freiheitsentziehung sieht § 253 Abs. 2 BGB aber ausdrücklich eine Entschädigung vor. Auf den Entschädigungsanspruch wegen einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts, der vom Bundesgerichtshof contra legem entwickelt wurde, kommt es daher gar nicht an. Das ist insofern relevant, als das Schmerzensgeld gemäß § 253 Abs. 2 BGB nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 14/8780, S. 21) nur in Bagatellfällen mangels Erheblichkeit ausscheidet. Berücksichtigt man, dass nach der auf das Reichsgericht zurückgehenden „Vaterunser-Formel“ schon eine Freiheitsentziehung von wenigen Sekunden strafbewehrt sein soll, fällt es schwer, bei einer mehrstündigen Freiheitsentziehung bei Temperaturen um den Gefrierpunkt von einem Bagatellfall im haftungsrechtlichen Sinne zu sprechen.

Auch der polizeirechtliche Entschädigungsanspruch, den das Landgericht angeführt hat, ist nicht einschlägig, weil es sich bei der Einkesselung um eine strafprozessuale Maßnahme handelte. Das Festhalten zur Identitätsfeststellung ist auch nicht von § 2 Strafverfolgungsentschädigungsgesetz erfasst. Die verschuldensunabhängige Unrechtshaftung richtet sich daher nach dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Anspruch aus aufopferungsgleichem Eingriff, der neben dem verschuldensabhängigen Amtshaftungsanspruch anwendbar ist und laut der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch den Ausgleich immaterieller Schäden umfasst. Daneben kommt ein Anspruch nach Art. 5 Abs. 5 EMRK in Betracht. Beide Anspruchsgrundlagen erwähnt das Landgericht nicht einmal.

Verkennung von Grundrechten

Die Begründung, mit der das Landgericht die schwerwiegende Rechtsverletzung verneint, verkennt darüber hinaus verfassungsrechtliche Wertentscheidungen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in drei Kammerbeschlüssen von 2009, 2016 und 2017 zu ähnlich gelagerten Fällen entschieden, dass die Fachgerichte bei der Entscheidung über Entschädigungsansprüche die jeweils einschlägigen Grundrechte beachten müssen. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass eine Freiheitsentziehung im Zusammenhang mit Demonstrationsgeschehen eine abschreckende Wirkung für die künftige Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit haben könne.

Das Bundesverfassungsgericht verwies zudem auf seine Rechtsprechung zum Schutzauftrag des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und äußerte in den Entscheidungen von 2016 und 2017 Zweifel daran, dass die Einsatzleitung der Polizei Konsequenzen für zukünftige Einsätze gezogen hat. Damit deutete es an, dass dem Staatshaftungsrecht neben der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion auch eine Präventivfunktion zukommt. Das Landgericht zitiert zwar eine der einschlägigen Verfassungsgerichtsentscheidungen, bezieht aber weder Art. 2 Abs. 2 GG noch Art. 8 GG wertend in die Bestimmung der Rechtseinbuße ein.

Präventivfunktion des Staatshaftungsrechts

Dabei befindet sich der Präventionsgedanke im Haftungsrecht und speziell im Staatshaftungsrecht auf dem Vormarsch. Ursprünglich für Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Medien entwickelt, wurde die Präventivfunktion später auch bei Amtshaftungsansprüchen wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen anerkannt. Auch die Entschädigungsansprüche nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und neuerdings nach dem Berliner Antidiskriminierungsgesetz, das unter anderem für die Polizei gilt, sollen eine abschreckende Wirkung entfalten. Dasselbe gilt für datenschutzrechtliche Ansprüche nach Art. 82 DSGVO und § 83 BDSG.

Zwar sträuben sich Rechtsprechung und Wissenschaft noch dagegen, dem Präventionsgedanken auch im Rahmen des Schmerzensgeldanspruchs gemäß § 253 Abs. 2 BGB Geltung zu verschaffen. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist jedoch nicht einzusehen, weshalb den Rechtsgütern Körper, Gesundheit, Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung ein schwächerer Schutz zuteilwerden soll als dem Persönlichkeitsrecht. Dies gilt umso mehr in staatshaftungsrechtlichen Konstellationen, in denen es oft nicht um staatliche Schutzpflichten, sondern um Grundrechte als Abwehrrechte und ihren Schutz durch ein effektives Verfahren geht. Anders als im klassischen Zivilrecht droht die Vermischung von Ausgleichs- und Präventionsgedanken im Staatshaftungsrecht auch nicht auf einen Strafschadensersatz hinauszulaufen, der grundrechtliche und strafprozessuale Schutzstandards unterminiert. Auch in der Rechtsprechung des EGMR zur Entschädigung nach Art. 41 EMRK setzt sich der Präventionsgedanke immer stärker durch.

Ökonomische Analyse des Rechts und Public Choice

Rückenwind enthält diese Entwicklung von der ökonomischen Analyse des Rechts und speziell von Public-Choice-Ansätzen zur Entscheidungsfindung staatlicher Institutionen. Zwar lassen sich die Rational-Choice-Ansätze zur Verhaltenslenkung von am Markt agierenden Privatpersonen nicht ohne Weiteres auf den öffentlichen Sektor übertragen. Es ist jedoch zumindest plausibel, dass auch Bürokrat*innen und Politiker*innen bei ihren Entscheidungen Haftungsrisiken berücksichtigen. Denn bei knappen Budgets ist die Kostenminimierung eine zentrale Strategie insbesondere von Behördenleiter*innen und Politiker*innen, um effektiv ihre Aufgaben zu erfüllen sowie Einfluss und Macht ausüben zu können. Kostspielige Haftungsfälle können zudem über das berufliche Fortkommen von Bürokrat*innen und die Wiederwahl von Politiker*innen mitentscheiden. Das Staatshaftungsrecht erweist sich damit – unabhängig von den eingeschränkten Regressmöglichkeiten gegenüber Amtswalter*innen (dazu jüngst Grzeszick) – als ein Instrument, um die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sicherzustellen.

Dagegen lässt sich freilich einwenden, dass rechtswidrige polizeiliche Maßnahmen in einer funktionierenden Demokratie auch dann politische Konsequenzen haben sollten, wenn der Staat nicht finanziell haftet. Dass dies jedoch in der Praxis nicht immer der Fall ist, zeigt die an Christian Morgensterns Gedicht erinnernde Begründung, mit der Horst Seehofers eine Studie zu Racial Profiling ablehnt: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Ähnlich realitätsverleugnend war die Aussage „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“ des damaligen Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz nach dem G20-Gipfel. Dass beide Politiker mit ihrer Ignoranz gegenüber rechtswidrigen Polizeimaßnahmen durchzukommen scheinen, dürfte auch daran liegen, dass mit People of Colour und linken Aktivist*innen Personengruppen betroffen sind bzw. waren, die wenig Macht haben und über keine starke Lobby verfügen. Würden sich (systematische) Rechtsbrüche hingegen im Staatshaushalt bemerkbar machen, könnte das dazu beitragen, Polizeigewalt als gesamtgesellschaftliches Problem anzuerkennen.

Umfassende Haftung als Anreiz zur Rechtstreue

Diese Erwägungen sprechen dafür, die Bagatellschwelle des § 253 Abs. 2 BGB jedenfalls in staatshaftungsrechtlichen Konstellationen nicht zu hoch zu legen. Angemessen wäre eine Lösung, nach der die Entschädigung nur dann „unbillig“ ist, wenn die Freiheitsentziehung nach wenigen Minuten beendet war. Die Auslegung des Kölner Landgerichts wird hingegen den betroffenen Grundrechten und der Präventivfunktion des Staatshaftungsrechts in keiner Weise gerecht. Sie führt darüber hinaus in Kombination mit der vollen Haftung für Vermögensschäden zu einer Asymmetrie, die problematische Fehlanreize setzen kann.

Um dies zu veranschaulichen, muss der Fall abgewandelt und um ein paar Kilometer nach Westen verlegt werden. Angenommen die Demonstrierenden wollten nicht gegen Nazis, sondern gegen den Tagebau im Rheinischen Braunkohlerevier protestieren: Hier hat die Polizei im Grundsatz zwei Rechtsgüter in den Blick zu nehmen. Zum einen die Eigentums- und Berufsfreiheit des betroffenen Energiekonzerns, zum anderen die Versammlungsfreiheit der Demonstrierenden, die unter Umständen auch (symbolische) Blockaden von Zufahrten umfasst. Die Polizei muss einerseits ihre Schutzpflicht erfüllen, andererseits darf sie die Demonstrierenden nicht ohne eine unmittelbare Gefahr einkesseln. Der Grat zwischen der Verletzung von Unter- und Übermaßverbot ist mitunter schmal und erfordert eine sorgfältige Abwägung. Berücksichtigt die Polizei auch die Haftungsrisiken, dürfte die Entscheidung hingegen feststehen: Auf der einen Seite steht die (wenn auch unwahrscheinliche) Möglichkeit einer Haftung für hohe Umsatzeinbußen des Energiekonzerns, auf der anderen Seite steht gar kein Haftungsrisiko, weil eine mehrstündige Ingewahrsamnahme nach der Auffassung des Kölner Landgerichts nicht entschädigt werden muss.

Entschädigungsansprüche zur Mobilisierung der Bürger*innen

Eine umfassende Staatshaftung auch für immaterielle Schäden kann schließlich auch Anreize für die Bürger*innen setzen, Rechtsschutz zu suchen und so zur Rechtsdurchsetzung beizutragen. Viele polizeiliche Maßnahmen landen nicht vor Gericht, weil die Erhebung einer (Fortsetzungs-)Feststellungsklage mit dem damit verbundenen Prozessrisiko in der Regel ein gutes Maß an Idealismus erfordert. Insbesondere die Fallgruppe der Grundrechtseingriffe, die sich typischerweise kurzfristig erledigen, verdeutlicht, dass die Feststellungsklage auch dazu dient, „blinde Flecken“ des Rechtsstaats zu vermeiden. Die Kläger*innen sind gleichsam im öffentlichen Interesse tätig, indem sie Defizite in der Verwaltungspraxis transparent machen.

Entschädigungsansprüche können das fördern, wie der Kölner Fall verdeutlicht: Die erfolgreiche Feststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht wurde auch erhoben, um später – koordiniert vom „Bündnis Köln gegen Rechts“ – Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Es ist zu hoffen, dass dieses Engagement für den Rechtsstaat noch honoriert wird: Berufung zum Oberlandesgericht ist eingelegt.


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