04 January 2021

Richtige Balance?

Zur Qualität des Grundrechtsschutzes im Recht des Europäischen Haftbefehls

Der Europäische Haftbefehl ist nicht nur eine Dauerbaustelle des europäischen Grundrechtsschutzes, sondern zugleich das Produkt verketteter Fehlleistungen europäischer Institutionen. Kommission und Rat haben mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl 2002/584/JI politisch ein Instrument geschaffen, das einseitig Funktionsinteressen der Strafrechtspflege forciert. Grundrechte wurden hingegen von Anfang auf eine Floskel reduziert (vgl. Erwägungsgrund 12 sowie Art. 1 Abs. 3), von der die effektive Rechtsanwendung möglichst verschont werden sollte. Die national introvertierten politischen Öffentlichkeiten haben die schieflaufenden Legislativprozesse seinerzeit schlicht ignoriert. Das traurige Bild der Vertreter des Deutschen Bundestags im ersten Haftbefehlsverfahren vor dem BVerfG (vgl. BVerfGE 113, 273 ff.) ist zum Symbol europapolitischen Desinteresses auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger geworden. Der EuGH wiederum, der hier als Grundrechtsgericht gefordert gewesen wäre, hat sich – nicht zum ersten Mal – auf die Seite der Macht geschlagen und ist als herrschaftskritische Kontrollinstanz blass geblieben.

Einschwenken des Zweiten Senats

Mit einer kurz vor Jahreswechsel veröffentlichten Grundsatzentscheidung aus dem Recht des EU-Haftbefehls hat sich der Zweite Senat des BVerfG der Rechtsprechung des Ersten Senats („Recht auf Vergessen I & II“, BVerfGE 152, 152 ff.; 152, 216 ff.) angeschlossen und die EU-Grundrechtecharta (GRCh) als verfassungsbeschwerdefähigen Prüfungsmaßstab adoptiert (BVerfG, Beschl. v. 1.12.2020 – 2 BvR 1845/18). Diese pragmatische Lösung wurde in einer scharfsichtigen Analyse von Mattias Wendel bereits besprochen. Zutreffend betont Wendel, dass es hierbei vorrangig um eine Neuordnung im Verhältnis von Verfassungs- zur Fachgerichtsbarkeit geht – also um ein Kompetenzproblem auf nationaler Ebene. Mit der Prüfung der GRCh macht das BVerfG das, was allen Fachgerichten von Amts wegen ohnehin obliegt, nur dass die Kontrolle hierüber nunmehr verfassungsbeschwerdefähig wurde. Obgleich das dogmatische Fundament für diesen Kontrollzugriff eher brüchig ist, erscheint er aus Sicht der institutionellen Balance sachgerecht. Gerade in Auslieferungssachen sind die Fachgerichte (sprich: die Rechtshilfesenate der Oberlandesgerichte) ihrer Verantwortung nicht immer gerecht geworden. Ungeachtet der Übereinstimmung in der Analyse kann ich Wendel aber in der Bewertung nicht zustimmen, dass damit im Auslieferungsrecht wirksamer und kohärent fundierter Grundrechtsschutz gewährleistet sei, der einen Interventionsvorbehalt qua Identitätskontrolle überflüssig mache.

Richtige Balance oder Grundrechte auf Ramschniveau

Ob es um den Grundrechtsschutz im europäischen Recht der Strafrechtskooperation wirklich gut bestellt ist, lässt sich am besten beantworten, indem man die vom EuGH herausgeschälten Prämissen ihres föderativen Kompetenzgerüsts entkleidet und aus grundrechtlicher Sicht reformuliert. Würde man einem Setting des nationalen Rechts tatsächlich „die richtige Balance“ (so Wendel) bescheinigen, dem folgende Prämissen zugrunde liegen?

  1. Unterhalb von Verletzungen abwägungsfester Grundrechte (Folterverbot und Anspruch auf ein faires Verfahren) geht das öffentliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung selbst bei den schwerwiegendsten Eingriffen, die das Strafprozessrecht kennt, individuellen Grundrechten immer vor.
  2. Auch Verletzungen des Folterverbots oder des fairen Verfahrens werden nur dann relevant, wenn sie systematisch oder gruppenbezogen aufgrund genereller Defizite erfolgen, nicht aber, wenn es nur ein Individuum im Einzelfall trifft.
  3. Gegenüber der öffentlichen Gewalt gilt ein „Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, aus dem eine wechselseitige Vermutung der Grundrechtstreue“ in die öffentliche Gewalt „folgt, die nur unter außergewöhnlichen Umständen als widerlegt anzusehen ist“, und der sich die Bürgerinnen und Bürger im Übrigen zunächst einmal zu beugen hätten.

Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen, dass eine solche grundrechtsfeindliche Deformation der Rechtsordnung zu Gunsten administrativer Vollzugsinteressen – zumal im besonders sensiblen Bereich des Haftrechts – ohne berechtigten Prostest bliebe.

Entwertung von Unionsgrundrechten durch übersteigertes Vollzugsinteresse

Bei der zwangsweisen Verbringung in einen anderen EU-Mitgliedstaat im Zuge eines EU-Haftbefehls geht es um den intensivsten Grundrechtseingriff, den das Unionsrecht regelt. Gleichwohl hat der EuGH von Anfang die Gewichtungskoordinaten aus falsch verstandenem – effektivitätsorientiertem – Funktionsinteresse schon prinzipiell grundrechtsnivellierend bestimmt. Die gesamte Rechtsprechungslinie beruht darauf, dass die Verbringung in einen anderen EU-Mitgliedstaat zwecks Strafverfolgung als Konsequenz eines auf Anerkennung und Vertrauen gründenden Regelungssystems, das dem Rahmenbeschluss zugrunde liegt, schlicht zu dulden ist, um die damit verfolgten Gemeinwohlziele wirksam zu verwirklichen. Ein europäisches „Bürgeropfer“? Die anlasslose Speicherung von Telefonie-Metadaten wird als besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff qualifiziert, der kaum zu rechtfertigen ist (EuGH, Urt. v. 8.4.2014 – C-293/12 [Digital Rights Ireland Ltd]; Urt. v. 21.12.2016 – C-203/15 und C-698/15 [Tele2 Sverige AB]), während es ohne wirksame Abwehrrechtspositionen hingenommen werden muss, verhaftet und auf unabsehbare Zeit nach Rumänien überstellt zu werden. Schon intuitiv wird man hier Zweifel haben, ob diese – gewiss: jeweils problemspezifisch divergent begründeten – Konsequenzen ein angemessen balanciertes Gesamtmodell europäischen Grundrechtsschutzes abbilden.

Zwar hat der EuGH inzwischen – auch latent steigendem Druck vor allem seitens BVerfG und EGMR nachgebend – ungeschriebene Ausnahmen von der Auslieferungspflicht anerkannt. Diese wurden aber auf den abwägungsfesten Art. 4 GRCh beschränkt, der entsprechend Art. 3 EMRK Folter und unmenschliche Behandlung verbietet (EuGH, Urt. v. 5.4.2016 – C-404/15 und C-659/15 PPU [Aranyosi und Căldăraru], Rn. 74 ff.). Später wurde dies auf die ebenfalls abwägungsfeste Garantie des fairen Verfahrens als Bestandteil des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 47 GRCh erstreckt (EuGH, Urt. v. 25.7.2018 – C-216/18 PPU [LM]). Jeweils ging es also um abwägungsfeste Grundrechte, mithin um ein letztes Sicherheitsnetz gegen Verletzungen des Wesensgehalts- und Menschenwürdekerns (Art. 1, 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh). Wo dies nicht der Fall ist, kommt dem strafrechtlichen Kooperationsinteresse pauschaler Vorrang zu.

Nun ist es nicht so, dass andere Grundrechte – und namentlich die Verhältnismäßigkeit (Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh) bei der Freiheitsentziehung – generell irrelevant wären. Zutreffend betont Wendel, dass es letztlich um die föderative Verteilung von Kontrollzuständigkeiten geht. Die Grundrechtskontrolle wird gezielt in den Ausstellungsstaat verlagert (EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – C-168/13 [Jeremy F.], Rn. 50). Die konkrete Allokation des Kontrollzugriffs hat jedoch massive materiell-grundrechtliche Konsequenzen: Letztlich unterliegt die schwerste Belastung im Auslieferungsrecht – die zwangsweise Verbringung in einen anderen Staat und die damit einhergehenden erheblichen kommunikativen, beruflichen, familiären und sozialen Folgen – zunächst keiner Kontrolle. Dies gezielt anhand der einschlägigen Unionsgrundrechte (z. B. Art. 6, 7, 9, 15 GRCh) zu adressieren und grundrechtsadäquate Abwägungsdirektiven zu formulieren, wäre Aufgabe des EuGH gewesen, der hier als Grundrechtsgericht bislang schlicht versagt hat.

Ablösung von Individualgrundrechten durch objektive Systemgewährleistung

Selbst eine mögliche Verletzung abwägungsfester Grundrechte allein rechtfertigt nach dem EuGH noch keine Vollzugsverweigerung. Die Anwendung des Mechanismus des EU-Haftbefehls dürfe nur ausgesetzt werden, „wenn eine schwere und anhaltende Verletzung“ von rechtsstaatlichen Prinzipien festgestellt werde (Jeremy F., Rn. 10, 49). Staatliche Gerichte müssten daher prüfen, ob verlässliche Informationen vorhanden sind, „die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen“ (EuGH, Urt. v. 15.10.2019 – C-128/18 [Dorobantu], Rn. 52). Auch eine Gefahr für ein faires Verfahren lässt sich nur auf systemische Mängel des Justizsystems stützen (LM, Rn. 34). Einzelne kommen also erst dann in den Genuss ihrer Grundrechte, wenn sie als Vehikel dienen, mittelbar rechtsstaatliche Systemdefizite anderer EU-Mitgliedstaaten anzugreifen und eine dezentrale Rechtsstaatskontrolle zu initiieren. Das ist eine bemerkenswerte Pervertierung der alten Mobilisierungsidee.

Grundrechte sind subjektive Individualrechte, keine bloße Ordnungsidee. Es ist das Proprium – und nicht nur ein integrationspolitisch verhandelbarer Kollateraleffekt – der auch unionsrechtlich gewährleisteten (Art. 1 GRCh) Menschenwürde, allen Menschen ein „Recht auf Rechte“ (Hannah Arendt) zuzusprechen. Jedem Menschen steht in jedem Einzelfall das subjektive Recht zu, sich auf die Verletzung eigener Rechte zu berufen, und zwar auch wenn die Rechtsverletzung von einem grundsätzlich funktionierenden Rechtsstaat ausgeht. Die Identitätskontrolle, die sich das BVerfG vorbehält, bleibt vor diesem Hintergrund allein schon deshalb notwendig, um individuelle Gefährdungen der Menschenwürde aufzufangen, die der EuGH bislang nicht angemessen adressiert.

Grundrechtserosion durch rückwärtsgewandtes Staatsvertrauen

Das zweite Grunddefizit ist ein euro-etatistisches Paradigma, wonach das Regelungssystem des EU-Haftbefehls „ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten“ voraussetze (EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-399/11 [Melloni], Rn. 37). Das ist zwar konzeptionell im Rahmenbeschluss so angelegt. Der Gerichtshof hat jedoch nie – was seine Aufgabe gewesen wäre – hinterfragt, ob die realen Voraussetzungen für dasjenige Vertrauen vorliegen, welches einen so gravierenden Grundrechtseingriff rechtfertigen soll. Im Gegenteil wird das Vertrauen gerade zur kontrafaktischen Norm hypostasiert. Grundrechte sind dann nur noch Funktionsstörung. Misstrauen in die Rechtsstaatlichkeit würde, „indem die Einheitlichkeit des im Rahmenbeschluss festgelegten Grundrechtsschutzstandards in Frage gestellt wird, zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die der Rahmenbeschluss stärken soll, führen und daher die Wirksamkeit dieses Rahmenbeschlusses beeinträchtigen“ (Melloni, Rn. 63).

Dass Grundrechte das integrationspolitische Regelungsziel der wechselseitigen Anerkennung von vornherein begrenzen könnten, war dem Gerichtshof anfangs nicht einmal eine flüchtige Erwägung wert. „Grundrechtsschutzstandards“ seien bereits im Rahmenbeschluss festgelegt, sind also offenbar keine Standards, die gerade gegen die Rechtsetzung in Stellung gebracht werden können. Hier schimmert mehr als deutlich ein objektiv-rechtliches Grundrechtsmodell durch, das Freiheitsrechte vornehmlich als politischen Auftrag an den Gesetzgeber versteht. Das ist schon lange eine hinlänglich isolierte Rechtstradition, die durch die gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung längst überholt wurde und die offenkundig nicht dem liberalen Regelungsmodell der GRCh entspricht. Wie gut sich hingegen die objektivierend-legislativfixierte Begründungsrationalität des EuGH in Argumentationsmuster der „illiberalen Demokratie“ einfügen würde, scheint niemandem aufgefallen zu sein.

Primärrechtliche Armierung, Fehlzitate und etatistischer Anachronismus

Der EuGH überhöht zudem die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung. Diese hätten „im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten“ (EuGH, Urt. v. 5.4.2016 – C-404/15 und C-659/15 PPU [Aranyosi und Căldăraru], Rn. 78). Der Gerichtshof entwickelt also die Vertrauensmaxime von einem (missglückten) Baustein des EU-Haftbefehls, der mit der Regelungstechnik des Rahmenbeschlusses steht und fällt, zu einer – wohl in der Matrix des Primärrechts verorteten (vgl. Dorobantu, Rn. 49, unter Verweis auf Art. 2 EUV) – allgemeinen Maxime. Damit wird die in gemeineuropäischen Rechtstraditionen wurzelnde Struktur des Grundrechtsschutzes auf den Kopf gestellt. Nicht mehr die öffentliche Gewalt schuldet eine normativ und faktisch einwandfreie Rechtfertigung, in Grundrechte einzugreifen, die Bürgerinnen und Bürger müssen vielmehr systemisches Staatsversagen belegen.

Diese krude Schieflage wird zusätzlich deutlich in einer (unterstellt: bewussten) Fehlzitierung des EGMR durch den EuGH: Der EGMR hat wiederholt und überzeugend betont, dass es mit der EMRK unvereinbar sei, den EU-Haftbefehl schematisch und einseitig zu Lasten der Konventionsrechte anzuwenden, statt sich sorgfältig mit möglichen zielstaatsbezogenen Menschenrechtsverletzungen auseinanderzusetzen (EGMR, Entsch. v. 9.7.2019, Romeo Castaño/Belgien, Application No. 8351/17, Rn. 84, 86). Der EuGH deformiert dies und behauptet: „Der EGMR hat entschieden, dass ein Gericht eines Vertragsstaats der EMRK die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht mit der Begründung, dass die gesuchte Person im Ausstellungsstaat Haftbedingungen zu unterliegen drohe, die eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung mit sich brächten, ablehnen darf, wenn es nicht zuvor eine aktualisierte und eingehende Prüfung der Situation vorgenommen hat“ (Dorobantu, Rn. 57). Menschenrechte der EMRK als Verpflichtung zum effektiven Vollzug des EU-Haftbefehls? So ridikülisiert man Freiheitsrechte und zugleich die eigene Rechtsprechung.

Individualgrundrechte als subjektive Rechte sind institutionalisiertes Misstrauen in die objektive Rechtsbefolgung durch die öffentliche Gewalt. Sie dienen dazu, in jedem Einzelfall geltend machen zu können, dass nicht alles so ist, wie es sein soll. Das rückwärtsgewandt-etatistische Konzept des normativierten Vertrauens läuft damit als solches der Ratio liberaler Freiheitsgrundrechte zuwider, weshalb auf ihm gründende Abwägungen von vornherein nicht die richtige Balance finden können.

Realitäts-Check?

Der im Ausgangsfall des BVerfG betroffene EU-Mitgliedstaat Rumänien landet im aktuellen „Corruption Perceptions Index“ von Transparency International Deutschland e.V. auf Platz 70 – hinter Weißrussland und sogar weit abgeschlagen hinter Saudi-Arabien und Kuba, aber schon recht nahe an China. Nur Bulgarien steht mit Platz 74 noch weiter unten. Ohne solche Analysen einer NGO unkritisch zu überhöhen: Das ist der Zustand einer Europäischen Union, die gerade einen weitgehend korruptionsresistenten Mitgliedstaat mit einer funktionierenden Strafrechtspflege verloren hat. Das – gewiss: aus guten Gründen – viel gescholtene Polen liegt übrigens auf Platz 40 etwa in einer Liga mit der Republik Korea und Botswana, beides funktionierende Rechtsstaaten.

Eine Europäische Union, die ein föderales Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit autoritativ normieren, mit Primärrechtsrang ausstatten und gegen mitgliedstaatliche Organe zwangsweise durchsetzen muss, weil es faktisch keine hinreichende Vertrauensgrundlage gibt, wird ihrem Anspruch nicht gerecht, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 3 Abs. 2 EUV) zu sein. Das Vertrauensparadigma ist hierbei keine Schieflage des Primärrechts, die sich nur durch eine Vertragsänderung beseitigen ließe, sondern eine eigenwillige Interpretation durch den EuGH, die korrekturfähig, aber auch dringend korrekturbedürftig erscheint.

Unkritische EuGH-Apologetik und autoritäre Zöpfe

So bleibt gerade in der deutschen Europarechtswissenschaft ein schriller Kontrast zwischen einer nachgerade rührenden Sorge um die europäische Rechtseinheit einerseits und einer Vernachlässigung der rechtsstaatlichen Substanz andererseits. Dass das Anliegen des BVerfG, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und damit den fundamentalen Achtungsanspruch jeder und jedes Einzelnen auch gegen europäische Integrationsmechaniken zu verteidigen, von nicht wenigen reflexartig vor allem als Gefährdung von Einheitlichkeit und Vorrang des Unionsrechts gesehen wird, spricht für sich und lässt durchscheinen, welche Rolle den unionsgewaltunterworfenen Menschen offenbar zugedacht wird. Wenn die Europäische Union im notwendigen Kampf um die rechtsstaatliche Integrität der Mitgliedstaaten glaubwürdig sein will, müsste sie sich zunächst einmal illiberaler Besitzstände im eigenen Rechtsdenken entledigen. Ein kontrafaktisch allein durch autoritative Setzung eingefordertes Staatsvertrauen, eine Reduktion von Grundrechten auf objektive Systemgewährleistung und eine überbordende Gewichtung unionaler Funktionsinteressen sind autoritäre Zöpfe des Unionsrechts, die endlich abgeschnitten gehören. Der EuGH wird hier leider kaum die Schere anlegen.

Identitätskontrolle als konstruktiv-kritische Begleitung des EuGH

Trotz aller nicht zu leugnenden positiven Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH in den letzten Jahren zeigt sich immer noch im Recht des EU-Haftbefehls, wo wie nirgends sonst schwerwiegende Grundrechtseingriffe mit ureigensten bürokratischen Funktionsinteressen der Union zusammenfallen, was der – aus verfassungsrechtlicher Sicht als Integrationsvoraussetzung ausgestaltete (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) – wirksame Grundrechtsschutz wert ist, wenn es auf ihn wirklich ankommt. Der Zweite Senat des BVerfG hat sich mit einer Kette von Entscheidungen um den Schutz der Grundrechte in den Zahnrädern der EU-Haftbefehlssystems-Mechanik ungemein verdient gemacht (vor allem BVerfGE 140, 317, 336 ff.). Entsprechendes gilt inzwischen auch für den EGMR, der die Anwendung des EU-Haftbefehlsrechts mit Recht zunehmend kritischer überprüft. Ohne diesen Druck hätte sich der EuGH kaum bewegt; ein krypto-etatistisches, im Kern illiberales Grundrechtsverständnis unionaler Provenienz würde mit voller Wucht durchschlagen. Nationale Gerichte werden daher auch weiterhin ihrer Verantwortung als europäische Grundrechtsgerichte vor allem dann gerecht, wenn sie die Rechtsprechung des EuGH kritisch begleiten und Unverfügbares formulieren, das nicht den Mühlen einer europäischen Anerkennungs- und Vertrauensbürokratie geopfert werden darf. Der Umgang des BVerfG mit seiner grundrechtlichen Reserveverantwortung war stets konstruktiv und auch der EuGH hat sich als anpassungsfähiger Akteur erwiesen. Es beruhigt daher, dass das BVerfG den Vorbehalt einer auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) gestützten Identitätskontrolle nicht aufgegeben, sondern als latenten Interventionstitel aufrechterhalten hat.


One Comment

  1. Mattias Wendel Thu 7 Jan 2021 at 12:09 - Reply

    Ich teile die Sorge um das richtige Maß an Grundrechtsschutz im Auslieferungsverkehr, nicht aber die hier zugrunde gelegte Lesart der EuGH-Rechtsprechung. Der Beitrag berücksichtigt nicht hinreichend, dass es um die horizontale Zuordnung von Grundrechtsverantwortlichkeit innerhalb der EU und um eine prognostische Bewertung der Grundrechtslage im Zielstaat geht. Die einschlägigen Auslieferungsfälle betreffen ein grundrechtsföderatives Problem, überspitzt gesagt das „Wo“ des Grundrechtsschutzes im Anwendungsbereich des Unionsrechts.

    Dem überstellenden Staat (z.B. Deutschland) sollte nicht schon jede Möglichkeit einer späteren Grundrechtsverletzung im Zielstaat (z.B. Rumänien) zugerechnet werden, jedenfalls wenn man das Konzept grundrechtlicher Folgenverantwortlichkeit nicht völlig überdehnen und die Welt am deutschen Grundrechtswesen genesen lassen will. Der EuGH verfolgt hier den Ansatz, den überstellenden Mitgliedstaat nur dann präventiv in die Pflicht zu nehmen, wenn der Zielstaat vorhersehbar den Charakter als Rechtsstaat (partiell) verliert und sich dies auf die Situation der Betroffenen auszuwirken droht. Hier besteht ein enger Bezug zur Wahrung der Werte der EU aus Art. 2 EUV und des abwägungsfesten Wesensgehalts der Unionsgrundrechte (nicht der Fair-trial-Grundsatz als solcher, nur sein Wesensgehalt ist abwägungsfest). Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens wirkt nicht generell grundrechtsnivellierend gegenüber der öffentlichen Gewalt, sondern begrenzt im horizontalen Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander die präventive Vorverlagerung der Grundrechtsverantwortlichkeit auf den überstellenden Staat. Gegenüber dem problemverursachenden Staat können Einzelne ihre Unionsgrundrechte wirksam einfordern – und zwar im gesamten Spektrum der Charta und nicht nur bei abwägungsfesten Kerngarantien. Soweit der Beitrag nahelegt, dass in den besagten Fällen die zwangsweise Verbringung in einen „anderen“ Staat erfolgt, sollte präzisiert werden, dass die von einer Auslieferung auf Grundlage eines EuHB Betroffenen in aller Regel nicht Staatsangehörige des überstellenden Staates sind (was mit Blick auf den unionsgrundrechtlichen Schutz freilich ohnehin keinen Unterschied machen darf). Die Auslieferung eigener Staatsangehöriger in auswärtige Haft dürfen Mitgliedstaaten unionsrechtlich weitgehend ausschließen, was in der Praxis auch häufig geschieht (vgl. für Deutschland § 80 IRG).

    Soweit der Beitrag behauptet, der EuGH habe die Romeo Castaño-Entscheidung des EGMR im Wege „einer (unterstellt: bewussten) Fehlzitierung“ inhaltlich „deformiert“ wiedergegeben und so Freiheitsrechte „ridikülisiert“, liegt dem offenbar ein Fehlverständnis der EGMR-Rechtsprechung zugrunde. Die Romeo Castaño-Entscheidung betraf die eher seltene Konstellation einer EMRK-Verletzung qua Nichtauslieferung. Dem EGMR zufolge hatte Belgien die prozedurale Komponente von Art. 2 EMRK dadurch verletzt, dass es die Auslieferung eines mutmaßlich am Mord eines Spaniers beteiligten ETA-Terroristen nach Spanien unter Verweis auf Art. 3 EMRK verweigert und hierdurch die Strafverfolgung in Spanien vereitelt hatte. Beschwerdeführer waren die Hinterbliebenen des Getöteten. Wie vom EuGH korrekt wiedergegeben, monierte der EGMR das Fehlen einer auf adäquater Tatsachenbasis erfolgenden Gefahrenprognose der zielstaatlichen Lage in Bezug auf Art. 3 EMRK im Kontext einer konventionsrechtlich (wegen Art. 2 EMRK) problematischen Nichtauslieferung. Im Endergebnis heißt das freilich nichts anderes als dass die Gerichte mit Blick auf die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Zielstaat stets genau hinsehen müssen – ob dies nun für oder wider eine Auslieferung streitet.

    Genau hinsehen sollte man auch bei der Bewertung der Rechtsprechung des EuGH. Jedenfalls führte die Anwendung der EuGH-Maßstäbe durch das BVerfG in Europäischer Haftbefehl III zu einem effektiven Schutz vor Auslieferungen nach Rumänien. Grundrechtsschutz auf „Ramschniveau“ sieht anders aus.

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