Straßburg: Lebenslang kann durchaus lebenslang sein
Die britischen Konservativen überlegen bekanntlich zurzeit, sich von der Europäischen Menschenrechtskonvention loszusagen. Einer der Gründe dafür ist die angeblich übergriffige Rechtsprechung des EGMR und darin ganz besonders die zur lebenslangen Haftstrafe. In dem Papier, das die Tories vor einigen Wochen dazu verabschiedet haben, heißt es:
In 2013 the Strasbourg Court ruled that murderers cannot be sentenced to prison for life, as to do so was contrary to Art. 3 of the Convention.
Das hat noch nie gestimmt. Eine heute veröffentlichte Kammerentscheidung zur Rechtslage in Frankreich stellt das noch mal unmissverständlich klar. Ich bin sehr gespannt, ob und wie die britische Presse über diese Entscheidung berichten wird (Leser_innen in UK bitte ich um hilfreiche Hinweise!).
Tatsächlich hatte die Große Kammer des EGMR 2013 im Fall Vinter nur gefordert, dass es auch bei Lebenslang eine rechtliche und tatsächliche Möglichkeit geben muss, irgendwann einmal überprüfen zu lassen, ob es für die Fortdauer der Strafe noch genügend Gründe gibt. Solange es die gibt, verstößt es mitnichten gegen Art. 3, einen Mörder zu lebenslanger Haft zu verurteilen und ihn nötigenfalls auch bis zum Lebensende hinter Gittern zu halten. Ob Tory-Justizminister Chris Grayling, der das Papier verfasst hat, das nicht wusste oder es bloß aus Fearmongering-Gründen für praktisch hielt, es zu ignorieren, weiß ich nicht und ist mir auch egal; beides fände ich ungefähr gleich schlimm.
Die heutige Entscheidung Bodein nimmt die lebenslange Haft in Frankreich ins Visier. Pierre Bodein, Spitzname “Pierrot le fou”, ist ein Mörder, Vergewaltiger und Bankräuber, der die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens im Gefängnis verbracht hat und jedes Mal, wenn er in Freiheit kam, unfassbar scheußliche Verbrechen begangen hatte, zuletzt 2004 an zwei 10 und 14 Jahre alten Mädchen und einer 38-jährigen Frau.
1994 hatte Frankreich für Sexualmorde an Kindern unter 15 die “perpetuitée réelle” eingeführt, also eine lebenslange Haftstrafe, die frühestens nach 30 Jahren (die Untersuchungshaft eingeschlossen) enden kann. Pierre Bodein war 2007 der erste, der zu einer solchen Strafe verurteilt wurde. Erst 2034 kann er entlassen werden, sofern er dann keine Gefahr mehr darstellt. Dann wird er 87 Jahre alt sein.
Allein die deutsche Richterin Angelika Nußberger plagen gewisse Bedenken, ob die Aussicht, frühestens mit 87 wieder in Freiheit zu kommen, den Anforderungen von Art. 3 EMRK genügt. Aber die überwindet sie und schließt sich im Ergebnis dem einstimmigen Votum an: Das kann man so machen.
Die bloße theoretische Möglichkeit, vom Präsidenten begnadigt zu werden, das stellt die Kammer auch klar, reicht indessen im Fall Frankreichs nicht aus, um Bodein eine rechtliche und tatsächliche Perspektive zu bieten, wieder in Freiheit zu kommen (anders als z.B. in Bulgarien, wo solche Begnadigungen geübte und prozedural geregelte Praxis sind).