Wahlkampf ohne Diskurs?
Zu verfassungsrechtlichen Bedenken beim Einsatz von political Microtargeting
In Brüssel wird zur Stunde über den Digital Services Act (DSA) verhandelt. Diskutiert werden dürfte dabei auch über politisches Microtargeting (PMT), eine Technik, bei der Daten der Plattformnutzer:innen ausgewertet werden, um personalisierte Werbung entlang ihrer Vorlieben und Interessen zu schalten. Artikel 24 des Entwurfes zum DSA sieht vor, Nutzer:innen zukünftig durch Transparenzvorschriften auf die Verwendung dieser Methode aufmerksam zu machen. Aber was ist das Problem an PMT? Kritiker:innen befürchten durch die Nutzung der Technik demokratiefeindliche Effekte, wie den Ausschluss von Bürger:innen vom gesamtgesellschaftlichen Diskurs bis hin zu ihrer Radikalisierung. Moralisch ist die Wahlkampftechnik umstritten, doch was sagt das Recht? Dieser Beitrag zeigt, dass PMT auch verfassungsrechtlich bedenklich sein könnte.
Verschiedene Dimensionen des Phänomens
Verfassungsrechtliche Relevanz entfaltet PMT dort, wo sich durch seine Effekte potenzielle Rechtsgutsgefährdungen ergeben. Daneben kann seine Verwendung als Form von Kommunikation verfassungsrechtlich geschützt sein. Mögliche Gefährdungspotenziale lassen sich nicht pauschal darstellen. Das liegt daran, dass Effekte und Auswirkungen von PMT oft von dem Inhalt der ausgespielten Werbung abhängen. Hier lassen sich beliebig viele Fallkonstellationen mit unterschiedlichen betroffenen Rechtsgütern bilden. Enthält die Werbeanzeige beispielsweise Verunglimpfungen politischer Gegner:innen, ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG betroffen. Hätte der ehemalige amerikanische Präsident Trump seine Überlegungen zur Lichtdesinfektion als Maßnahme gegen das Sars-CoV-2-Virus weiterverfolgt und damit geworben, wäre das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einschlägig. Es zeigt sich: PMT hat eine inhaltliche Komponente, aus der sich eine Einzelfallabhängigkeit bei der Bewertung in Rede stehender Anzeigen ergibt. Auf dieser Ebene unterscheidet es sich allerdings nicht von herkömmlichen Posts oder Tweets, gegen die eine rechtliche Handhabe existiert. Das vermeintlich besondere Gefährdungspotenzial liegt in der technisch- distributiven Dimension. Das gezielte Ausspielen von Werbung, ohne sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen (sogenannte dark ads), führt zum Ausschluss von Personengruppen und steht insoweit im Gegensatz zu dem in der Verfassungsrechtsprechung üblichen Verständnis eines offenen demokratischen Diskurses. Es eröffnet Parteien die Möglichkeit, Werbeanzeigen an verschiedene Personengruppen auszuspielen, die inhaltlich diametral zueinander verlaufen. Dass von dieser Methode auch tatsächlich Gebrauch gemacht wird, konnte jüngst das ZDF Magazin Royale gemeinsam mit der Transparenzinitiative whotargetsme aufdecken. So schaltete die FDP Klimaschutzinteressierten eine Anzeige, aus der hervorging, dass sich die Partei für mehr Klimaschutz durch staatliche CO2-Limits einsetze; Vielreisenden versprach sie in einer Anzeige hingegen keine “staatlichen Maßnahmen, Freiheitseinschränkungen oder Verbote”.
Das Spannungsfeld parteilicher Kommunikation
Während staatlichen Stellen und Amtsträger:innen durch ihre Pflicht zur Neutralität und Sachlichkeit eine Verwendung von PMT meist untersagt sein dürfte, sind Parteien bei der Nutzung deutlich freier. Denn PMT fällt unter den Schutz parteilicher Kommunikation zur Mitwirkung an der Willensbildung des Volkes nach Art. 21 Abs. 1 S. 1, Art. 5 iVm. Art. 19 Abs. 3 GG. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld, in dem sich alle Formen parteilicher Kommunikation befinden und das in der Ausgestaltung der Demokratie in unserer Verfassung verankert ist. Kerngedanke der Demokratie ist die Souveränität des Volkes. Danach geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Das Volk legitimiert politische Herrschaft durch Wahlen. Sie entfalten ihre Legitimationswirkung jedoch nur, wenn diese frei sind (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG). Dazu gehören auch die Freiheit und Offenheit des der Wahl vorgelagerten Meinungsbildungsprozesses der Bürger:innen, der durch Art. 5 GG weitere Ausgestaltung erfährt. Die Freiheit der Meinungs- und Willensbildung umfasst dabei den Schutz vor unzulässigen Beeinflussungen. Im Kontext der Willensbildung kommt Parteien in der Verfassung eine besondere Rolle zu. Nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG wirken sie an der politischen Willensbildung des Volkes mit. Als Mittlerinnen zwischen Staat und Gesellschaft sollen sie politische Ziele formulieren, Partizipationsmöglichkeiten bieten und den politischen Diskurs fördern. Mit anderen Worten: Parteien beeinflussen Bürger:innen naturgemäß, es ist schlichtweg ihr Auftrag qua Verfassung. Die Verfassung schützt demnach gleichzeitig das Recht der Parteien zu beeinflussen (Art. 21 Abs. 1 S. 1, Art. 5 iVm. Art. 19 Abs. 3 GG), wie auch vor der unzulässigen Beeinflussung durch Parteien selbst (Art. 5, 38 GG). Zwischen dem Beeinflussungsauftrag der Parteien und dem Schutz des freien Meinungs- und Willensbildungsprozesses ergibt sich ein Spannungsfeld. Für jegliche Formen der parteilichen Kommunikation ist daher zu fragen, ob es sich noch um eine gewünschte, vom Mitwirkungsauftrag der Parteien umfasste Einflussnahme handelt oder ob eine unzulässige, freiheitsbeschränkende (Wahl-)Beeinflussung vorliegt.
Die Formel des BVerfG
Das Bundesverfassungsgericht zieht diese Grenze im Kontext rechtserheblicher Wahlfehler zumindest dort, wo „mit Mitteln des Zwangs oder Drucks die Wahlentscheidung beeinflusst (wird) oder wenn in ähnlich schwerwiegender Art und Weise auf die Wählerwillensbildung eingewirkt worden ist, ohne dass eine hinreichende Möglichkeit zur Abwehr – zum Beispiel mit Hilfe der Gerichte oder der Polizei – oder des Ausgleichs, etwa mit den Mitteln des Wahlwettbewerbs, bestanden hätte“. Die Schwelle zu einer erheblichen Beeinflussung scheint erst einmal hoch. Bestätigt wird dieser Eindruck durch das Verfassungsverständnis des Gesetzgebers in den Normen zum Wahlstrafrecht, die an dieser Stelle nur als Deutungshilfe dienen können, da das StGB für natürliche Personen und somit nicht für Parteien gilt. Setzten die Wähler:innennötigung nach § 108 StGB Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel, durch Missbrauch eines beruflichen oder wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses oder durch sonstigen wirtschaftlichen Druck und die Wahlbehinderung nach § 107 StGB Gewalt oder Drohung mit Gewalt voraus, würden sich hierzulande bekannte Fälle von PMT wohl schwerlich darunter subsumieren lassen. Auch eine Wähler:innentäuschung nach § 108a StGB dürfte kaum in Betracht kommen, da für den Tatbestand des § 108a StGB nicht ausreicht, Wähler:innen durch Wahlpropaganda dazu zu bringen, in einem bestimmten Sinne oder gar nicht zu wählen. Von vornherein auszuschließen ist es jedoch nicht, dass Werbeanzeigen diese Schwellen überschreiten können. Was bleibt, ist also der zweite Teil der Formel des Bundesverfassungsgerichts, der zumindest für den Passus der „ähnlich schwerwiegenden Art und Weise“ der Einwirkung wie ein interpretationsoffener Auffangtatbestand wirkt. Anschließend an die oben vorgenommene Kategorisierung ist zu fragen, ob die technisch- distributive Komponente von PMT als Verstärkungseffekt ausreichen kann, um eine dem Zwang oder Druck ähnliche Wirkung zu entfalten, sofern die Anzeige inhaltlich unterhalb dieser Schwelle bleibt. Dazu seien kursorisch mögliche Ansatzpunkte aufgezeigt.
In dem letzten Teil der Formel stellt das Bundesverfassungsgericht auf mögliche Parameter ab, die eine Wahlbeeinflussung ausgleichen können. Dazu zählen „etwa Mittel des Wahlwettbewerbs“. Das kann – wie Volkmann anmerkt – so gelesen werden, als sei „gegen Manipulationen jeder Art juristisch nichts einzuwenden, (…) wenn nur alle gleichmäßig und mit den entsprechenden ökonomischen und technischen Möglichkeiten manipulieren.“ Ich sehe darin einen Hinweis des Gerichts darauf, dass die Bewertung der Zulässigkeit von Beeinflussungen auch davon abhängt, ob die Inhalte dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich sind. Denn die ausgleichende Wirkung von Wahlwettbewerb liegt in der politischen Auseinandersetzung. Gegnerische Lager werden hart angegriffen, jeweilige Aussagen überprüft und Fehler aufgedeckt. Diese aufklärerische Funktion des Wahlwettbewerbs findet sich ebenso im öffentlichen Diskurs, entlang dessen sich gesellschaftliche und individuelle Willensbildung formen. Seine Existenz ist wichtiger Bestandteil der freien Willensbildung. Fällt er, wie bei der Verwendung von dark ads, als Ausgleich zu Beeinflussungen weg, fehlt die Möglichkeit einer (kritischen) Auseinandersetzung mit politischen Botschaften. Die Beeinflussung rückt näher an die Schwelle des unzulässigen.
In eine ähnliche Stoßrichtung geht § 32 Abs. 1 BWG. Danach sind während der Wahlzeit in und an dem Gebäude, in dem sich der Wahlraum befindet, sowie unmittelbar vor dem Zugang zu dem Gebäude jede Beeinflussung der Wähler durch Wort, Ton, Schrift oder Bild sowie jede Unterschriftensammlung verboten. Ausschlaggebend für die Unzulässigkeit von Beeinflussungen ist demnach die zeitliche und räumliche Nähe zum Wahlakt. Auch hier ließe sich das Argument des fehlenden Diskurses anbringen: Beeinflussungen sind unmittelbar vor dem Setzen des Kreuzes kaum noch der Diskussion ausgesetzt. Ein Ausgleich kann nicht stattfinden. Der Gesetzgeber hat das im analogen Bereich erkannt und entsprechend verboten.
Es bieten sich also durchaus Ansatzpunkte, die für die Unzulässigkeit der diskursvermeidenden Komponente von PMT sprechen. Ein weiterer ergibt sich aus dem Mitwirkungsauftrag der Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes. Auch wenn an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Pflichten von Parteien eingegangen werden kann, so ist ihr Auftrag wohl kaum darin zu sehen, Diskurs zu vermeiden, sondern ihn zu ermöglichen.
PMT liegt als von Parteien genutzte Kommunikationsform in einem verfassungsrechtlichen Spannungsfeld, in das es mit Hilfe bisheriger Rechtsprechung nicht klar einzuordnen ist. Es zeigen sich jedoch Anhaltspunkte, die PMT nicht nur moralisch, sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich erscheinen lassen. Mit Blick auf die verfassungsrechtliche Diskussion wird am Beispiel des PMT deutlich, dass der technische Fortschritt und die dadurch entstehenden neuen Kommunikationsformen auf Grenzverläufe zwischen gewollter und unzulässiger Beeinflussung im aufgezeigten Spannungsfeld Einfluss haben. Dieser Grenzziehung nehme ich mich in meinem Dissertationsprojekt an.