28 January 2022

Jenseits jeglicher Kontrolle

Warum es höchste Zeit ist, über das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten zu diskutieren

Das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten ist bislang allenfalls spärlich öffentlich diskutiert worden. Obwohl es den Grundsatz der Gewaltenteilung jedenfalls punktuell aufhebt und damit im Widerspruch zu den Grundpfeilern eines demokratischen Rechtsstaates steht, ist es als Kompetenz des Bundespräsidenten dennoch in der Verfassung verankert. Mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin gegen das Bundespräsidialamt möchte das Transparenz-Portal „FragDenStaat“ nun überprüfen, inwieweit der Bundespräsident jedenfalls Auskunft über Entscheidungen in Gnadeverfahren geben muss. Die Klage macht den Weg für eine lange überfällige Diskussion darüber frei, wie die Ausübung des Begnadigungsrechts demokratischen und rechtstaatlichen Mindeststandards unterworfen werden kann. Das Grundgesetz bietet für solche Standards genügend Anhaltspunkte.

Das unbekannte Recht

Dass so etwas wie ein Gnadenrecht des Bundespräsidenten in einer jungen demokratischen Verfassung wie dem deutschen Grundgesetz überhaupt verankert ist, mag viele überraschen. Das ist kein Wunder. Denn sowohl über die Anzahl der Gnadenersuche und -Entscheidungen als auch über deren Begründungen ist in der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt.

Auch als zuletzt große Aufregung darüber herrschte, dass Donald Trump in seinen letzten Amtstagen zahlreiche seiner Unterstützer und Wegbegleiter begnadigen ließ, schien man in Deutschland davon auszugehen, dass wir hier zu Lande vor einem solchen Missbrauch gewappnet wären (siehe damals aber bereits kritisch die Juristin Elisa Hoven)

Breitere öffentliche Diskussionen gab es bisher nur vereinzelt und dies auch nur dann, wenn sich der jeweilige Bundespräsident selbst dazu entschlossen hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Beispiele sind etwa Johannes Rau, der in den Jahren 2002 und 2003 die beiden verurteilten RAF- Mitglieder Adelheid Schulz und Rolf Clemens Wagner begnadigte, oder Horst Köhler, der sich 2007 nach Gesprächen mit Christian Klar, ebenfalls verurteiltes RAF-Mitglied, dazu entschied, in diesem Fall nicht „Gnade vor Recht“ walten zu lassen.

In der Praxis nimmt der Bundespräsident nicht nur die Rolle des „Gnadenherrn“ über die Zukunft von Strafgefangenen für sich in Anspruch, sondern stellt darüber hinaus auch jegliche Auskunft über die Entscheidungen oder Begründungen vollständig in sein Ermessen. Genau jene Praxis der Geheimhaltung durch den Bundespräsidenten ist nun Gegenstand der Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Anlass für die Klage ist die Ablehnung presserechtlicher Auskunftsanträge durch das Bundespräsidialamt, mit denen „FragDenStaat“ eine Übersicht sämtlicher Begnadigungen in den Jahren 2014 bis 2021 verlangt hatte. Das Bundespräsidialamt argumentiert im Wesentlichen, dass das Gnadenrecht des Bundespräsidenten über der Verfassung schwebe und damit auch Auskunftsansprüche ausgeschlossen seien.

Eine monarchische Prärogative in einer modernen Demokratie

Das Gnadenrecht hat seit seiner Entstehung als Prärogative des Monarchen Einzug in alle deutschen Verfassungen gefunden, einschließlich der des Kaiserreichs und der Weimarer Reichverfassung. Es wurde ohne Diskussion in das Grundgesetz übernommen (BVerfGE 25, 352, 358f).

Nach Art. 60 Absatz 2 GG übt der Bundespräsident das Begnadigungsrecht für den Bund aus und damit in Strafsachen dann, wenn ein Bundesgericht in erster Instanz zuständig wäre (vgl. § 452 StPO) oder wenn ein Gericht des Landes in Ausübung der Gerichtsbarkeit des Bundes ein Urteil gefällt hat (vgl. Art. 96 Abs. 5 GG). Praktisch hat der Bundespräsident daher nur bei wenigen schwerwiegenden Delikten das Begnadigungsrecht inne, etwa bei der Bildung terroristischer Vereinigungen oder im Bereich des Völkerstrafrechts, also gerade in Fällen, bei denen oft ein besonderes öffentliches Interesse besteht. Bei geringfügigeren Delikten sind nach der jeweiligen Landesverfassung meist die Ministerpräsident*innen zuständig.

Daneben umfasst das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten Disziplinarmaßnahmen gegenüber Bundesbeamt*innen, etwa Bundessoldat*innen oder Bundesrichter*innen, wobei sich der Bundespräsident in einer Anordnung von 1965 die Gnadenentscheidungen nur noch in besonderen Fällen vorbehalten und sie im Übrigen auf verschiedene Bundesminister*innen und den Bundestagspräsidenten übertragen hat. Da es bei diesen besonderen Fällen u.a. um schwere Kriminalität von hochrangigen Amtsträgern geht (z.B. sexueller Missbrauch von Kindern, Totschlag), möglicherweise auch um Spitzenbeamte, mit denen der Bundespräsident früher zusammengearbeitet hat, wird es nicht selten ein legitimes Interesse der Öffentlichkeit an den Gnadenentscheidungen des Bundespräsidenten geben.

Trotz dieses öffentlichen Interesses finden Gnadenentscheidungen aber jenseits jeglicher öffentlicher oder gerichtlicher Kontrolle statt. Ein Grund hierfür liegt in dem Verhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeitsprinzip und Begnadigungsrecht. Als „Eingriff der Exekutive in die rechtsprechende Gewalt […], wie er sonst dem Grundsatz der Gewaltenteilung fremd ist“ hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss von 1969 (mit vier zu vier Stimmen) das Begnadigungsrecht dem Zugriff von Art. 19 Absatz 4 GG und damit dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip entzogen Die Begnadigung ergehe in einem „internen Verfahren“, „das keine justizförmigen Garantien kennt“, so das Bundesverfassungsgericht in einer weiteren Entscheidung, in der es deswegen auch feststellte, dass dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip und der Würde des Menschen nur genüge getan werde, wenn die Möglichkeit einer vorzeitigen Beendigung der Freiheitsstrafe in einem gesetzlichen Verfahren neben der Begnadigung geregelt werde.

Abschaffen oder rechtsstaatlich ausgestalten?

Die Idee eines solchen geheim ausgeübten Gnadenrechts, das einerseits über allen verfassungsrechtlichen Prinzipien schwebt, aber andererseits erhebliche Auswirkungen auf die einzelne Person hat (namentlich ob sie in Freiheit leben darf oder nicht) scheint mehr als aus der Zeit gefallen. Daher kann es nicht erstaunen, dass es durch das Bundesverfassungsgericht in der grundlegenden Entscheidung von 1969 jedenfalls einen gewissen demokratischen Anstrich erfahren hat. Nachdem das Gnadenrecht früher schlicht als Ausdruck der absolutistischen Herrschaftsgewalt galt, hat es heute nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Funktion, Härten des Gesetzes, etwaige Irrtümer der Urteilsfindung sowie Unbilligkeiten bei nachträglich veränderten allgemeinen oder persönlichen Verhältnissen auszugleichen.

Raum für Einzelfallgerechtigkeit muss es in einem Rechtsstaat geben. Das gilt insbesondere auch für gesetzlich nicht vorhergesehene Umstände und sich ändernde Gerechtigkeitsverständnisse. Jedoch stehen für diese Fälle sowie für Justizirrtümer strafprozessuale Instrumente bereit, etwa die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 359 ff. StPO oder die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57a StGB. Über ein darüberhinausgehendes Bedürfnis nach einem nachträglichen Verzicht auf Strafe sollten in einem demokratischen Rechtsstaat Expert*innen in einem transparenten Verfahren und nach rechtlichen Kriterien entscheiden (so der Vorschlag der Juristin Elisa Hoven).

Wenn man grundsätzlich am Gnadenrecht des Bundespräsidenten festhalten möchte – und noch steht es in unserer Verfassung –, so ist jedenfalls seine Ausübung demokratischen und rechtstaatlichen Mindeststandards zu unterwerfen. Das Grundgesetz bietet dafür auch ausreichend Anknüpfungspunkte.

Ein erster Schritt in die richtige Richtung bestünde darin, auch die Macht des „Gnadenherrn“ im Lichte von Art. 20 Abs. 2 GG (alle Staatsgewalt geht vom Volke aus), dem Willkürverbot und der Würde des Menschen zu begrenzen. Insbesondere ist nicht ersichtlich, wie sich allein aus der Stellung des Gnadenrechts in Art. 60 Absatz 2 GG ergeben soll, dass sich dieses nicht in die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien einzuordnen habe.

Auch die vier dissentierenden Richter argumentierten 1969, dass das Gnadenrecht nicht außerhalb des Rechts stehe und es damit ein Recht auf nichtdiskriminierende, gerechte und sachbezogene Gnadenentscheidung gebe.

Vereinzelt wird auch in der Rechtsprechung die gerichtliche Unantastbarkeit von Gnadenentscheidungen in Frage gestellt und in besonderen Fällen – auch durch das Bundesverfassungsgericht (bei Widerruf einer positiven Gnadenentscheidung) – eine gerichtliche Überprüfung von Gnadenentscheidungen vorgenommen.

Einhegung des Gnadenrechts durch Transparenz

Bisher fand die ohnehin nur spärlich geführte Diskussion um die Legitimität und Ausübung des Begnadigungsrechts nur in Fachkreisen jenseits der Öffentlichkeit statt.

Als erster Schritt zur Herstellung eines Mindestmaßes an demokratischer Legitimation ist die bisherige Praxis des Bundespräsidenten bei Gnadengesuchen offenzulegen. So ließe sich die Einhaltung der oben genannten rechtstaatlichen Mindeststandards zumindest demokratischer und politischer Kontrolle unterwerfen, um Möglichkeiten des Missbrauchs reduzieren. Das Informationszugangsrecht, insbesondere der Akteneinsichtsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz und der presserechtliche Auskunftsanspruch, bieten hierfür Instrumente.

Dafür, dass die Gnadenverfahren gänzlich der Öffentlichkeit entzogen sein sollten, wie es das Bundespräsidialamt in seiner Ablehnung gegenüber „FragDenStaat“ konstatiert, spricht nicht einmal die Sonderstellung des Gnadenrechts. Denn dort, wo die Verfassung Raum für Gestaltungsmöglichkeiten lässt, müssen diese im Einklang mit fundamentalen Verfassungsprinzipien umgesetzt werden. Der grundsätzliche Widerspruch zu den Pfeilern unseres Rechtstaates, den das Gnadenrecht offensichtlich darstellt, darf durch die Geheimhaltung der Gnadenpraxis nicht noch verstärkt werden.

Nicht nur die Nähe des Gnadenrechts zum strafgerichtlichen Verfahren, sondern auch die Funktion von Strafe und Gerechtigkeit streitet dabei für die Öffentlichkeit der Entscheidungspraxis. Denn gerade die Legitimität von Strafe und Justiz beruht in einer Demokratie auf der Sichtbarkeit von Entscheidungsprozessen durch gerichtliche Öffentlichkeit und mediale Berichterstattung (vgl. Tobias Pielow, Öffentliches Strafverfahren – Öffentliche Strafen, Mohr Siebeck, S. 25ff).

Ein rechtsdogmatisch kohärenter Ansatz, um das Gnadenrecht (jedenfalls partiell) an die öffentliche Willensbildung rückzubinden bestünde darin, verfassungsunmittelbaren Auskunftsansprüchen der Presse auch gegenüber dem Bundespräsidenten Geltung zu verschaffen. Auch soweit man diese Auskunftsansprüche der Presse nur auf Verwaltungstätigkeiten begrenzen möchte, sind Informationen über die Ausübung des Gnadenrechts davon umfasst. Sowohl der überwiegende Teil der Literatur als auch die abweichende Richtermeinung von 1969 gehen davon aus, dass die Ausübung des Gnadenrechts ein Exekutivakt ist. Für die Einordnung als Verwaltungstätigkeit lässt sich auch der Wortlaut des Art. 60 GG anführen, denn gem. Art. 60 Abs. 3 GG kann der Bundespräsidenten Begnadigungen „auf andere Behörden“ übertragen. Tätigkeiten eines Verfassungsorgans kann jedoch nur ein Verfassungsorgan selbst vornehmen.

Schutzwürdigen Interessen der Gnadenpetent*innen kann im Einzelfall durch Auskunftsverweigerung oder Anonymisierung Rechnung getragen werden. Dabei kann auf die Grundsätze zurückgegriffen werden, die bereits für herkömmliche Strafverfahren entwickelt wurden, um den bekannten Interessenkonflikt zwischen berechtigtem öffentlichen Interesse und Recht auf Resozialisierung differenziert zu begegnen.

Zurück in die Zukunft: Wer von Demokratie spricht, muss transparent handeln

Das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten nimmt ohne Frage eine verfassungsrechtliche Sonderstellung ein; es hebt die Gewaltenteilung punktuell auf. Es schwebt aber nicht gänzlich über allen Verfassungsprinzipien. Der*die Inhaber*in des Gnadenrechts ist wie alle Staatsgewalt an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden und hat wie alle Staatsgewalt in einer modernen Demokratie kein Recht auf Heimlichkeit. Das Bundespräsidialamt folgt jedoch eher einer überwunden geglaubten Arkantradition als dem verfassungsrechtlichen Bild eines legitimationsbedürftigen und dem Gemeinwohl verpflichteten Staatsoberhaupts. Nicht nur das Gnadenrecht, sondern auch die diesbezügliche Informationspolitik des Bundespräsidialamtes ist ein Relikt aus vordemokratischen Zeiten. Es ist höchste Zeit, dass sich das ändert.


4 Comments

  1. Martin Borowsky Fri 28 Jan 2022 at 19:51 - Reply

    Vive la liberté!
    Danke für den aufschlussreichen Beitrag. Offenbar gehört noch manches … auf den Prüfstand. Transparenz tut not.
    Übrigens habe ich gute Erfahrungen mit Anfragen via FragDenStaat gemacht, soeben das Antwortschreiben der Bundesregierung an die Kommission vom 3. August 2021 – zum Vorrang des Unionsrechtes – erhalten.

  2. Weichtier Sat 29 Jan 2022 at 11:16 - Reply

    Wenn die Ausübung des Gnadenrechts demokratischen und rechtstaatlichen Mindeststandards unterworfen werden würde, steht ein so grundiertes „Gnadenrecht“ zumindest in einem Spannungsverhältnis zur Rede der Portia in der ersten Szene des vierten Aktes des Kaufmannes von Venedig“: „Der Gnade Wesen ruht auf keinem Zwang. Sie fällt vom Himmel wie der sanfte Regen.“

    • Maximilian Steinbeis Sat 29 Jan 2022 at 11:49 - Reply

      womit wir mitten in der christlichen Gnadentheologie wären

      • Weichtier Mon 31 Jan 2022 at 18:46 - Reply

        Ja! Ich wollte noch einen Schlenker zur Rechtfertigungslehre von Luther machen. Habe es mir dann aber verkniffen. Jetzt möchte ich aber noch Folgendes anfügen: Gerechtigkeit gibt es in der Hölle. Gnade ist im Himmel. Und auf Erden ist das Kreuz.

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